Experiment Ella

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In diesem Moment öffnete sich die Tür. Wer den Raum betrat, konnte sie wegen der Tränen nicht erkennen. Als die Fesseln gelöst wurden und sie sich endlich wieder bewegen konnte, wollte sie am liebsten von der Trage springen und davonlaufen. Der Blick, den sie auffing, ließ sie innehalten. Der Mann, der sie von den Fesseln befreit hatte, erinnerte sie spontan an einen Pavian. Er war fast so breit wie groß. Seine muskelbepackten Arme hielt er verschränkt vor der Brust. Seine Glatze glänzte vor Schweiß. Kleine, zusammengekniffene Augen funkelten sie herausfordernd an. Er hatte ihr Vorhaben wohl an ihrem Blick abgelesen.

„Schätzchen, denk nicht mal daran, du hast keine Chance! Vergiss es einfach und komm mit.“

Das kittelartige Etwas, das sie trug, schlotterte um ihre perfekt geformten Hüften. Von ihrer Kleidung und ihren persönlichen Sachen gab es weit und breit keine Spur. Auf wackeligen Beinen schritt sie neben dem Pavian her. In ihrem Kopf breitete sich ein Gedanke aus: Flucht. Der ganze Körper war in Alarmzustand versetzt. Sie versuchte, sich kurz zu orientieren, um einen Weg hinaus zu finden. Wie weit könnte sie kommen? Sollte sie es jetzt wagen oder auf eine günstigere Gelegenheit hoffen? Wer wusste, ob sich je eine bessere ergab? Es waren Bruchteile von Sekunden, die sie dazu bewogen, doch einen Fluchtversuch zu unternehmen. Schnell drehte sie sich um und lief in die andere Richtung davon, floh vor diesem schrecklichen Typen. Sie hörte ihn hinter sich fluchen und sein Schnaufen erinnerte Ella an eine Dampflok. Der Abstand zu ihr musste minimal sein, reichte aber aus, um Hoffnung aufkeimen zu lassen. Da war endlich die als Fluchtweg gekennzeichnete Tür, nach der sie Ausschau gehalten hatte. Sie riss die Brandschutztür auf und erklomm die ersten Stufen in Richtung Freiheit. Hinter ihr polterte der Pavian. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend zog sie sich am Geländer empor.

Die Flucht wurde jäh beendet, denn die Tür über ihr wurde aufgestoßen und in dem Moment, als sie in die hässliche Visage starrte, wurde ihr erneut der Boden unter den Füßen weggezogen. Das war das Pockenface. Der Typ aus dem Flieger, der sie mit seiner widerlichen Art gemustert hatte, als wäre sie eine appetitanregende Auslage eines Delikatessengeschäfts. Langsam setzten sich die Puzzleteile zusammen. Hilflosigkeit war etwas, das sie nicht ertrug. Es gab immer einen Ausweg, auch wenn alle Zeichen ungünstig standen, und obwohl sie wie ein Kaninchen in der Falle saß, wollte sie nicht aufgeben. Bevor er sie ergreifen konnte, trat sie ihm mit voller Wucht zwischen die Beine. Er sackte vornüber und schrie vor Schmerzen. Noch bevor sie sich an dem zusammengekauerten Mann vorbeidrücken konnte, hatte der andere sie um die Taille gepackt und drehte ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken. Der Schweißgeruch, der von ihm aufstieg, ließ sie würgen. Gut, dann müsste sie halt warten, bis sich eine andere Gelegenheit bot, dachte sie und biss die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er zwang Ella die Stufen wieder hinab und ging nicht zimperlich mit ihr um. Er ließ sie spüren, wie wütend er auf sie war, indem er grober mit ihr umsprang, als es notwendig gewesen wäre.

„Ich hätte nicht übel Lust, dir den Arm zu brechen, mein Täubchen, aber leider stehst du unter Schutz und darfst nicht beschädigt werden. Treib es nur nicht zu weit, sonst kann ich mich irgendwann nicht mehr zurückhalten.“

Er bog ihr den Kopf in den Nacken und leckte ihr über die Wange, dann stieß er sie weiter vorwärts. Wenn sich die Möglichkeit geboten hätte, hätte sie ihm ins Gesicht gespuckt.

