Der Sohn des Deutschländers

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Schon auf der Flussfahrt waren Arthurs Vater viel von seiner Unternehmungslust und seinem Pioniergeist abhandengekommen. Aber dass ihn jetzt niemand abholte, das war zu viel. Schlichtweg zu viel!

Allmählich stieg die dunkle Ahnung in ihm hoch, dass er auf irgendwelche Märchen hereingefallen sein könnte. Phantasiegeschichten. Ein zynisches Grinsen zog über sein Gesicht, als er an die Gespräche in der Kneipe dachte. An die begeisterten Vorträge über Paraguays farbenprächtige Fauna, die vielfältigen und unkomplizierten Geschäftsmöglichkeiten, die Versprechungen. Ihm dämmerte langsam: nur weil er zufällig etwas von Tierhäuten verstand, hatte hier, südlich des Äquators, niemand sehnsüchtig auf seine Ankunft gewartet.

Er verlangsamte sein nervöses Hin- und Herlaufen. Beschämt zwang er sich zur Ruhe und begann darüber nachzudenken, wie er sich selbst aus der geradezu peinlichen Lage befreien könnte. Unsicher wandte er sich erneut an die beiden Männer am Schalter. Er versuchte – höflich – die wenigen Spanischbrocken anzuwenden, die er inzwischen gelernt hatte, und den Beamten seine Bedrängnis klar zu machen. Immer wieder machte er dabei Pausen, um in seinem Wörterbuch nachzusehen. Sein Gestammel dürfte sich etwa so angehört haben: „Ich…kommen von Deutschland,… erwarten Señor Julius Deisenhofer, … mich und Sohn abholen. Er nicht kommen…“ und so weiter. Der Wandel seines Verhaltens erzeugte einen überraschenden Effekt: Während der aufgeregt vor sich hin schimpfende Fremde bei den Umherstehenden lediglich ein Gefühl von Ablehnung oder sogar Verachtung hervorgerufen hatte, bewiesen jetzt alle plötzlich freundliches Interesse an seinen Gesprächsversuchen. Nach wenigen Minuten fand sich Arthurs Vater von einer Traube von Männern umgeben. Selbst die Leute von der Putzkolonne stellten ihre Besen oder Putzzeug in die Ecke und näherten sich dem Schalter. Ebenso die Händler von der Straβe und die Zeitungsjungen. Höchst interessiert bis neugierig und voller Hilfsbereitschaft beteiligten sich alle am nun einsetzenden Gespräch, wie in einer Art Ratespiel. Es ging darum, für jede Handbewegung, jede Geste und jede begleitende spanisch-deutsche Worterklärung den passenden Sinn zu treffen. So gelang es Arthurs Vater, den Leuten deutlich zu machen, dass er einen gewissen Señor Deisenhofer treffen wollte. Dieser Deisenhofer würde zwar eine Stadtwohnung in Asunción besitzen, sein fester Wohnsitz liege jedoch irgendwo im Landesinneren.

Bei dieser Gelegenheit, an seinem allerersten Tag in Asunción, stellte Arthurs Vater fest, dass es in Paraguay immer irgendjemanden gibt, der jemanden kennt, der wiederum die Person kennt, von der die Rede ist. Wie ein Bienenschwarm summte es um ihn herum, nachdem er seine Erklärungsversuche beendet hatte. Scheinbar redeten jetzt alle gleichzeitig. Jeder, der etwas beizutragen hatte, redete lauter als sein Vorredner. Bis sich alle plötzlich einig waren, wer dieser gewisse Deisenhofer denn nun sei und wo er wohne. Jeder Zweifel am gefundenen Ergebnis schien ausgeschlossen. Triumphierende Zufriedenheit in allen Gesichtern.

Ein Hafenangestellter, der sich offensichtlich in seiner speckig glänzenden Uniform sehr wichtig fühlte, schickte einen Zeitungsjungen los, um einen Wagen zu rufen. Kaum eine Viertelstunde später fuhr ein klappernder Pferdewagen aus Holz vor den Eingang des Hafengebäudes. Der Alte, der den Wagen lenkte, brachte den mageren Gaul zum Stehen, zeigte aber mit keiner Miene, dass er eifrig darauf aus gewesen wäre, irgendeinen Auftrag zu erfüllen. Zusammengesunken saβ er auf einem quer über den Wagen gelegtes Brett, und wartete einfach. Der Hafenangestellte schien dem alten Kutscher genau einzuschärfen, wo das Stadthaus von Julius Deisenhofer zu finden sei.

