Die NATO

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Aufbau des Buches

Um die NATO als Akteur der Weltsicherheitspolitik einerseits und Regierungsorganisation mit ihren komplexen politischen Prozessen andererseits zu verstehen, wird dieses Buch separat die verschiedenen Funktionen und Eigenschaften der NATO herausarbeiten, um Komplexität zu reduzieren, aber gleichzeitig ein umfassendes Bild der Atlantischen Allianz zu vermitteln. Während Forschungsliteratur notwendigerweise meist eine bestimmte Perspektive einnimmt, sollen in diesem Lehrbuch Wege in verschiedene Theorien und Zugänge sowie ihre Erklärungen und Interpretationen aufgezeigt werden. In Anbetracht ihres beträchtlichen Alters und vielfältigen Wirkens gibt es kaum einen Ansatz, der nicht auf die Atlantische Allianz angewendet wurde – von vorherrschenden realistischen (Kap. 3) und institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tischen Interpretationen (Kap. 2) über die English School (Buzan und Gonzalez-Pelaez 2005), den Feminismus (Hardt und von Hlatky 2020; Ruohonen 2014) oder den KonstruktivismusKonstruktivismus (Kap. 6). Vor diesem Hintergrund kann dieses Buch nur ein Einstieg sein und nicht allen Strömungen gerecht werden, aber fünf Zugänge sollen helfen, einen ersten, aber dennoch umfänglichen Überblick über die Allianz zu bekommen:

 ein institutioneller Ansatz, der Basisdaten vermittelt und institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierte politische Prozesse seit 1949 diskutiert (Kap. 2 und teilweise Kap. 5);

 eine Befassung mit kollektiver Verteidigungkollektive Verteidigung während und nach dem Kalten Krieg, die neorealistische und institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tische Theorie diskutiert (Kap. 3, 4);

 eine Darstellung zweier Arenen kollektiver Sicherheitkollektive Sicherheitspolitiken der NATO außerhalb des Bündnisgebiets und mit verschiedenen Partnern (Kap. 5);

 ein konstruktivistischKonstruktivismuser, identitäIdentitättsbezogener Zugang, in dem die NATO als kulturellKultures Bündnis liberalLiberalismuser Staaten westlicher Prägung diskutiert wird (Kap. 6); sowie

 ein (il)liberalLiberalismuser Zugang, der sich auch der PopulismusPopulismusliteratur bedient, um die aktuellen Probleme der Allianz zu analysieren.

Diese fünf Zugänge sollen theoretischen Pluralismus vorleben und verschiedene Interpretationswerkzeuge an die Hand geben, um Entwicklungen in alliierten Verteidigungspolitiken differenziert beurteilen zu können. Die Kapitel führen dabei zunächst in Theorien ein, die als Rahmung für empirische Entwicklungen in der Allianz dienen. Bei Bedarf werden spezifische politische Krisen oder Konzepte in Exkursen dargestellt, um den Lesefluss zu erleichtern. Schlussbetrachtungen fassen die theoretischen und empirischen Ergebnisse zusammen. Um Anregungen für die weitere Bearbeitung im Vorlesungs-, Seminar- und Hausarbeitskontext zu geben, schließen die Kapitel mit einer Auswahl von Diskussionsfragen und Vorschlägen für weiterführende Literatur.

2 Die Allianz als Institution: Strukturen, Geld und Macht

Die NATOMacht ist eine Organisation mit einer gewachsenen Struktur und einer beträchtlichen Anzahl von Mitarbeiter*innen. Dadurch ist sie in ihrem InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierungsgrad als Militärallianz einzigartig in der Welt. Bevor wir uns ein Verständnis über das Handeln der NATO (policies) erarbeiten können, müssen zunächst institutionelle (polity) und Verfahrensgrundlagen (politics) erörtert werden, auf Basis derer die NATO funktioniert. Dazu werden in diesem Kapitel sechs verschiedene Sach- und Problembereiche angesprochen. Abschnitt 2.1 führt zunächst in den NeoliberalLiberalismusen InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus ein, der es uns erlaubt, ein grundlegendes Verständnis über das Funktionieren einer internationalen Institution zu erzielen. In den Folgekapiteln wird dieses Wissen ebenfalls genutzt, um Entwicklungen, z. B. die von kollektiver Verteidigungkollektive Verteidigung zu kollektiver Sicherheitkollektive Sicherheit, einordnen zu können. Abschnitt 2.2 beschäftigt sich mit der Gründung der NATO und dem Vertragswerk, bevor die verschiedenen Erweiterungen der Allianz thematisiert werden. Abschnitt 2.3 wirft einen Blick auf die politischen und militärischen NATO-Strukturen. Abschnitt 2.4 erklärt den Unterschied zwischen nationalen und alliierten KapazitätenKapazitäten (militärische). Die NATO-BudgetNATO-Budget(s)s und weitere Finanzfragen werden im Abschnitt 2.5 besprochen. Abschnitt 2.6 schließt mit Betrachtungen zur hegemonialen Rolle der USA im Bündnis.