„Weiter Schätzchen, du willst dich doch frisch machen.“

Wenn hier jemand eine Dusche benötigte, dann er, aber das konnte sie ihm unmöglich sagen, vermutlich brächte sie ihn auf dumme Gedanken. Sie fragte sich, warum so ein intelligenter Mann wie Sauer einen solchen primitiven Pavian beschäftigte. Vermutlich fühlte er sich in dessen Gegenwart überlegen und sicherer, kam es ihr in den Sinn. Der Spaziergang endete in einem Badezimmer, das den Charme einer Jugendherberge verströmte. Zumindest hatten die Duschen Vorhänge.

„Ausziehen! Runter mit den Klamotten, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Sein anzügliches Grinsen machte sie noch wütender.

„Sie können mich mal, gar nichts werde ich machen!“ Er glaubte doch nicht im Ernst, dass sie sich vor ihm entkleidete wie bei einer persönlichen Peep-Show. Ella sah, wie sich seine Ader über der rechten Augenbraue vergrößerte und seine Gesichtsfarbe von Weiß auf Rot wechselte.

Gefährlich leise fuhr er sie an. „Ich würde dich gern mal, aber der anschließende Ärger wäre größer als das Vergnügen. Und sei froh, wenn ich nicht über die Verbote hinwegsehe und es mir doch noch anders überlege.“

Mit seiner Zunge machte er eindeutige Bewegungen, dann schob er Ella unter die Dusche. Sekunden später prasselte Wasser auf sie nieder. Sein hässliches Lachen hallte von den Fliesenwänden wider. Wie hatte er das gemacht? Verdattert sah sie auf die Wand und suchte die Armaturen. Scheinbar war es doch keine Jugendherberge, sondern ein fernbedienbares Waschhaus. Genauso unvorbereitet, wie das Wasser angestellt wurde, verebbte der warme Schauer wieder.

„Na, willst du dich jetzt endlich ausziehen und duschen? Wenn du willst, helfe ich dir dabei.“ Er grinste breit und fand offensichtlich Gefallen daran, sie zu provozieren.

Das Unbehagen, das sie in seiner Nähe verspürte, breitete sich wie eine eisige Decke über ihr aus. Sie hatte keine andere Wahl. Auf keinen Fall wollte sie von diesem Typen entkleidet werden. Der Kittel klebte sowieso schon wie eine durchsichtige Gardine an ihrer Haut. Schnell schloss sie den Duschvorhang, woraufhin er das Wasser wieder anstellte. Nachdem sie sich des feuchten Lappens entledigt hatte, ließ sie das warme Wasser auf ihren nackten Körper prasseln und versuchte, ihr Zittern unter Kontrolle zu bringen. In ihren Schläfen begann es unangenehm zu pochen, eine Reaktion auf die Panik, die diese Situation bei ihr auslöste. Kampflos aufgeben kam nicht in Frage. Sie rieb sich die geröteten Handgelenke. Es gab immer einen Ausweg und sie würde ihn finden, es brauchte lediglich einen guten Plan. In der Schule schon hatte man sie für ihre Kreativität bewundert. Gut, sie war alles andere als ein weiblicher MacGyver, aber bei einem Versuch sollte es nicht bleiben. So schnell gab sie nicht klein bei. Sie benötigte etwas Zeit, damit sie sich besser im Gebäude zurechtfinden und dann im richtigen Augenblick fliehen konnte. Sie hoffte nur, dass es bis dahin nicht zu spät wäre.

Ein kläglicher Plan.

Mechanisch schäumte sie sich mit Duschgel ein und ging dazu über, sich die Haare zu waschen. Als sie fertig war, verlangte sie ein Handtuch. Hinter dem Vorhang wartete sie darauf, dass er es ihr reichte. Zusätzlich erhielt sie einen trockenen Bademantel, den sie sich schnell überzog.

„Kann ich auf die Toilette gehen?“ Sie musste sich zurückhalten, ihm nicht die Augen auszukratzen.

„Klar, Schätzchen.“ Er nickte nach rechts.

Sie ging in diese Richtung, seinen widerlichen Blick spürte sie im Rücken. Sie sah sich auf der Toilette um, auch hier keine Fluchtmöglichkeit. „Verdammter Mist.“ Sie müsste also weiter abwarten. Als sie herauskam, überbrachte der Pavian schon die nächste Botschaft. „Marie wird dich jetzt übernehmen und für das Treffen fertig machen.“ Die eindeutigen Stoßbewegungen seines Beckens toppten sein anzügliches Grinsen.

„Das kann ich allein.“ Das ging zu weit.