Nachdem alle Gepäckstücke auf den Wagen gehoben worden waren, kassierte der Mann vom Hafenpersonal einen willkürlich angesetzten Betrag von Arthurs Vater, lieβ einige Scheine in die Tasche seiner Uniform wandern und knautschte den Rest in die Hand des ausdruckslos vor sich hin starrenden Kutschers. Dieser warf einen kritischen Blick auf die Scheine in seiner Hand, schien dann aber augenblicklich aus seiner Lethargie zu erwachen. Schwungvoll lieβ er die ledernen Zügel auf den Rücken des Pferdes klatschen und lenkte das knochige Tier mit riesigen Scheuklappen zielsicher durch die holprigen, kopfsteingepflasterten Straβen. Schlieβlich machten sie, nur wenige Straβen vom Hafengebäude entfernt, unter einem Mangobaum vor einer weiβ getünchten Mauer Halt.

La casa del Señor Deisenhofer“, soll der alte Kutscher gesagt haben, wobei er den Namen etwa wie Däisenchoffe aussprach. Dann sprang der Alte mit überraschend federnder Leichtigkeit ab und stellte die Koffer und Kisten mit Arthurs Vater zusammen an den Straβenrand. Der Kleine Arthur stand schlaftrunken, mit glühend roten Wangen dabei und beobachtete die beiden Männer.

Der Wagen fuhr bereits wieder ab, als Arthurs Vater mit der flachen Hand an das Holztor klopfte, dabei mit lauten Hallo-Rufen versuchte, sich bemerkbar zu machen.

Somit endet der geradezu extrem zeitgeraffte Bericht über Arthurs Reise und Ankunft in Paraguay.

Ich habe versucht herauszufinden, was Arthur heute über die Entscheidung seines Vaters denkt, hier in Südamerika auf’s Geratewohl ein neues Leben zu beginnen. Arthurs Zukunft war davon schlieβlich auch betroffen gewesen.

„Wäre es für dich nicht besser gewesen, wenn du in Deutschland bei deinen Tanten aufgewachsen, eine Ausbildung gemacht, vielleicht irgendwann den Betrieb deines Groβvaters übernommen hättest?“

Arthur hat mich angesehen und sich viel Zeit mit seiner Antwort gelassen: „Komisch. Sonst bist doch du immer derjenige, der mir sagt, ich würde mir zu viele Gedanken machen. Ich nehme es einfach, wie es ist – ich bin hier, basta.“

„Jetzt tu’ nicht so, als hättest du dir diese Frage noch nie gestellt! Ich weiβ doch, dass du oft den Tag verflucht hast, an dem du hierher in den Chaco gekommen bist!“

„Das ist ja auch etwas anderes! Auf jeden Fall habe ich nie, absolut nie! über den Tag geschimpft, an dem mein Vater und ich in das Deisenhofer’sche Hinterhaus gekommen sind. Dass wir schon wenige Jahre später von dort aus wieder fortgegangen sind, um hier im Chaco von vorne anzufangen, hat meine ganze Kindheit kaputt gemacht. Hierher in diese Gegend zu kommen war der schlimmste Fehler meines Vaters. Falsch für mich – für ihn selbst offensichtlich nicht.“

„Du sagst also, dass du nicht die Auswanderung nach Paraguay falsch findest, sondern…“

„Genau! Hier in diese mennonitische Kolonie zu kommen, war verkehrt. Verkehrt für mich!“

„Warum?“

„Was soll diese Frage! Du weiβt ganz genau, was mir erspart geblieben wäre, wenn ich diese Gesellschaft nie kennen gelernt hätte! Wenn ich nie als Außenseiter in eine Gemeinschaft eingedrungen wäre, die arrogant genug ist, sich selbst die Note ‘sehr gut’ auszustellen!“

„Natürlich weiβ ich das. Es geht ja auch darum, deine Begründung für deine Ansichten zu finden, um sie aufzuschreiben.“

„Du hattest mich aber gefragt, ob es nicht besser gewesen wäre, in Deutschland aufgewachsen zu sein. Das ist etwas anderes, mein Lieber! Wenn gewesen wäre, hätte, könnte! Das ist der Konjunktiv – nicht existent!“

„Du solltest bedenken, dass der Konjunktiv die Ausgangsbasis für viele philosophische Betrachtungen ist. Das, was du so hochtrabend als ‘Selbstfindung’ bezeichnest, ist schlieβlich nichts anderes als die Analyse deines Egos, ergo auch die Analyse deines Charakters, und Charakteranalyse kommt an Philosophie nicht vorbei. Du hast dich ja auch jahrelang mit Philosophen, Weltkritikern und dergleichen befasst.“

