Der Sohn des Deutschländers

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Der Sohn des Deutschländers
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Felizia Wolf

Der Sohn des Deutschländers

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Anstatt Vorwort

Kapitel I

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel I.

Kapitel II.

Kapitel III.

Kapitel IV.

Kapitel V.

Kapitel VI.

Kapitel VII.

Kapitel VIII.

Kapitel IX.

Kapitel X.

Kapitel XI.

Kapitel XII.

Kapitel XIII.

Kapitel XIV.

Impressum neobooks

Anstatt Vorwort

Ich habe „Ja“ gesagt. Mein Freund hat mir heute das Versprechen abgerungen, ihm zu helfen. Er will seine Geschichte aufschreiben. Seine Lebensgeschichte. Jeder Mensch müsse „sich selbst finden“, sagt er, und Schreiben sei das wirksamste Mittel dazu.

„Oh je! Selbstfindung!“ Ein langgezogenes, womöglich genervtes Stöhnen war meine erste Reaktion auf seine Bitte um Hilfe. „Wenn ich sowas schon höre! Was heißt Selbstfindung eigentlich? Das klingt so schwammig, pathetisch, fast mysteriös! Und im Grunde so nichtssagend. Selbstfindung! Hattest du dich denn mal verloren? Wohin verloren? Du kannst dich ja kaum irgendwo liegen lassen haben wie einen Handschuh.“

Mein Freund denkt lange nach, bevor er mir erklärt: „Sich selbst zu finden bedeutet, ein Leben in Furchtlosigkeit zu erlangen. Furchtlos in dem Sinne, dass man eine lebensbejahende Sicherheit erreicht, und zu einer ganz und gar in sich ruhenden Persönlichkeit wird. Nur dann kann man auch allen Mitmenschen offen und liebevoll in die Augen sehen.“

„Gewaltig, was du dir da vorgenommen hast!“, spotte ich. Und ich habe meine Zweifel, dass so etwas überhaupt möglich ist. Schlieβlich ist man, wie man ist. Begriffe wie „Furchtlosigkeit“, oder „in sich ruhende Persönlichkeit“, genau wie „lebensbejahende Sicherheit“ erzeugen bei mir eigentlich nichts weiter als Ablehnung. Ich traue solchen tiefsinnigen Aussagen einfach nicht.

Ich versuche, meinen Freund zu provozieren, um seine gegenwärtig vorgetäuschte Selbstsicherheit ins Wanken zu bringen und herauszufinden, warum er es nötig hat, sich selbst zu finden.

„Wo willst du denn anfangen zu suchen? In der Kindheit? Schulzeit? Halt… da dämmert mir etwas: Du hast also in der Kirche der Mennoniten gar keine geistige Erleuchtung gesucht, sondern dich selbst! Jahrelang! Na klar! Was sollten sonst all die versuchten Glaubensexperimente, die dich am Ende kein bisschen furchtlos gemacht haben! Ha! Nichts hat dich je so unfroh und ängstlich gemacht, wie die vermeintlich „frohe Botschaft“.

Es hat funktioniert, er ist wütend: „Hör damit auf, Glauben und Evangelium lächerlich zu machen!“, sagt er unwirsch, seine Unterlippe zittert. „Du weißt genau: Meine Unfähigkeit, einfach zu glauben, was mir in der Kirche versprochen, aber auch angedroht wurde, hat mich an den Rand der Verzweiflung gebracht! Ich hatte Angst! Verzweifelte Angst vor alledem, was ich nicht verstanden habe, verzweifelte Angst vor dem Tod, der ewige Strafe bedeuten konnte. Und auch verzweifelte Angst vor dem Leben. Diese Verzweiflung verwandelte sich irgendwann in Wut und Anklagen. Erst gegen die Kirche, dann gegen ‘die Leute’ und schließlich gegen mich selbst. Reicht das?“

Ich beachte seinen Einwand gar nicht. „Da fällt mir ein“, sage ich und schaue sinnierend ins Nichts. „Was ist eigentlich mit den Frauen? Haben dich etwa die Beziehungen immer weiter von deinen eigenen Prinzipien weggebracht, sodass jetzt die Suche nach dir selbst nötig wird? Welche von beiden Frauen war eigentlich schuld? Welche hat dich von dir selbst weggebracht?“