„Sweetheart, das kann schon sein, aber wir wollen doch, dass alles perfekt für dein Date ist. Das Risiko, dass du absichtlich zur Vogelscheuche mutierst, wird mein Boss nicht eingehen.“

Er wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel des Pullovers von der Stirn. Wie auf ein Zeichen ging die Tür auf und eine robust gebaute Frau betrat den Raum. Sie erinnerte an eine Altenpflegerin. Sie trug eine weiße Hose, T-Shirt und Gesundheitsschuhe. Der Kurzhaarschnitt wirkte pflegeleicht. Freundliche Augen ließen die Frau um einiges jünger erscheinen, als sie wahrscheinlich war. Ella wollte sie unsympathisch finden, denn immerhin arbeitete sie für diese Irren.

„Hallo, ich bin Marie.“

Was sollte das entwaffnende Lächeln? Sollte sie die Rolle einer Vertrauensperson spielen? Ella war total erschöpft. Sie versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie in Marie niemals etwas anderes sehen könnte als einen Feind. Um sich nicht noch mehr emotional und körperlich zu entkräften, folgte sie der Frau nach Aufforderung, ohne Schwierigkeiten zu bereiten. Der angrenzende Raum, der von hellen Grüntönen dominiert wurde, erinnerte Ella an einen Operationssaal eines Krankenhauses. Die spartanische Einrichtung bestand aus einer Frisierkommode, einem Stuhl und einem Kleiderhaken. Auch hier kein Fenster. Marie reichte ihr Reizwäsche und ein rotes, figurbetonendes Kleid. Erneut erwachte ihr Kampfgeist.

„Das soll doch wohl ein Scherz sein?“ Schamesröte trat ihr ins Gesicht. „Sie wollen nicht im Ernst, dass ich das hier anziehe?“

„Ich bin nicht dafür verantwortlich.“ Marie legte die Wäsche auf die Kommode und sah sie bedauernd an. „Es gibt allerdings auch eine Alternative, ich weiß aber nicht, ob Ihnen das besser gefällt.“

„Die da wäre?“

Marie neigte den Kopf und lächelte. „Gehen Sie nackt.“

Das waren ja tolle Aussichten. Widerwillig griff sie nach den schwarzen Spitzenstrümpfen und zog sie über. Die Reizwäsche bändigte kaum ihre üppige Oberweite, was wohl so gewollt war. Nicht gewohnt, derartige Wäsche anzuziehen, fühlte sie sich wie ein Flittchen. Das Kleid saß wie eine zweite Haut, die hohen Pumps komplettierten das Outfit einer Professionellen. Marie baute ihr eine Hochsteckfrisur, von Spangen gehalten, die mit roten Strasssteinen besetzt waren. Als sie ihr Spiegelbild betrachtete, war es das erste Mal, dass sie ihr gutes Aussehen hasste.

 

Endlich war Marie fertig und sagte aufmunternd: „Sie sind wunderschön.“

Das mochte stimmen, aber es war nicht ihr Stil. So gut aussehend wurde selten jemand zum Schafott geführt. Jetzt war es gleich so weit, dann durfte sie zum Essen mit dem Zuchthengst. Wenn sie bis vor kurzem noch Hunger verspürt hatte, so war er ihr soeben abhandengekommen. Als sie an diesen Unbekannten dachte, wurde Ella mulmig. Ob er wohl auch gezwungen wurde, diese Scharade mitzuspielen? Wenn ja, wie wollten sie ihn dazu bringen? Man konnte doch schließlich einen Gefangenen nicht ohne Weiteres dazu bewegen, sich mit einer Fremden zu paaren. Vermutlich bekam er unter Stress nicht mal einen hoch.

Sie stellte sich gerade diese Situation vor, als ein Mann wie ein Baum sie in Empfang nahm, um sie zum Treffen zu geleiten. Sie spürte, wie ihr Tränen der Machtlosigkeit in die Augen traten. Der Typ sah wie der Zwillingsbruder des Pavians aus. Seine Glatze wirkte poliert und der Oberkörper durch Muskelaufbaupräparate künstlich aufgepumpt. Er brauchte nichts zu sagen, seine Blicke sprachen Bände. Mit zittrigen Knien stand Ella auf und ging zu ihm rüber. Als sie ins Straucheln geriet, packte er sie und verhinderte, dass sie unsanft zu Boden ging. Sie verkniff sich ein Danke. Höflichkeitsfloskeln schienen ihr momentan unangebracht.