„Jawohl, habe ich. Das hat aber nichts damit zu tun, was ich vielleicht andernorts getan hätte!“

„Da muss ich dir Recht geben, Arthur.“, habe ich eingeräumt. „Trotzdem möchte ich gern wissen, ob dir nicht so mancher Gewissenskonflikt erspart geblieben wäre, wenn du nicht …“

„Was? Hier in der Mennonitenkolonie zum Mennoniten geworden wäre? Ja, natürlich wäre alles anders gewesen! Aber wenn du damit anfängst, könnte ich dir auch sagen, dass die ganze Menschheitsgeschichte anders verlaufen wäre, wenn… wenn Eva den Apfel nicht gegessen hätte!“

Dieser Vergleich hat mich zum Lachen gebracht. Und ich habe beschlossen, vorerst einfach weiterzuschreiben über das, was gewesen ist.

Kapitel II.

Kapitel 2

Hier war man nun also vor dem Haus, das der Kutscher als „Casa del Señor Deisenhofer“ bezeichnet hatte. Arthurs Vater klopte zuerst mit flacher Hand, dann mit der Faust an das Holztor und rief zuerst auf Deutsch „Hallo!“, dann auf Spanisch „Hola!“, bis endlich Schritte zu hören waren. Das groβe Tor wurde von einer freundlich lächelnden Frau geöffnet. Sie war schätzungsweise Mitte dreiβig, mittelgroβ, recht schlank, aber dennoch wohlgerundet und auffallend schön. Sie trug eine bestickte, kurzärmelige Bluse und einen weiten, knallbunten Rock, der ihr fast bis an die Knöchel reichte. Ihr volles, tiefschwarzes Haar hing in einem losen Zopf über der Schulter. Ein kleines, ausgesprochen mageres Mädchen schlüpfte ebenfalls sofort mit durch den Torspalt hinaus und beäugte den Fremden und sein Kind mit unverhohlener Neugier. Die Señora begrüβte Arthurs Vater mit fragendem Blick und verstand ihn sofort, als dieser umständlich versuchte zu erklären, dass er der Deutsche sei, den Herr Deisenhofer am Hafen hätte treffen sollen.

Daraufhin stellte sich die Frau als Luisa vor und lieβ einen nicht enden wollenden Redeschwall los. Ausholende Gesten begleiteten ihren Vortrag. Plötzlich unterbrach sie sich, Zweifel stand ihr im Gesicht. Sie musste gemerkt haben, dass der dümmlich dreinblickende Gringo kein Wort verstanden hatte. Sie lachte. Dann holte sie Luft und setzte neu zu erklären an. Langsam und mit eindeutigen Handzeichen machte sie Arthurs Vater deutlich, dass Herr Deisenhofer nicht wie geplant aus Independencia in seine Stadtwohnung hatte kommen können. Der Grund dafür schien keine Rolle zu spielen.

 

Mit der typischen Selbstverständlichkeit einer paraguayischen Frau nahm sie Arthur auf den Arm, strich dem Kleinen liebevoll über die rotglühenden Wangen und forderte seinen Vater auf, ihr am Haupthaus vorbei in den Hinterhof zu folgen. Das beinahe knochige Mädchen, offensichtlich ihre Tochter, lief ohne ein Wort zu sagen neben ihnen her.

Das schlichte Vorgärtchen gleich hinter der Mauer ließ keinerlei Vorstellungen von der bunten Üppigkeit des weiter hinten gelegenen Patios aufkommen. Und die Fassade der weißgetünchten, nicht allzu großen Villa wirkte trotz ihrer vielen Schnörkel irgendwie ernst … gediegen.

Ganz anders zeigten sich Einfahrt und Hinterhof. Wo einst eine relativ breite Auffahrt vom großen Holztor zum Hinterhaus geführt hatte, ließen heute riesige, buntblättrige Büsche gerade mal genügend Freiraum, um zu zweit nebeneinander her zu gehen. Die Farben der Krotons reichten von schwarz-roten, über gelblich orangefarbenen, hin zu gelbgemaserten, tiefgrünen Blättern in verschiedenen Größen und Formen. Diese bunte Blätterpracht war durchwachsen von hohen Drachenbäumen, Yuccas und anderen Grünpflanzen.