Ich sehe, dass mein Freund blass wird vor Wut. Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Schnell rede ich weiter, um ihn gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen: „Oder war es am Ende der frühe Tod deiner Mutter? Dann die Auswanderung nach Südamerika, die dein Vater damals als Flucht nach vorn verstanden haben mag? Selbstfindung! Ich mag das Wort nicht. Kannst du denn nicht schlicht und einfach sagen, dass du ein zufriedener Mensch werden willst?“

Mich trifft sein verblüffter Blick. „Es so einfach auszudrücken ist mir bisher noch nicht in den Sinn gekommen.“

„Genau“, sage ich ziemlich überheblich. „Du machst dir zu viele weitschweifige Gedanken über alles. Du ‘zerdenkst’ jedes Erlebnis, jede Frage, jeden Zweifel, jede Anschauung, bis nichts mehr übrig ist, als ein wirres Durcheinander in deinem Kopf.“

„Siehst du“, sagt er grinsend, „du bist genau der Richtige, mir dabei zu helfen, meine Erlebnisse und Gedanken zu entwirren, in Texte zu verwandeln und sie dann aufzuschreiben, damit ich mich begreife und zurück zu einer ganz simplen und zufriedenen Lebensweise finden kann.“

Was bleibt mir nach dieser Feststellung anderes übrig. Ich lasse einen tiefen Seufzer los. „Es sei also. Ich schreibe auf, was du, mein Freund, erlebt und gedacht, angezweifelt und geglaubt, getan oder nicht getan hast. Warum? Weil du mich darum bittest und ich dein Freund bin.

ABER, ich nehme mir die Freiheit heraus, dich vorab zu warnen: Wir werden um die Wahrheit debattieren, auch streiten, vielleicht feilschen. Und einer wird gewinnen.“

Nun gut. Fangen wir an, mein lieber Freund Arthur. Zunächst sehe ich mich gezwungen zu wiederholen, was ich aus Erzählungen über dich weiß. Diese Fakten halte ich allerdings nur der Vollständigkeit halber fest, denn, wie du weißt, hat unsere allererste Begegnung im heißen, nordwindgepeitschten Chaco Paraguays stattgefunden. Und ich behaupte, dass mein Dasein erst dann wirklich angefangen hat, nachdem du und ich Freunde geworden waren. Allerdings ist mir bekannt, dass deine Existenz viel früher, weit weg von Paraguay begonnen hat:

Teil 1

Kapitel I

Kapitel 1

Arthur wurde im Frühjahr 1958 in einem kleinen Nest bei Bielefeld, BRD, auf die Welt gebracht. An seine Taufe in einer kleinen evangelischen Kirche bei Sennestadt kann er sich nicht erinnern. Um den kirchlichen Segen zu seinem Dasein hatte er niemanden gebeten, man hat ihm diesen einfach aufgepfropft – das macht man nun mal so. Obwohl er vermutlich schrie, wie die meisten Säuglinge, denen ein lauwarmes Rinnsal gesegneten Wassers über die dünnen Härchen getröpfelt wird, sprach man später von einem freudevollen Fest. Und an diesem freudevollen Fest sollen folgende Familienmitglieder teil genommen haben: Seine Eltern, zwei Tanten (Schwestern seines Vaters), ein Onkel (Bruder der Mutter), ein Opa sowie eine Oma, die jedoch nicht zusammen gehörten, sondern ihrerseits Vater des Vaters und Mutter der Mutter des kleinen Arthurs waren.

Arthurs Eltern sollen angeblich glücklich miteinander gewesen sein. Ich bezweifle diese Behauptung allerdings, weil man mir außerdem erzählt hat, die Frau Mutter sei eine kränkliche Person gewesen. Und meiner Meinung nach vermittelt ein glücklicher Mensch selten das Bild einer kränklichen Gestalt. Kurz: sie starb drei Jahre nach Arthurs Taufe, auf der auch das einzige Foto, das Arthur von seiner Geburtsfamilie besitzt, entstanden ist.

Hier muss ich nachträglich einfügen: Alles Weitere, was ich über Arthurs Mutter gewusst und aufgeschrieben hatte, wurde von Arthur bei der Kontroll-Lektüre (die vermutlich täglich stattfinden wird) kurzerhand gestrichen. „Überflüssig“, war sein ganzer Kommentar!

 

Arthurs Vater war seinerseits Sohn eines Kürschners. Das heiβt, der Groβvater besaβ einen kleinen Betrieb, in welchem Pelzjacken und -mäntel hergestellt wurden. Und obwohl Arthur in die Ausläufer des deutschen Wirtschaftswunders hineingeboren worden war, kam der Familienbetrieb in der nordrheinwestfälischen Provinz eher zäh voran.