Als sie am Ende des Ganges in einen Fahrstuhl stiegen, stellte sie anhand der Anzeige fest, dass sie sich im Keller des Gebäudes befanden. Unendlich langsam fuhren sie Stockwerk um Stockwerk hinauf. Während der Fahrt nach oben gab es keinen Zwischenstopp und somit keine weitere Möglichkeit für einen erneuten Fluchtversuch. Der Typ musterte sie unverschämt. Seine lüsternen Gedanken waren offensichtlich. Auch da schien er sich vom anderen Idioten nicht zu unterscheiden. Als sich die Tür im zehnten Stock öffnete, war ihr fast schon egal, was dahinter auf sie wartete. Hauptsache, sie war nicht mehr mit diesem Kerl allein.

Ohne einen Flur zu durchqueren, gelangten sie in einen kleinen restaurantähnlichen Raum. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich in diesem Zimmer nur ein einziger Tisch befand. Zugezogene Vorhänge aus schweren Stoffen ließen erahnen, was sich dahinter verbergen könnte. Entweder gab es dort Fenster und somit einen Weg in die Freiheit oder dort wartete das Bett, in dem die Paarung stattfinden sollte. Am liebsten wäre sie losgehechtet und hätte die Schals heruntergerissen um sich zu vergewissern. Es war fast so, als würden die Vorhänge den Raum mit ihrer Schwere erdrücken und jegliche Luft daraus verbannen. Wenn dahinter Fenster verborgen lagen, dann musste sie sich mit aller Vernunft und Kraft dazu zwingen, nicht aufzuspringen, um diese zu öffnen. Dieser Sauer sollte nichts von ihrer Panik mitbekommen.

Kerzenschein und romantische Musik sollten wohl für eine angenehme Paarungs-Atmosphäre sorgen, verliehen dieser übertrieben kitschigen Einrichtung allerdings nur einen muffig angestaubten Charakter, der ziemlich genau zu dem Eindruck passte, den sie von Sauer hatte. Gut konnte sie sich vorstellen, dass er für diese Geschmacklosigkeit verantwortlich war. Was sollte das hier alles? Wozu machte er sich die Mühe, dass sie den Typen bei einem gemütlichen Essen kennenlernen sollte? Entweder hatte er eine perverse Neigung und weidete sich an ihrem Unbehagen, oder er glaubte wirklich, dass es ihre Entscheidung positiv beeinflussen könnte. Vielleicht besänftigte er sein schlechtes Gewissen damit und bildete sich ein, dass er ihnen einen Gefallen tat. Ella war zum Heulen zumute, und sie hatte Angst, dass ein weiterer Pavian ihr Zuchthengst sein könnte.

Plötzlich, wie aus dem Nichts, stand er vor ihr. Sein markantes Gesicht und die Augen waren ihr vertraut. Sie erinnerte sich an vergangene Nächte und die damit verbundenen Albträume. Schweißüberströmt war sie daraus erwacht. Sie war mit ihm Hand in Hand durch die Nacht gerannt. Es war nicht das erste Mal gewesen. Dieser Traum hatte sie bereits einige Nächte in Atem gehalten. Ihm jetzt gegenüberzustehen hatte etwas Groteskes, und am liebsten hätte sie geschrien. Wieder einmal war einer ihrer Träume Realität geworden.

Er setzte sich ihr gegenüber und fixierte sie mit seinen faszinierenden Augen, was ihre Haut zum Prickeln brachte. Offensichtlich war er in eine Schlägerei verwickelt gewesen, denn über seinem Auge verheilte eine kleine Platzwunde und das Auge darunter schimmerte in verblassendem Grün. Seine rechte Hand steckte in einem Verband. Wenn sie eins und eins zusammenzählte, hatte er sich seinem Schicksal auch nicht freiwillig ergeben. Wenigstens war er kein Weichei. Ob das für ihre Pläne, von hier zu verschwinden, gut oder schlecht war, würde sich erst noch herausstellen müssen. Einerseits war es schlecht, weil er sich sicher nicht von ihr einschüchtern ließ und sie ihn wohl nicht problemlos für ihre Pläne gewinnen könnte. Andererseits könnte er zuschlagen, wenn es hart auf hart käme und er Widersacher aus dem Verkehr ziehen müsste. Sie hoffte, er wäre für ihre Überredungskünste empfänglich und nicht auch emotional verroht.