Ebenso auffallend wie die Farben und das üppige Grün war der feine, süßliche Duft, welcher schwer über der Auffahrt hing. Bei jedem Schritt, mit dem man an der Villa vorbeiging und sich dem Patio näherte, wurde der Duft betörender. Sein Ursprung, die kaum mehr als Daumennagelgroßen, strahlend weißen Blüten, führten bei der überwältigenden Farbenpracht des Gartens eher ein Schattendasein. Sie verdeckten wirkungsvoll die verwitterte Außenmauer, die das Grundstück zum rechts gelegenen Nachbarn hin abgrenzte.

An derselben Mauer befand sich ein kleines Holzhäuschen. Der herzförmig ausgesägte Abzug in der Tür wies eindeutig auf den Zweck dieses wie weggestellt wirkenden Häuschens hin.

Palmen, deren buschige Wipfel dazu zwangen, den Kopf weit nach hinten zu legen, um ihre hoch über dem Boden schwebenden, meterlangen Blätter sehen zu können, umgaben den Innenhof wie eine Mauer aus lebenden Säulen.

In der Mitte des Patios befand sich, umrahmt von rot und gelb blühenden Hibiskus-Sträuchern, eine nicht allzu große Rasenfläche, die jedoch nicht aussah, als würde sie regelmäßig abgemäht oder mit Sorgfalt gepflegt. Das herumliegende Holzspielzeug, einige herumstehende Hocker und Stühle aus Korbgeflecht schienen genauso in den Patio zu gehören wie der hüfthoch ummauerte Brunnen, der eindrucksvoll in der Mitte posierte, als wüsste er über seine Unverzichtbarkeit genauestens Bescheid. Er war Quell frischen Wassers und somit das Zentrum, basta. Auch die hölzerne Seilwinde, die wie eine überdimensionierte Garnspule darüber hing, wirkte wie ein Bollwerk von Unzerstörbarkeit.

Das Herumhüpfen der zahllosen Spatzen, die sich scheinbar pausenlos im Patio aufhielten, versetzte das Gesamtbild des Hinterhofes auch dann in Bewegung, wenn sich gerade kein Mensch dort aufhielt. Ihr lautes, heiteres Zwitschern wurde nur hin und wieder von Hundegebell aus der Nähe oder weiter Entfernung unterbrochen.

Hier im rundum eingemauerten Garten voller Leben und dennoch friedvoller Atmosphäre setzte Luisa den kleinen Arthur ab. Direkt vor ihm befand sich, den Innenhof nach hinten hin abschließend, das Hinterhaus, welches in den kommenden Jahren sein Zuhause sein sollte.

Ihn interessierte das alles nicht. Er hatte weder Augen für die prachtvollen, bunten Büsche und Blumen, die den gnadenlos zubeißenden Zahn der Zeit an Außenmauern und Gebäuden mit großzügiger Schönheit verdeckten, auch nicht für die auffallend vielen herumflatternden Vögel oder das Spielzeug, das einladend im Rasen lag. Er sah das Mädchen, das scheu in der Nähe seiner Mutter blieb, aber neugierig zu ihm herüber schaute und einmal mit dem Kopf nickte, nachdem Luisa irgendetwas zu ihr gesagt hatte.

Die beiden Erwachsenen machten sich daran, die Koffer vor das Hinterhaus zu schleppen. Die Kisten stellten sie an den Rand der Auffahrt. Unendlich erleichtert darüber, dass er hier offensichtlich erwartet worden war, versuchte Arthurs Vater der hilfsbereiten Luisa, die allem Anschein nach als Haushälterin in Deisenhofers Stadthaus lebte, seine Dankbarkeit klar zu machen und irgendetwas Nettes zu sagen. Sie lachte nur über sein unbeholfenes Gestammel und zeigte ihm, wo er die Koffer abstellen sollte.

Arthur und das Mädchen standen sich währenddessen einfach nur gegenüber und sahen sich an. Sie lächelten nicht, der Ausdruck auf ihren Gesichtern war auch nicht besonders ernst, oder gar feindselig, sondern drückte einfach Interesse aus.

Arthur behauptet heute, er könne sich an die Ankunft im Patio genau erinnern. Selbst der Duft der blühenden Gartensträucher steige ihm noch heute in die Nase, wenn er an die erste Begegnung mit Maria Celeste denkt. Sein Blick wird beinahe nostalgisch, wenn er sagt, in jenem Hinterhof habe seine Kindheit erst angefangen, und sei auch dort zu Ende gegangen.

Vielleicht hat ja der kleine Arthur dort im Patio tatsächlich schon damals genau begriffen, dass er einem Menschen gegenüberstand, der eine groβe Bedeutung in seinem Leben spielen würde.