Etwa ein knappes Jahr nach nachdem Arthurs Mutter ihren Mann unabsichtlich zum Witwer und den Sohn zum Halbwaisen gemacht hatte, meldete sich bei Arthurs Vater das Bedürfnis, seinen „verlorenen Frühling“ nachzuholen. Wir haben immer angenommen, dass er sich mit Mitte dreiβig zu jung fühlte für das Leben, das er führte. Er soll Arthur einmal erzählt haben, die gesamte Atmosphäre im Hause des Großvaters habe dunkel und niederdrückend auf ihm gelastet. Die Großfamilie schien ständig um irgendwas zu trauern. Ob die Trauer eine Art Grundhaltung war oder wirklich seiner Mutter galt, hat Arthur von seinem Vater nie erfahren, somit konnte er mir darüber auch nichts weiter erzählen. Jedenfalls stand dem jungen Witwer nicht der Sinn danach, sein Dasein in einer permanent Trübsal blasenden Familie und in immer gleichem Alltagstrott zu verbringen. So konnte es doch nicht bis ans Ende seiner Tage weitergehen. Er wollte etwas ganz „Neues“. Vorerst weniger von den Frauen, sondern viel weitgreifender: Ein ganz und gar neues Leben.

Über Bekannte aus seiner Gegend hörte er damals von einem Land jenseits des Ozeans, wo es noch so etwas wie eine echte Wildnis geben sollte. Vermutlich wurde ihm diese Wildnis in schillernden Farben und voller Lagerfeuerromantik beschrieben. In einer echten Wildnis gibt es auch echt wilde Tiere. Wo es wilde Tiere gibt, muss es natürlich auch mutige Jäger geben. Den Jägern in diesem Land, so hieß es ebenfalls, sollten die Wildtierpelze praktisch vor die Flinte springen.

Paraguay, mitten in Südamerika. Begeistert lauschte Arthurs Vater den Geschichten, die ehemalige Abenteurer von dort zu erzählen hatten, wenn man sich nach Feierabend in einer Kneipe in Sennestadt oder Asemissen traf. Dass diese Abenteurer in ihrem Alltag in Südamerika keine wild-romantischen Jäger gewesen waren, sondern brave und arbeitsame Familienväter, die allenfalls mal am Wochenende in den Busch gefahren waren, haben die Rückkehrer nicht besonders deutlich betont. Ich frage mich heute, ob Arthurs Vater diese zurückgekehrten Siedler je nach dem Grund ihrer Heimkehr nach Deutschland gefragt hat.

Die romantische Vorstellung, das väterliche Unternehmen von Südamerika aus mit Pelzen beliefern zu können, begann in seinem Hirn zu wachsen und zu wuchern wie ein Tumor. Immer wieder brachte er die zurückgekommenen Auswanderer dazu, über ihre Erlebnisse in Südamerika zu sprechen. Immer wieder düngte er dadurch den aufkeimenden Wunsch nach einem Dasein ohne die Enge des Alltags. Der wachsende Traum von seinem Leben als Jäger im neuen El Dorado hieβ Freiheit, Weite, Frauen, vielleicht Liebe... Aber auf keinen Fall täglich wiederkehrendes Einerlei, täglich wiederkehrende Aufgaben im Betrieb, dieselben Handgriffe, dieselben Gesichter, dieselben Gespräche.

Er malte sich sein Utopia allerdings vorerst ohne seinen inzwischen dreijährigen Sohn Arthur. Schlieβlich hatte er zwei Schwestern. Und jede Frau, so glaubte er, würde mit glückseliger Bereitschaft an die Aufgabe herantreten, sich auf unbestimmte Zeit um das mutterlose Kind ihres Bruders zu kümmern. Falsch.

Der aufregende Traum vom El Dorado in Südamerika wurde, wie nicht anders zu erwarten, von der ganzen Familie als idiotisch bezeichnet. Schließlich hatte er nichts zu beklagen. Sicheres, wenn auch nicht allzu üppiges Einkommen im Familienbetrieb, geregelte Altersversorgung, garantierte ärztliche Versorgung, und nicht zuletzt ein gemütliches Eigenheim – alles das aufzugeben, nur um irgendwo im Urwald auf Abenteuersuche zu gehen, und dabei auch noch das Kind zurückzulassen, wurde von allen als Spinnerei eines frustrierten Witwers abgetan. Und wenn er schon verrückt genug war, an diesem irrigen Vorhaben festzuhalten, dann müsse er auch fair genug sein, die Zukunft seines Sohnes im Voraus abzusichern, indem er von seinem Anspruch auf Anteile des gesamten Familienvermögens zurücktrete. Kinder kosten schließlich Geld. Und nur zu bald würde sich das niedliche Kleinkind in einen Jungen mit ständig wachsendem Appetit und scheinbar kürzer werdenden Hosenbeinen verwandeln.