Er war ihrem Blick gefolgt und lächelte sie gequält an. Ella hoffte darauf, dass sie ihn noch nicht gebrochen hatten und er auch weiterhin für seine Freiheit kämpfen würde. Denn so konnte sie auf einen Verbündeten hoffen. War es das, was der Traum bedeutete? Dass sie in all der Dunkelheit einen Freund hatte, der genau wie sie aus diesem Irrenhaus ausbrechen wollte und bereit war, mit ihr das Risiko einer Flucht zu teilen?

Was aber, wenn er gar nicht daran dachte zu fliehen, weil ihm der Gedanke, mit ihr zu schlafen, nicht unangenehm war? Sie versuchte, daran zu denken, was man mit ihnen vorhatte. Konzentriere dich auf die Flucht, alles andere ist irrelevant, rief sie sich zur Ordnung, denn wenn sie ihn als weiteren Feind ansah, müsste sie auch noch gegen ihn ankämpfen. Okay, sie würde ihren Sparringspartner erst näher betrachten. Vielleicht sollte sie das Spiel vorerst mitspielen, bis sich eine günstigere Gelegenheit bot. Könnte sie sich wirklich von ihm verführen lassen? Der Mann war heiß, eigentlich sollte es ihr nicht schwerfallen, denn er war optisch genau ihr Typ. Ihr Gehirn sandte diesbezüglich eindeutige Signale in ihren Körper.

„John“, stellte er sich vor. „Bedauerlich, dass es nicht erfreulichere Umstände sind, unter denen wir uns kennenlernen dürfen.“ Seine raue, tiefe Stimme richtete ihre Härchen auf und schickte heiße Flammen bis in ihr Zentrum.

Dass er sie seinerseits unverhohlen musterte, entging ihr nicht. Ella hätte ihm am liebsten deutlich zu verstehen gegeben, dass sie an Sex mit ihm nicht interessiert war. Aber erstens wäre es gelogen und zweitens würde sie ihre Chancen, ihn auf ihre Seite zu ziehen, gleich verspielen. Allerdings könnte ein wenig Sarkasmus nicht schaden, er müsste ja nicht gleich mitbekommen, dass sie ihn attraktiv fand.

„Ella“, sie sah ihn provozierend an. Sein sexy Aussehen machte es ihr schwer, ihn nicht anzustarren. „Und? Gefällt dir, was du siehst? Schließlich will ich mich nicht umsonst für unser Rendezvous aufgebrezelt haben“, sagte sie leicht gereizt.

„Wer hat behauptet, dass es ein Date ist?“, konterte er und tat desinteressiert.

Ihr Herz klopfte wild. Könnte er nicht wenigstens so tun, als fände er sie anziehend? Nur mit Mühe gelang es ihr, die Serviette auseinanderzufalten und über die Beine zu legen.

„Schön, dann haben wir das geklärt“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sie glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Er hatte die Frechheit, sie mit einem amüsierten Blick zu mustern. Wenn er glaubte, das hier war eine einfache Nummer, hatte er sich gewaltig getäuscht. Wenn sie ihr Bauchgefühl, niemandem zu vertrauen, in den Wind schoss, nur weil sie ihn attraktiv fand, war sie nicht nur naiv, sondern eine komplette Idiotin. Außerdem konnte er sich noch als komplettes Arschloch entpuppen.

Sein Gesicht wurde plötzlich ernster und er sah sie prüfend an. Und wie aus heiterem Himmel tat er genau das Gegenteil von dem, was sie von ihm erwartet hätte. Er zeigte Mitgefühl und war alles andere als ein ungehobelter Klotz.

„Wir wollen das hier beide nicht. Ich fühle mich genauso unwohl wie du. Ich wollte nur, dass du das weißt. Aber bevor wir so tun, als würden wir dieses arrangierte Mahl genießen, möchte ich wissen, ob sie dir wehgetan haben?“

Es war eine Achterbahn der Gefühle. Eben noch wollte sie ihm den Rest des Abends distanziert zu verstehen geben, dass er sie kalt ließ und nun fühlte sie sich ihm so vertraut, dass sie versucht war, ihm ihr Herz auszuschütten. Bevor sie antworten konnte, nahm sie einen großen Schluck Rotwein. „Nein, ich war betäubt.“

„Das ist gut. Wenn sie dich geschlagen hätten, dann hätte ich nur noch einen weiteren Grund, mit diesen Schweinen irgendwann abzurechnen.“

Sie war immer noch unsicher, was sie von ihm halten sollte und so verdammt wütend, weil man sie einfach aus ihrem Leben gerissen hatte.