Ich habe mich oft gewundert: An seinen kurzen Lebensabschnitt im Deisenhofer’schen Hinterhaus in Asunción kann sich Arthur rätselhafterweise erstaunlich gut erinnern. Ich schreibe „rätselhafterweise“ und „erstaunlich“, da es doch eher ungewöhnlich ist, dass man sich an die Zeit zwischen dem vierten und siebten Lebensjahr mit geradezu fotografischer Genauigkeit erinnert. Ich muss allerdings einräumen, dass ich ja außer Arthur kaum jemanden kenne, mit dem ich Unterhaltungen über Kindheitserinnerungen geführt hätte. Vielleicht ist die bildhafte Erinnerung an gewisse Kindheitserlebnisse oder gewisse Zeitabschnitte in der Kindheit ganz normal. Aber ich bezweifle – und das ganz entschieden! – dass ein vierjähriges Kind begreift, oder sogar voraussieht, welche Menschen in seiner Zukunft eine besondere Rolle spielen werden.

„Ich wusste, dass dieses Mädchen meine erste Frau sein sollte“, behauptet Arthur unbeeindruckt von meinen Zweifeln.

„Quatsch! Du hast dich in dem Moment wahrscheinlich einfach gefreut, ein Kind vor dir zu haben, das nur wenig gröβer war als du.“

Arthur widerspricht: „Fakt ist doch, dass Kinder ganz oft viel besser als die Erwachsenen spüren, welche Begebenheiten eine besondere Tragweite haben. Kleinkinder haben oft viel feinere Antennen für die Zukunft. Und das ist eigentlich auch überhaupt nicht verwunderlich: Für die ganz kleinen Wesen ist es noch nicht so lange her, seit sie aus dem zeitlosen Raum herausgetreten sind. Verstehst du, möglicherweise ist ja der Ort, wo Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft noch Eins sind, für Kleinkinder noch eine dunkle Erinnerung. Auβerdem ist in dem Alter vieles noch ‘selbst-verständlich’ im wahrsten Sinne des Wortes! Gerade weil man eben nicht versucht, Ahnungen, Stimmungen, diffuse Gefühle, beziehungsweise wortloses Wissen in Worte zu fassen. Die Sprache reicht doch für alle unsere Gefühle überhaupt nicht aus. Im Gegenteil: sie verkompliziert doch alles, was man meint, erklären oder begründen zu müssen. So wie ein Baby von Natur aus schwimmen kann und das sehr bald wieder verlernt, so hat doch ein Kind ein natürliches Verständnis für das Geschehen, für die Schwingungen im Ganzen, ohne in Zeit und Raum verhaftet zu sein. Als Erwachsene brauchen wir eine logische Folge der Abläufe um dann daraus Schlüsse zu ziehen. Ein Kind trägt das Wissen über den einzig möglichen Schluss noch in sich.“

„Na klar,“ kontere ich, „im Nachhinein lässt es sich leicht sagen, dass du es schon damals gewusst hast. Schwingungen! Wenn ich das schon höre!“

Für einen kurzen Augenblick trifft mich sein wütender Blick. Dann lächelt er und sagt: „Schreib einfach weiter!“

Nachdem Luisa das Tor wieder versperrt hatte, stellte sie eine riesige Wanne aus Zink auf die Rasenfläche, zog den kleinen Arthur aus und setzte ihn behutsam in das angenehm kühle Wasser. Er muss erfreut, vielleicht auch unerwartet laut gelacht oder gequietscht haben, denn das dabeistehende Mädchen, Maria Celeste, die bisher keinen Laut von sich gegeben hatte, fing ebenfalls an zu lachen. Ohne ihre Mutter zu fragen, zog sie sich Hemd und Höschen aus und stieg zu Arthur in die Wanne. Sie strahlte vor Freude.

Man überlieβ die Kinder sich selbst, Luisa zeigte Arthurs Vater das Hinterhaus. Es gab eigentlich nur zwei Zimmer: Küche und Schlafzimmer. Beide Räume hätten Platz genug geboten, um dort Tanzabende zu veranstalten, beide waren jedoch durch Schränke, Vorhänge oder Bretterwände in kleinere Kammern unterteilt. Wie in den Übergangslagern nach dem Krieg, schoss es Arthurs Vater durch den Kopf.