Arthurs Vater hatte jedoch seine Anteile am Erbe schon in die Berechnungen für Reisekosten und als Startkapital in Südamerika fest eingeplant.

Streit folgte.

Streit um die Verantwortung für den jüngsten Erben in der Kette.

Streit um die vorgezogene Auszahlung von Anteilen am Erbe.

Streit um die geschätzte Höhe des Erbes.

Streit insgesamt um den idiotischen Wunsch nach Paraguay in Südamerika auszuwandern. Terra Incognita, die Arthurs Vater bis dahin nur als kleinen blassen Fleck auf der Landkarte gesehen hatte und nun auf einmal sein „gelobtes Land“ darstellte.

Trotz alledem waren Arthurs Vater und Groβvater irgendwie in finanziellen Fragen übereingekommen. Und was den kleinen Arthur betraf, so hatte sein Vater letztendlich beschlossen, ihn einfach mitzunehmen. In Paraguay würde er das wachsende Problem schon irgendwie mit Kindermädchen oder Erzieherinnen lösen.

Die Überfahrt mit dem Schiff von Amsterdam nach Buenos Aires in Argentinien sollte etwa fünf Wochen dauern. Von dort aus war es nur ein Katzensprung nach Paraguay. Zumindest auf dem Globus, der im Wohnzimmer stand. Andererseits bestand auch die Möglichkeit zu fliegen. In der Hauptstadt Asunción sollte es einen internationalen Flughafen geben. Aus Kostengründen zog Arthurs Vater die Schiffsreise jedoch vor. Auf dem Schiff, versuchte er sich einzureden, würde er endlich einmal genügend Zeit haben, sich um sein Kind zu kümmern. Auβerdem wurde das Gepäck nicht so kleinlich eingeschränkt wie im Flieger.

Kurz und gut: Am 2. März 1962, zwölf Tage vor Arthurs viertem Geburtstag, bestieg Arthurs Vater mit seinem weinenden Kind auf dem Arm in Amsterdam den Dampfer, der als Linienschiff unter argentinischer Flagge fuhr und die beiden nach Buenos Aires bringen würde.

Die Fahrt über den Ozean soll ohne gröβere Komplikationen verlaufen sein. Jedoch war der kleine Arthur schwer seekrank geworden, soll fast eine Woche lang jegliche feste Nahrung verweigert haben, was bei einem knapp vierjährigen Kind natürlich Anlass zu gröβter Sorge bedeutet. Erst einen oder zwei Tage vor seinem Geburtstag sei die Magenverstimmung langsam abgeklungen. Ich wage zu behaupten, dass an dem Aufruhr seiner Innereien nicht allein der Seegang schuld gewesen ist.

Drei Tage nach dem geplanten Ankunftstermin gelangte das Schiff in den Hafen der Rio-de-la-Plata-Bucht. Die Südamerikaner haben diese drei Tage wohl kaum als Verspätung angesehen, denn Zeit- und Terminpläne sind bei nicht wenigen Südamerikanern nur ein relativer Anhaltspunkt für zukünftige Ereignisse. Wie dem auch sei, Arthurs Vater soll total erschöpft an Land gegangen sein. Seine neue Aufgabe als alleinverantwortliches Elternteil hatte sich nicht gerade als das erwiesen, was er sich vorgestellt hatte: mehr oder weniger eine Nebensächlichkeit.

In Buenos Aires machte er sich sofort auf die Suche nach einer billigen Bleibe in der Nähe des Hafens. Dort drückte er einer jungen Hausangestellten sein Kind und zwei, drei Dollarnoten in die Hand, dann machte er sich zu einem Hafenrundgang auf. Er bekam heraus, dass schon am späten Vormittag des nächsten Tages ein kleines Schiff in Richtung Asunción auslaufen sollte.

Die Fahrt auf einem umgebauten Frachtkahn, der einem paraguayischen Reederei-Betrieb gehörte und die beiden von Buenos Aires nach Asunción bringen sollte, muss auf Arthurs Vater tiefen Eindruck gemacht haben. Denn dieses Flussschiff war sozusagen das erste Stück Paraguay, dem Arthurs Vater begegnete.