„Gar nichts ist gut“, entfuhr es ihr viel zu laut und schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte. Sie war kurz davor, die Nerven zu verlieren. Wie konnte er nur so ruhig mit ihr hier sitzen und so tun, als wäre alles okay, als hätten sie eine freiwillige Verabredung und nicht eine Zwangsverkupplung vor sich?

Sein Blick war stechend und durchdringend und sie kam nicht umhin, sich für einen Moment unwohl zu fühlen. Es dauerte Sekunden, da stand der Pavian hinter ihr und fragte, ob es ein Problem gäbe. John beschwichtigte und der Typ zog sich unwillig auf seinen Posten neben dem Aufzug zurück. Leicht beugte er sich über den Tisch und funkelte sie an.

„Hör zu Ella, wenn du jetzt ausflippst, weiß ich nicht, wie und wo wir uns wiederfinden. Tu uns einen Gefallen: Iss und warte ab.“

Er prostete ihr zu und lächelte verkrampft, als bereitete es ihm Schmerzen, und vermutlich war es auch so, denn wenn sein Gesicht und seine Hand schon derartige Spuren aufwiesen, war sein restlicher Körper sicher auch nicht ohne Blessuren davongekommen. Es sei denn, es gehörte alles zu einem abgekarteten Spiel. Vielleicht wollten sie sie nur glauben machen, dass er nicht freiwillig hier war.

Wenn sie aber wirklich im gleichen Boot saßen und in entgegengesetzte Richtungen ruderten, kamen sie nicht vom Fleck. Falls sie ihm weiterhin misstraute, so wie sie es normalerweise getan hätte, dann war ihre Chance, hier rauszukommen, sicher gleich null. Sie konnte ihre Situation eigentlich ganz gut einschätzen. Hatte ihr Traum nicht genau diese Bedeutung? Darin hatte sie ihm die Hand gereicht. Ihr Bauchgefühl sagte, sie solle es versuchen. Langsam nahm sie das Glas, führte es erneut an die Lippen und nippte daran. Ein mulmiges Gefühl blieb. Was, wenn Sauer ihnen irgendetwas ins Essen gemischt hatte …? Sie verwarf den Gedanken, denn wenn Sauer vorhatte, sie unter Drogen zu setzen, hätte er ihr auch einfach eine Injektion setzen können.

„Okay, ich versuche mich zusammenzureißen.“ Es kam ihr vor, als nickte er erleichtert. Nun war sie etwas beruhigter, denn er war mit seiner ihm zugedachten Rolle genauso wenig einverstanden, und das erleichterte sie so sehr, dass sie das Gefühl hatte, ihr wäre ein Stein vom Herzen gefallen. Sie hatte nur zwei Möglichkeiten, und die Option, ihm Vertrauen zu schenken, schien ihr momentan am richtigsten. Sie konnte jede Hilfe gegen diesen überlegenen Feind gebrauchen.

Er hielt ihr den Brotkorb entgegen. Jetzt erlaubte sie sich endlich, ihr Gegenüber zu mustern. Er war eine klassische Schönheit und besaß das gewisse Etwas, das eine Frau dazu brachte, sich nach ihm umzudrehen, um einen weiteren Blick zu riskieren. Besonders hatten es ihr seine fast schon unnatürlich blau wirkenden Augen angetan. Die Iris hatte eine derartige Farbintensität, wie sie sonst nur Kontaktlinsen zaubern konnten. Sein volles dunkelbraunes Haar trug er etwas länger. Sobald er sich nach vorn beugte, fiel es ihm leicht ins Gesicht. Der Dreitagebart wirkte beabsichtigt und verlieh seiner Erscheinung etwas Verwegenes. Körperhaltung und Gesichtszüge strahlten Entschlossenheit aus, er war kein gebrochener Mann. Und sie war sicher, dass er trotz der vielen bereits verblassten Kampfspuren nicht unüberlegt handelte. Vermutlich war er ihr in dieser Beziehung überlegen. Nun musste sie schmunzeln. Verdammt, sie wollte ihm vertrauen. Wenn sie sich auf diesen Mann und seine unbeschreibliche Anziehungskraft einließ, war sie vermutlich schneller verloren, als sie es gedacht hatte. Okay, sie würde aufmerksam und vorsichtig sein. Auch wenn sie gerade entschieden hatte, John zu vertrauen, so hieß es doch nicht, blind hinter ihm herzutrotten. Auf einen Versuch wollte sie es ankommen lassen, und falls sich herausstellen sollte, dass sie sich wirklich getäuscht hatte, würde sie einen anderen Ausweg finden. Auch wenn sich ihr dieser gerade nicht erschloss.