In der großen Küche öffnete Luisa die Tür einer kleinen Kabine aus zusammengenagelten Holzbrettern. Große und kleine, hellere und dunklere Wasserflecken durchzogen die natürliche Maserung des hölzernen Verschlags. Luisa lächelte Augenzwinkernd. Sie zeigte auf einen Behälter, der an der Decke hing. Arthurs Vater hatte etwas Ähnliches noch nie gesehen. Am Boden dieses Behälters war ein rundes Sieb befestigt, das an den Schnabel einer Gießkanne erinnerte. Daneben war ein kleiner Absperrhahn, den Luisa jetzt mit einer blitzschnellen Bewegung aufdrehte, dann sprang sie mit einem Satz zur Seite. Sie lachte schallend über seine verblüffte Miene. Er hatte nicht wissen können, dass der Behälter mit Wasser gefüllt war, feine Tropfen trafen ihn im Gesicht. Das Ding war also eine Art Duschbehälter für Haushalte ohne fließendes Wasser. Luisa zeigte auf ein Handtuch an der Wand und auf ein Stück Seife, das in einer Untertasse am Boden lag. Er hatte verstanden.

Nach der erfrischenden Dusche zeigte sie ihm den großen, an die Küche grenzenden Schlafraum. Ein mehrtüriger Kleiderschrank teilte das Zimmer in zwei Bereiche. Hinter dem Schrank standen zwei Betten. Dort, so erklärte Luisa lachend, sollten Vater und Sohn, und höchstwahrscheinlich auch ihre kleine Tochter in der nächsten Zeit schlafen.

Arthurs Vater nickte dankbar, fühlte sich allerdings nicht ganz wohl dabei. Denn da standen, auf der Vorderseite des Kleiderschrankes, ein Kinderbettchen und ein geradezu riesiges Ehebett. Hier schien eine ganze Familie zu wohnen! Und er sollte nun einfach so als neuer Mitbewohner in diesen Haushalt eindringen?

Luisa plapperte ohne Punkt und Komma über Arthur und Maria Celeste, sagte aber auch irgendetwas von zwei weiteren, kleineren Kindern, was er nicht wirklich verstand. Sie trat an eines der Betten im hinteren Bereich, welches über und über mit Kinderkleidung, Teilen von Bilderbüchern und Spielzeug beladen war. Mit ausladenden Bewegungen packte sie einfach das Bettlaken an den vier Zipfeln und trug den ganzen Krempel in einem riesigen Bündel weg. Dasselbe tat sie beim zweiten Bett, bezog beide frisch und drückte Arthurs Vater schließlich einen Stapel Decken und Kissen in die Hand. Mit zufriedenem Kopfnicken schaute sie zu, wie Arthurs Vater die Sachen auf den Betten verteilte.

Nachdem Luisa die Schlafplatzverteilung mit ihrer durch und durch sorglosen Leichtigkeit geregelt hatte, bugsierte sie Arthurs Vater am Arm über die geräumige Terrasse unter dem Vordach zurück in die Küche. Es sei Zeit für eine Tasse Kaffee, lachte sie.

Beim Eintritt in die Küche riss Arthurs Vater überrascht die Augen auf. Zwischen verschiedenen Küchenschränken und dem Spülbecken hantierte jetzt eine Frau mit Einkaufstaschen und Körben herum, am Küchentisch saß ein junges Mädchen. Die Frau fühlte sich hier ganz offensichtlich ebenso heimisch wie Luisa. Jedenfalls bewegte sie sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit im Raum und schien jeden Winkel der Küche zu kennen. Offensichtlich war sie vom Markt zurückgekehrt, während Luisa ihm das Bett im Schlafraum hergerichtet hatte. Sie verteilte Kartoffeln, Reis, kleine grüne Kürbisse und Maniokwurzeln in dafür vorgesehene Tonkrüge und Holzkisten. Das Mädchen am Ende des Tisches schaute Arthurs Vater nur einen kurzen Moment an, dann senkte es verschämt den Kopf. Es konnte sich nur um die Tochter der Frau handeln – die Ähnlichkeit der beiden war unverkennbar, auch wenn sich die Hautfarbe des Mädchens um einige Tonstufen dunkler als die der Mutter zeigte.

Seine Überraschung machte einer grenzenlosen Erleichterung Platz, als er merkte, dass die Frau, die sich mit zaghafter Stimme als Justina Klassen vorstellte, Deutsch sprach.

 

„Wir hatten schon gewusst, dass jemand mit einem kleinen Kind aus Deutschland ankommen sollte“, sagte sie, ohne Arthurs Vater direkt anzusehen.