Mir hat Arthur viel später grinsend erzählt, sein Vater habe die neuntägige Flussfahrt als regelrechten Kulturschock erlebt. Hier auf der „Lancha“ erwies sich als einzige Ordnung, dass täglich drei Mahlzeiten im Speisesaal serviert wurden. Die teilweise romantischen Vorstellungen und Träume vom Leben auf einem fremden Kontinent, denen er sich im kalten Europa hingegeben hatte, machten nach und nach eher ängstlichen Überlegungen Platz. War es vernünftig gewesen, auf´s Geratewohl alle Zelte in der Heimat abzubrechen, um gerade in Paraguay etwas völlig Neues und Aufregendes zu erleben? Würde Paraguay so angenehm und exotisch sein, wie der Name klingt? Der Frachtkahn jedenfalls war alles andere als angenehm oder exotisch.

Die wenigen Kabinen waren vollkommen überfüllt, die Menschenmenge an Deck verhielt sich bei der Abreise wie ein aufgeregtes Ameisenvolk, nachdem irgendwer mit einem Stock im Haufen herumgestochert hat. Jeder Quadratzentimeter auf dem Oberdeck wurde entweder von emsig hin- und herlaufenden Menschen oder herumstehendem Gepäck in Beschlag genommen. Inmitten dieses Gewühls stand Arthurs Vater recht verunsichert herum, überlegte immer wieder, was er auf Spanisch sagen oder fragen würde, um zu erfahren, wohin er sich wenden musste, damit er den eigens für ihn reservierten Platz auf diesem fremdartigen Schiff finden konnte. Niemand interessierte sich für einen „Entschuldigung“ murmelnden Gringo, der mit einem Kleinkind auf dem Arm und einem von Stempeln, Unterschriften und Steuermarken übersäten Blatt Papier in der Hand versuchte, seine Kabine zu finden. Und noch viel weniger interessierte man sich dafür, warum ebendieser Gringo in lauten Protest ausbrach, als er endlich die Tür zu seiner Kabine gefunden und geöffnet hatte. Auf dem Bett in seiner Kabine lag schon jemand, in voller Kleidung, nur die offensichtlich frischgeputzten Schuhe ragten über den Bettrahmen hinaus bis fast an die Tür. Der Fremde im Bett war, trotz des Stimmengewirrs ringsherum, fest eingeschlafen, denn er schnarchte hörbar.

Nach einigem Hin und Her soll es Arthurs Vater gelungen sein, die Kabine allein für sich und seinen Sohn zu beanspruchen. Schließlich hatte er erster Klasse gebucht und bezahlt! Dennoch: so manche Beobachtung an Bord, die er in den kommenden Tagen machen sollte, hätte ihm zuhause das Gefühl gegeben, eine Beschwerde sei nicht nur gerechtfertigt, sondern geradezu seine Pflicht. Hier wusste er jedoch nicht einmal, ob irgendjemand den Sinn seiner Proteste verstand. So hatte er beispielsweise mehr als einmal beobachtet, wie Kellner sich im Speisesaal ungeniert mit den Geschirrtüchern die schweiβnasse Stirn, Hals und Nacken trockenwischten, um gleich darauf Tassen, Teller oder Besteck mit demselben Tuch zu polieren. Das Wasser, das den Passagieren in groβen Kannen aus Zink zum Trinken angeboten wurde, schöpfte man direkt aus dem Fluss, und zwar meist hinten am Heck, während vorne auf dem Kahn die erbärmlich stinkenden Toiletten eingerichtet waren, deren Inhalt selbstverständlich direkt im Fluss landete.

Wie können die alle so zufrieden aussehen, fragte er sich, während er an der Reling entlang über das Deck schlenderte. Möglichst unauffällig beobachtete er dabei die Mitreisenden: Fast alle machten einen irgendwie ärmlichen Eindruck, trotzdem wirkte keiner bedrückt oder sorgenvoll. Sie redeten die ganze Zeit laut miteinander, und immer wieder brach irgendjemand in haltloses Gelächter aus. Erst viel, viel später würde er begreifen, dass ein Groβteil der paraguayischen Landesbevölkerung zwar ausgesprochen unzufrieden mit der angeborenen Armut sein mag, sich aber mit beinahe achselzuckender Ergebenheit dem Schicksal fügt. Und in der Gesellschaft von anderen, ebenso armen Schicksalsgenossen, macht man das bloβe Zusammensein zu einem nie endenden Fest. Nichts geht über Gesellschaft und Geselligkeit.