 

Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es nun an ihr lag, die Konversation in Gang zu bringen. „Tut es noch weh?“

Verwirrt sah er vom Teller auf. Schaute auf seine verbundene Hand und machte eine wegwischende Geste. „Nein, halb so schlimm. Aber normalerweise brauche ich meine Fäuste nicht, um mich zu verteidigen.“

„Soso, und was tust du stattdessen? Starrst du die Gegner zu Boden?“ Das war Ella versehentlich rausgerutscht. Und im gleichen Moment durchzuckte sie diese Erkenntnis heiß. Seine Augen waren daran schuld. Noch immer blickte er sie mit dieser unheimlichen Intensität an, als wollte er sie durchbohren.

„So ähnlich.“ Er lächelte auf eine Art und Weise, die sie nicht zu deuten wusste. „Aber dank der Beruhigungsmittel scheidet das zurzeit aus.“

„Du meinst … sie geben dir etwas ins Essen?“

„Nein, sie spritzen mir ein Sedativum, das nur meine Fähigkeiten blockiert. Sie haben Angst vor mir.“

Ella beobachtete, wie sich seine Hand viel zu fest um das Glas schloss, das unter der Kraft plötzlich nachgab und in Scherben zerbarst. Der rote Wein ergoss sich wie Blut über seine Finger und verteilte sich auf dem Tischtuch. Schnell nahm sie die Serviette vom Schoß und hielt sie ihm entgegen. Ihr war Johns Blick nicht entgangen, als sie unbemerkt eine der Scherben darin einwickelte. Für sie gab es keine Möglichkeit, diese in ein sicheres Versteck gleiten zu lassen, und viel zu schnell war der Pavian am Tisch. Er hatte jede ihrer Bewegungen beobachtet. Er umschloss ihre Hand und entwand ihr vorsichtig die Serviette nebst Inhalt.

„Netter Versuch, Schätzchen. Mach das noch einmal, und ich bin gespannt, welche fiesen Bestrafungen der Chef für dich bereithält. Vielleicht darf ich ja dann persönlich Hand anlegen.“ Der Pavian legte jede der Scherben wie ein Puzzle auf ein Tablett.

Als sie an seine Drohung dachte, wurde ihr mulmig. Alleine der Gedanke, er könnte seine widerlichen fleischigen Hände auf ihr verewigen, schickte ihr einen Schauer über die Haut. Sie suchte in Johns Augen Halt und Hilfe. Doch in diesen spiegelte sich lediglich blanker Hass und unterdrückte Wut. Ob er seine Selbstbeherrschung gleich vollends verlor? Mit seiner sauberen Serviette wischte John sich den Wein von der Haut. Sie musste sich irgendwie ablenken und starrte auf Johns Hände. Schöne gepflegte Fingernägel und schlanke lange Finger, stellte sie fest. Soweit sie es beurteilen konnte, waren diese Hände keine harte körperliche Arbeit gewohnt. Und da war er, der Gedanke, der so abwegig war, dass es fast lächerlich schien: Wie es wohl wäre, wenn er sie damit streichelte.

„Ella, alles okay?“, fragte er sie, und riss sie aus ihren Gedanken.

„Äh, ja … mir geht’s gut. Alles okay. Alles ganz toll.“ Oh Mann, lass ihn nicht so eine Gabe wie Gedankenlesen besitzen, betete sie vor sich hin. Sie wollte nun endlich wissen, ob und welche Fähigkeit er besaß. Ella hatte den Verdacht, vergeblich darauf zu warten, dass er sein Geheimnis ungefragt offenbaren würde. Außerdem musste sie diesen peinlichen Moment vertreiben. „Welche besondere Fähigkeit hast du denn?“

Erneut beugte er sich ihr ein wenig entgegen, sodass sie glaubte, in seinen Augen kleine goldene Sprenkel erkennen zu können. „Ist das alles, was du wissen willst?“

Versuchte er etwa, mit ihr zu flirten? Ella zwang sich, nicht laut aufzulachen. Das war jetzt nicht sein Ernst. Sie versuchte hier irgendwie ein vernünftiges Gespräch zu führen, um diese bescheuerte Situation einigermaßen erträglich hinter sich zu bringen, und er baggerte sie an? Der hatte vielleicht Nerven. Na warte, was du kannst, kann ich schon lange. „Nein, natürlich nicht.“ Sie leckte sich lasziv über die Lippen und sah ihn mit einem verführerischen Blick an. „Natürlich will ich wissen, was du alles kannst. Schließlich will ich nicht mit einem Loser, du weißt schon.“

Er lachte auf, dann antwortete er mit einem Zwinkern: „Hypnose“.