Ihre Äuβerungen wirkten zwar etwas ungelenk, jedoch sprach sie herrlich verständliches Deutsch! Der fremde Akzent und Tonfall kamen allerdings nicht aus dem Spanischen, sondern erinnerte ihn eher an die Leute aus der Gegend von Ostpreuβen, dem heutigen Polen. Auch die Tochter, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre alt, die sich auf einen Wink der Mutter erhob, mit einem braven Knicks grüβte und sich als Hildegard vorstellte, sprach eindeutig Deutsch!

Arthurs Vater war begeistert. „Ja Wunderbar!“, rief er. „Endlich jemand, der Deutsch sprechen kann! Justina und Hildegard, euch schickt der Himmel!“

Für den letzten Satz erntete er von Justina einen befremdeten, annähernd tadelnden Blick.

Ohne zu überlegen zog er einen Stuhl vom Tisch ab, drehte ihn in Justinas Richtung und lieβ sich darauf fallen. Er zog auch einen Stuhl für Luisa ab, jedoch ohne sie weiter zu beachten. Er hatte nur noch Augen und Ohren für Justina. Statt sich zu setzen, verlieβ Luisa die Küche. Er hatte nichts bemerkt, aber ihr Gesicht dürfte wie versteinert gewirkt haben. Erst viel, viel später würde Arthurs Vater begreifen, dass er die schöne Luisa soeben zutiefst beleidigt hatte. Derart offen zu zeigen, wie sehr er sich über das Zusammentreffen mit einer Deutschsprachigen freute, und dass ihm Justinas Gesellschaft in diesem Moment bei Weitem wichtiger war als ihre, war für Luisa schwer zu schlucken. Dass sie sich gerade erst kennen gelernt hatten, spielte dabei keine Rolle. Vielleicht wäre sein Verhalten im Normalfall auch etwas feinfühliger gewesen, doch für heute hatte ihn die fremde Sprache genug Anstrengung gekostet.

Aber auch Justina gegenüber zeugte sein Verhalten nicht gerade von Feinfühligkeit: Ihre Zurückhaltung, fast schon Ablehnung, war unverkennbar. Trotzdem stellte er unzählige Fragen und versuchte, sie in ein geselliges Gespräch zu verwickeln. Sie antwortete höflich aber knapp auf alle seine Fragen. So erfuhr er, dass sie aus einer mennonitischen Siedlung im Chaco stammte, der westlichen Region Paraguays. Er erfuhr auch, dass sie seit dreizehn Jahren in Asunción und seit etwa fünf Jahren hier im Hinterhaus lebte und bei den Deisenhofers als Köchin und Näherin ihren Lebensunterhalt verdiente. Er bombardierte die immer verlegener werdende Justina auch mit Fragen über Luisa, erfuhr, dass sie drei Kinder hatte und sich darum kümmern musste, dass das Hinterhaus, aber auch das wesentlich gröβere Haupthaus direkt an der Straße, zu jeder Zeit aufgeräumt und sauber waren. Auf seine Frage, ob auch Luisas Mann im Hinterhaus lebe, bekam Justina einen hochroten Kopf und zischte nur: „Luisas Kinder haben keinen Vater.“

Diese Antwort verwirrte Arthurs Vater. Für einen Moment war er sprachlos. Er lachte verlegen, um sich gleich darauf wieder zu fangen und Justina weiter auszufragen.

Die Frage danach, wer oder was die Mennoniten eigentlich seien, interessierte ihn nur am Rande, deshalb stellte er sie nicht. Auch nach Hildegards Vater zu fragen vermied er vorerst. Sie hatte nur von sich und ihrer Tochter gesprochen, deshalb hielt er es für möglich, dass Justina Witwe sein könnte – so wie er Witwer war. Das Mädchen saβ während der Unterhaltung ihrer Mutter mit dem „Deutschländer“ schweigend da und beobachtete den Mann verstohlen, aber höchst interessiert aus den Augenwinkeln.

Er hatte sich bequem nach hinten gelehnt und seine Beine weit unter den Tisch gestreckt, während er mit der verkrampft wirkenden Justina redete. Sein Blick fiel auf die lackierte Bretterwand, welche die Küche nach hinten hin abgrenzte. Ohne zu überlegen sagte er: „Und dort hinten schlaft ihr beide wohl, was?“

Justina fühlte sich offensichtlich von der Frage unangenehm berührt. Sie erhob sich und machte sich an irgendwelchen Küchenutensilien zu schaffen. In diesem Augenblick betrat Luisa die Küche wieder. Sie ignorierte Arthurs Vater ostentativ und fing an, mit Justina über das Abendessen und den Speiseplan für den nächsten Tag zu reden. Ihre Stimme wirkte irgendwie unnatürlich laut.