Immer lauter werdende Zweifel bohrten sich durch seinen Kopf. Wie ein Moskito, der im endlosen Schweigen der Nacht immer näher kommt, schienen die zweifelnden Fragen immer bedrohlicher zu werden. Was, wenn er einen riesigen Fehler gemacht hatte? Was, wenn er sich in diesem fremden Erdteil, unter diesen fremden Menschen nie wirklich zu Hause fühlen würde. Was, wenn er eines Tages feststellen musste, dass er nur noch von der alten Heimat träumen konnte? Hatte er zu impulsiv gehandelt? Die Zweifel wurden durch die Frauen an Bord ein wenig gemildert, denn die mitreisenden Señoras kümmerten sich mit Begeisterung um seinen kleinen Sohn. Sobald der kleine blonde Engel mit den strahlenden, fast dunkelblauen Augen am frühen Morgen auf Deck erschien, wurde er dem Vater buchstäblich aus der Hand gerissen, hingebungsvoll umarmt, geküsst, herumgetragen, mit allen möglichen Leckerbissen verwöhnt, und von den eigenen Kindern der Frauen zum Spielen eingeladen. Und Arthur schien sich wohl zu fühlen inmitten der allesamt schwarzhaarigen Kinder, die auf dem abgeblätterten Holzfußboden saβen und mit Blechbüchsen, Stoffpuppen, Holzautos oder einfach nur mit sich selbst spielten. Rings um die Gruppe spielender Kinder herum stellten die Frauen dann ihre Klappstühle oder aus Korb geflochtenen Hocker auf und grenzten auf diese Weise eine kreisförmige Spielfläche ab. Sie wedelten mit langstieligen, bunt angemalten Fächern aus geflochtenen Palmenfasern die Hitze oder Moskitos weg, schwatzten pausenlos miteinander, immer wieder wurde gekichert, manchmal auch schwermütig geseufzt, wenn eine von ihnen gerade ein Familiendrama beschrieb, um kurz darauf wieder über ein anderes Gesprächsthema zu lachen. Ganz selten hörte man auch einen Schwall von Beschimpfungen auf eines der Kinder niedergehen, welches durch irgendeine Handlung den Unmut der Frauen verdient hatte. Erziehungsarbeit war genauso ein gemeinschaftliches Unternehmen wie die Beaufsichtigung der kleineren und größeren Kinder.

 

Die Ehemänner dieser Frauen saßen fast den ganzen Tag über in kleinen Gruppen zusammen und spielten Karten oder etwas, das aussah wie selbstgebastelte Dame-Spiele aus einem mit Kästchen bemalten Brett und Kronkorken-Deckeln von Sinalco-Flaschen. Manchmal versuchten sie, Arthurs Vater in ihre Gesprächs- oder Kartenrunden einzubeziehen, die Versuche endeten jedoch meist in hilflosem Gestammel.

Arthurs Vater hatte zwar schon auf der Fahrt über den Ozean versucht, möglichst viele spanische Vokabeln aus einem mitgebrachten, inzwischen leicht zerfledderten Wörterbuch zu lernen, irgendwelchen Unterhaltungen konnte er aber noch nicht folgen. Außerdem hatte er das Gefühl, nicht eine einzige der gelernten Vokabeln hatte auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit der Sprache, die hier an Deck gesprochen wurde. Das Auswendiglernen spanischer Wörter wollte ihm immer sinnloser erscheinen. Was er nicht wusste: Die meisten Reisenden um ihn herum sprachen fast ausnahmslos ein Spanisch, das stark vom Guaraní, einer indianischen Sprache, durchwachsen war. Alle Gesprächsversuche blieben erfolglos.

Arthurs Vater verbrachte also die Stunden zwischen den nicht gerade üppigen Mahlzeiten in angebrachter Entfernung zu den Frauen (und seinem Sohn) auf dem Schiffsdeck. Dort stand er, um nicht zu ermüden, an die Reling gelehnt und betrachtete fasziniert die vorbeigleitende, vollkommen fremdartige Landschaft.