Irritiert wich sie ein wenig zurück. Wollte er sie auf den Arm nehmen? Hypnotiseure? Gab es die nicht an jeder Straßenecke? Warum sollten die ihn deshalb in das Zuchtprogramm aufnehmen? Irgendwie glaubte sie nicht daran, dass er ihr die ganze Wahrheit erzählte. Andererseits, warum sollte er sie belügen? Was hatte sie Besonderes vorzuweisen? Ein paar lächerliche Träume, und damit konnte sie rein gar nichts gegen Sauer ausrichten. Ella griff nach der nächsten Weinbergschnecke und wünschte sich stattdessen ein saftiges Steak.

„Die Schnecken sind gut. Dir schmecken sie wohl nicht sonderlich?“ John steckte sich bereits eine weitere in den Mund. „Oder hat dir meine Offenbarung den Appetit verdorben?“

„Dass du auf Schnecken stehst, ist beruhigend. Meist sind die hübschen Männer schwul.“ Sie lächelte süffisant. „Hypnose ist ja eher unspektakulär, so etwas verdirbt mir nicht den Appetit.“

„Einige Schnecken nehmen den Mund besonders voll. Sind überaus reizend und pfeffrig. Ich mag es scharf und ich liebe das Außergewöhnliche, allerdings gehört schwul sein nicht dazu.“

„Achtung, einige sind ungenießbar und sogar extrem giftig“, konterte sie. Dass es zwischen ihnen knisterte, während sie sich diesen kleinen Schlagabtausch lieferten, konnte sie nicht von der Hand weisen. Er war amüsant und nicht auf den Mund gefallen. Und wenn er sie so ansah, brachte er sie mehr als nur aus der Fassung. Sie war nun wirklich neugierig auf mehr. Ella stand nicht auf Langweiler. John schien ihr ebenbürtig zu sein.

Amüsiert zog er eine Braue in die Höhe und sah sie provozierend an. Sie wusste nicht recht, wie sie ihn einschätzen sollte. War es Galgenhumor, der ihm derartige Äußerungen entlockte? Wieder trafen sich ihre Blicke, und obwohl sie ihn eigentlich weiterhin necken wollte, verflog dieses Gefühl in demselben Moment, in dem sie in seine Augen eintauchte. An einem seiner Mundwinkel hatte Weißweinsoße eine Spur hinterlassen, und als ihr Blick kurz daran verharrte und dann weiter über seine geschwungenen Lippen wanderte, musste sie schlucken. Beim Anblick seines Mundes blieb Ella die Spucke weg. Egal, was er für eine Nummer abzog, sie beschloss, auf alles gefasst zu sein und es ihm nicht zu leicht zu machen. Endlich hatte Ella ihre Fassung wiedererlangt.

„Und? Hypnotisierst du mich jetzt?“, fragte sie plötzlich.

„Möchtest du das?“ Er kräuselte die Lippen und nahm noch einen Schluck aus dem neuen Glas, das frisch gefüllt vor ihm stand.

„Nein danke, ich brauche keinen Therapeuten. Ich rauche nicht und mit meinem Gewicht ist auch alles in Ordnung. Du siehst, deine Fähigkeiten werden nicht benötigt.“ Irgendwie bereitete ihr der Gedanke, er könnte sie so gefügig machen, Unwohlsein.

„Konnte ich mir auch nicht vorstellen. Ich schätze dich eher so ein, dass du jeden Augenblick mit mir genießen willst. Aber bitte korrigiere mich, wenn ich da falsch liegen sollte.“

Frechheit. Wie konnte er nur? „Wendest du deine Gabe bereits bei dir selbst an, oder wie kommt es zu dieser eindeutigen Selbstüberschätzung? Schade, ich hoffe du bist nicht enttäuscht, dass ich dir nicht gleich die Klamotten vom Leib reiße.“

„Warum sollte ich enttäuscht sein? Ich genieße auch angezogen jeden Moment in deiner Nähe.“

Irgendwie musste sie das Gespräch wieder in eine andere Richtung lenken. Das war ja kaum noch an Dreistigkeit zu überbieten. Und es fehlten ihr langsam die Worte. Während sie vor sich hin grübelte, trat der Kellner an den Tisch und räumte die leeren Teller ab.