Ach du liebes Bisschen, dachte er, ich verstehe zwar nicht viel, aber diese Luisa scheint ja das Regiment hier im Haus fest im Griff zu haben. Fehlt nur noch, dass Justina stramm steht und die Hacken zusammenknallt.

Er beobachtete die beiden Frauen. Sehr unterschiedliche Frauen, stellte er insgeheim fest. Justina nickte nur hin und wieder zu all dem, was die schöne Luisa in kurzen Sätzen aufzählte. Dabei standen sie, soweit man bei den beiden Frauen von Rangordnung sprechen konnte, auf der gleichen hierarchischen Stufe. Die eine war zuständig für Küche, Speiseplan und Einkäufe, die andere für die Sauberkeit in allen anderen Räumen in Haupt- und Hinterhaus.

Ich werde es schon noch begreifen, wer hier wen gängelt und herumkommandiert, dachte Arthurs Vater amüsiert. Vielleicht ist es auch unwichtig für mich, denn dieser Deisenhofer wird ja hoffentlich bald auftauchen und mich und Arthur mit auf’s Land nehmen. Er scheint ja häufig in die Hauptstadt zu kommen, sonst hätte er hier ja kaum ein derart groβes Haus mit ständig darin wohnendem Hauspersonal. Wenn ich Justina richtig verstanden habe, soll er sich hier ja oft mit irgendwelchen Geschäftsleuten treffen. Menschenskind, bin ich froh, dass es hier einen Menschen gibt, mit dem ich mich richtig unterhalten kann! Sie hat etwas davon gesagt, dass sie aus einer „Kolonie“ kommt. Ein Ort mitten im Urwald, wo nur Deutsch gesprochen wird. Seltsam… aber, hat nicht Walter aus Sennestadt so was Ähnliches auch mal erwähnt? Es gibt hier ganz und gar deutsche Siedlungen. Auch Deisenhofer soll ja in einer deutschen Siedlung wohnen. Aber, wenn ich das richtig verstanden hab, sind das zwei unterschiedliche Orte. Und noch nicht einmal nahe zusammen liegend. Wie Justina dann hier ins Haus zu den Deisenhofers gekommen sein mag? Ach, womöglich einfach über zufällige Bekanntschaften. Werde ich ja alles noch erfahren. Und bis Deisenhofer kommt, müssen ich und der Kleine hier irgendwie klar kommen. Ich begreife nur nicht, was das Ganze hier eigentlich ist. Gleich zwei „Haushälterinnen“, die die Stadtwohnung eines … ja was? Eines reichen Geschäftsmannes aus dem Inland in Stand halten? Das ist doch alles irgendwie unlogisch. So, wie sich diese beiden Frauen anhören, leben sie ja nicht gerade aus purer Freundschaft unter einem Dach.

Es sollte noch relativ lange dauern, bis Arthurs Vater sämtliche Zusammenhänge für den Grund dieser Wohngemeinschaft durchschauen würde. Vorerst nur so viel dazu: Luisa, die schon wesentlich länger als Justina in dem Haus lebte, hatte von Anfang an eine gewisse Überlegenheit gegenüber der hinzugezogenen Mitbewohnerin und Mitarbeiterin an den Tag gelegt. Und Justina hatte sich nie dagegen aufgelehnt, war sie doch froh, dass sie hier überhaupt eine kostenlose Bleibe gefunden hatte und dass sie meistens lediglich die Küchenarbeit erledigen musste. Das Wenige, was sie an Bargeld benötigte, um sich selbst und ihre Tochter einzukleiden, verdiente sie sich mit gelegentlichen Näharbeiten. Manchmal brauchte eine der Damen aus Frau Deisenhofers Bekanntenkreis ein Kleid, oder sie nähte Hosen für die Arbeiter, die bei Julius Deisenhofer in Independencia im Wald und auf dem Feld beschäftigt waren.

Luisa schien mit ihren Anweisungen zum Menü des nächsten Tages fertig zu sein. Sie drehte sich um und lächelte Arthurs Vater herausfordernd an. Dabei blitzten ihre schönen Zähne. Mit einer leicht herrisch wirkenden Geste machte sie ihm deutlich, dass er mitkommen sollte, um die Kleidung für sich und seinen Sohn auszupacken, um sie dann in einem der Fächer im Schrank, das sie inzwischen frei gemacht hatte, unterzubringen.