Die ersten zwei, drei Tage kam er aus dem Staunen nicht heraus. Der wilde Flusslauf mit seinen teilweise sandigen Stränden, den schilfbewachsenen oder jäh abfallenden, lehmigen und tief zerfurchten Ufern bot weiträumigen Lebensraum für farbenprächtige Wasservögel, die sich nicht um das vorbeifahrende Schiff kümmerten, sondern konzentriert auf die Wasseroberfläche starrten. Er sah auch kleine Gruppen von Wasserschweinen, die nie stillzustehen schienen, und schlammbraune Kaimane, die in der Sonne herumlagen, bisweilen ihr Maul weit aufrissen und scheinbar gelangweilt gähnten.

Eines Morgens erkannte er dort, wo dicht mit Lianen und Schlingpflanzen durchflochtene Baumgruppen nah an den Fluss heranreichten, eine Gruppe von kleinen, niedlich anzuschauenden Äffchen. Am selben Tag erblickte er auch Tukane mit riesigen, farbenprächtigen Schnäbeln. Anfangs entfuhren ihm noch begeisterte Ausrufe der Bewunderung, wenn er solch exotische Schönheiten erblickte, woraufhin sich alle anderen auf Deck zu ihm umdrehten. Meist reagierten die Umherstehenden dann mit einem freundlichen, jedoch eher unverständlichen Lächeln, wenn sie den Grund des Gefühlsausbruchs erkannten. Offenbar interessierte sich niemand sonst auf dem Schiff für die wilden Tiere am Ufer.

Mitunter zerriss das Geschrei von Papageienschwärmen das gleichmäßige Murmeln der Schiffsmotoren. Das Kreischen der grünen Vögel durchschnitt die klare Luft über dem Fluss dann derart laut und schrill, dass es noch im Ohr hing, auch wenn der Schwarm längst auβer Hörweite war. In der Nacht sangen, trommelten oder brummten Frösche und Kröten in unterschiedlichsten Stimmlagen. Absolute Stille gab es eigentlich nie.

Nach einigen Tagen wandelte sich die Faszination für die Natur in der Flussebene in gleichmütiges Gefallen, schlussendlich in Langeweile. Das vorbeiziehende Landschaftsbild wiederholte sich im Laufe der abgefahrenen Kilometer immer wieder. Abwechslung vom stundenlangen Hinausstarren boten nur noch die wenigen angesteuerten Häfen. Diese Häfen waren eigentlich nichts weiter als Anlegestellen und bestanden aus einer Hütte, mit Palmenstroh oder Wellblech gedeckt, und einem Landesteg aus Holzbohlen mit wackeligem Geländer. Hier wurden neue Passagiere aufgenommen, andere verlieβen den Kahn. Arthurs Vater beobachtete, wie manche Ankömmlinge mit groβem Hallo in Empfang genommen und zur Heimfahrt auf einen Ochsenkarren mit unendlich groβen Rädern aus sonnengebleichtem Holz kletterten, andere lieβen sich auf einer Wartebank beim Hafengebäude nieder. Diese Unterbrechungen dauerten jedoch selten länger als eine halbe Stunde.

Erst die Ankunft im Hafen von Asunción sollte der langweiligen Ruhe, die sich letzten Endes als der einzige Luxus der Flussfahrt herausgestellt hatte, ein jähes Ende setzen. Von der sprichwörtlichen Gelassenheit der Südamerikaner sah Arthurs Vater hier im Hafen zunächst einmal gar nichts. Beim Entladen von Kisten, Koffern, mit dünnen Hanfschnüren zusammengehaltenen Bündeln und Körben aller Art herrschte ein unübersehbares Chaos. Wie beim Antritt der Schiffsreise erinnerte auch hier das Gewühl der umhereilenden Menschen an ein Ameisenvolk, das durch äußere Umstände in Unruhe geraten ist. Überall hörte man unverständliches Geschrei, koffertragende Reisende schienen planlos hin und her zu hetzen, alle Regeln der Höflichkeit vergessen. Wie ein kurzer, heftiger Sturm fegte die Aufregung der Schiffsankunft über den Hafen. Arthurs Vater hatte in dem hektischen Gewühl keine Möglichkeit, den geschäftig umherlaufenden Hafenarbeitern rechtzeitig klar zu machen, welche Gepäckstücke ihm gehörten. Immer wieder sah er sich nach jemandem um, der den Eindruck machen könnte, nach ihm zu suchen. Irgendwer musste doch erscheinen, um ihn aus dem Gewirr von Reisenden und Hafenarbeitern herauszuholen. Niemand kam. Der Laderaum im Bauch des umgebauten Frachtkahns glich einer Rumpelkammer. Laut rufend versuchte er, irgendjemandem klar zu machen, dass seine Gepäckstücke noch nicht vollzählig neben dem Hintereingang des Hafengebäudes aufgestapelt waren. Und der Kahn wollte offensichtlich wieder ablegen, um das nächste Ziel, Puerto Casado, weiter im Norden anzusteuern. Er sah sich um. Wo blieb der Mann bloß, der ihn abholen sollte? Eine der dickleibigen Señoras vom Schiff kam auf ihn zu, drückte ihm sein Kind in den Arm, strich dem Kleinen über den Blondschopf und rief immer wieder: „Adiós, mi angelito“, und „Dios te bendiga, Dios te bendiga...“ Dann drehte sie sich um und stapfte mit wogenden Hüften und rudernden Armbewegungen zurück auf den Kahn.

Das Schiff legte ab und ganz plötzlich legte sich der Sturm im Hafen. Innerhalb von Minuten kehrte Ruhe in das ganze Hafengelände zurück. Allein Arthurs Vater war alles andere als ruhig. Zwei der Kisten, die er aus Europa mitgebracht hatte, waren noch auf dem Schiff, als es sich langsam wieder in Bewegung gesetzt hatte. Niemand vom Hafenpersonal schien sich davon irgendwie betroffen zu fühlen, dass der Fremde mit dem Kind auf dem Arm protestierend umherlief. Keiner verstand, was er sagte. Warum sollte man sein lautes, nervöses Gerede also beachten?

Der kleine Arthur spürte die hilflose Aufregung seines Vaters und musste sich übergeben. Eine weiβliche, käsig riechende Brühe ergoss sich über die linke Schulter, an der sich der Vierjährige krampfhaft festhielt. Das Gesicht des Vaters wurde blass. Blass vor Wut. Er merkte, dass niemand auch nur ansatzweise daran dachte, ihm behilflich zu sein. Am liebsten hätte er sich heulend wie sein Kind in eine Ecke gesetzt und darauf gewartet, dass irgendjemand seine Situation in Ordnung brächte. Er war der Meinung gewesen, seine Ankunft sei im Voraus ausreichend durchdacht, geplant und organisiert gewesen. Hier empfing ihn jedoch nichts anderes, als ein fremdes unübersichtliches Chaos. Und dieses Chaos schien völlig alltäglich zu sein, denn keiner außer ihm reagierte darauf mit Erstaunen oder gar verärgert. Alle machten Gesichter, als schienen sie sich in diesem Durcheinander auszukennen, sich darin sogar heimisch zu fühlen.

Arthurs Vater fühlte sich plötzlich verlassen. Fremd, allein und hilflos.

Über seine Freunde in Deutschland war die Abmachung mit einem gewissen Julius Deisenhofer in Paraguay getroffen worden, dass dieser in der Woche vom 18. bis zum 25. April täglich am Hafen nach ihm ausschauen würde. Immer wieder fragte Arthurs Vater am einzigen Schalter aufgebracht nach Julius Deisenhofer, aber die Hafenangestellten schüttelten nur verständnislos den Kopf. Je deutlicher sie zeigten, wie wenig wichtig sie die unverständlich hervorgebrachten Fragen nahmen, desto lauter wurde Arthurs Vater in seinem Tonfall. Und je lauter, ärgerlicher und unverständlicher er seine Gesuche um Auskunft formulierte, desto deutlicher zeigten die Hafenangestellten ihr Desinteresse.

Das Hafengebäude hatte sich geleert. Lediglich ein paar Straβenverkäufer, Zeitungsjungen und Schuhputzer lungerten am Schalter bei den Angestellten herum. Leute von der Putzkolonne fegten und wischten laut miteinander schwatzend den Fuβboden. Mitunter schüttelten sie den Kopf und warfen sich untereinander vielsagende Blicke zu, wenn Arthurs Vater mit schweiβnasser Stirn und nach Übergebenem riechend von einer Ecke in die andere lief, während er leise vor sich hin fluchte. Er war wohl nicht auf die Idee gekommen, sich drauβen im Schatten der Flammenbäume, hier Chivatos genannt, niederzulassen und dort auf seine Abholung zu warten. Die stickige warme Luft im Inneren des Gebäudes lieβ den Schweiβ in kleinen Rinnsalen an seinem Hals hinunterlaufen, sein blaukariertes Hemd klebte am Rücken. Wenigstens war der kleine Arthur inzwischen eingeschlafen. Er lag auf dem Fußboden, das Köpfchen auf eine weiche Reisetasche gestützt.