2.1 Institutionalismus und Sicherheit

DerInstitutionalismus (Neoliberaler) (NeoliberalLiberalismuse) InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus ist eine der Basistheorien der Internationalen Beziehungen, die zur Erklärung von Kooperation zwischen Staaten herangezogen wird. Er wurde maßgeblich von den US-amerikanischen Politikwissenschaftler*innen Robert O. Keohane und Joseph S. Nye (Keohane 1984, 1989; Keohane und Nye 2012) sowie Celeste Wallander (Wallander 2000, 1999) beeinflusst. Im deutschsprachigen Raum gelten Helga Haftendorn und Otto Keck (Haftendorn und Keck 1997; Haftendorn et al. 1999) sowie Helmut Breitmeier (Breitmeier et al. 2006), Bernhard Zangl (Rittberger et al. 2019) oder Michael Zürn (2018) als prominente Vertreter*innen. Nach allgemeiner Auffassung sind internationale Institutionen, um die es mit der NATO in diesem Buch geht, „dauerhafte und verbundene Regelwerke, häufig mit Organisationen einhergehend, die über internationale Grenzen hinweg agieren“ (Wallander et al. 1999, 1f.). Nach diesem Verständnis zählen zu Institutionen sowohl internationale Organisationen wie die UN oder die EU als auch Regelwerke wie der AtomwaffenAtomwaffensperrvertrag (NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT)), die zum Ziel haben, politische Interaktion zwischen verschiedenen Akteuren (Staaten, internationale Organisationen u.v.a.m.) dauerhaft zu gestalten/beeinflussen.1 Institutionen wie der NPTAtomwaffensperrvertrag (NPT), die keine Organisationsstruktur haben, sondern nur aus Verträgen oder (impliziten/ expliziten) Absprachen und Verhaltensnormen bestehen, die ein spezifisches internationales Politikfeld (z. B. die Verbreitung von MassenvernichtungswaffenMassenvernichtungswaffenAtomwaffen) verregeln, werden als RegimeRegime(theorie) bezeichnet (Breitmeier et al. 2006, 3; Krasner 1982, 186). Organisationen als Subtyp von Institutionen sind tiefer in eigenen Strukturen und Politikprozessen verwurzelt und können ursprünglich staatliche Funktionen ausüben (z. B. EU). Die NATO ist mit ihren vielen Strukturen ebenfalls tief institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)iert, in ihrer Aufgabenwahrnehmung aber stark an Vorgaben der Mitglieder gebunden. Sie ist daher keine supranationalSupranationalismuse Organisation wie die EU, sondern eine internationale Organisation intergouvernementaler Prägung.

2.1.1 Basiskonzepte des Institutionalismus

Institutionalismus (Neoliberaler)Der InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus teilt die Basisannahme des NeorealisRealismus (Neo-)mus, dass Staaten die primären Akteure in der globalen Ordnung sind, die grundsätzlich anarchischAnarchie, anarchisch aufgebaut ist. Das heißt, dass es keine den Staaten übergeordnete Instanz gibt, die ein bestimmtes Staatshandeln erzwingen kann. Somit agieren Staaten stets unter Bedingungen der Unsicherheit – darüber, wie andere Staaten auf das eigene Handeln reagieren, ob Kooperationsvereinbarungen Folge geleistet wird bzw. Kooperation von Dauer ist (Mearsheimer 2001, 3; Wallander et al. 1999, 3; Waltz 1979, Kap. 6, 8). Im Gegensatz zur neorealistischen Denkschule gehen InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)t*innen jedoch davon aus, dass Kooperation verstetigt und die AnarchieAnarchie, anarchisch des internationalen Systems somit zwar nicht überwunden, aber bewältigt werden kann (mitigation logic). Dabei verändern sie zwei Grundannahmen realistischer Theorien: Zum einen ist für InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)t*innen MachtMacht keine relative Größe, sondern eine absolute. In Anlehnung an liberalLiberalismuse Wirtschaftstheorie (auch Vertragstheorie) streben Staaten nach institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tischer Auffassung daher nicht nach relativen Gewinnen (z. B. stärker als der Nachbarstaat zu sein), sondern bevorzugen absolute Gewinne – unabhängig davon, wie der Gewinn des Kooperationspartners aussieht (Wallander 1999, 20ff.). Kooperation kann also beständig sein, solange ein absoluter Gewinn entsteht. Diesen Annahmen liegt keine Gutgläubigkeit zugrunde, dass Staaten nur harmonisch miteinander interagierten oder nie ein Sicherheitsproblem bestünde. Vielmehr bauen sie auf der Einsicht auf, dass Staaten ein Interesse daran haben, das Sicherheitsproblem zu überwinden oder zumindest zu bearbeiten und dass dazu mehr als nur militärische Mittel genutzt werden können (Wallander et al. 1999, 3ff.).

Diese Beständigkeit von Kooperation kann durch verschiedene Wirkmechanismen erreicht werden. Der einfachste davon ist Informationsgewinn. Durch das Einrichten einer gemeinsamen Institution – z. B. eines Vertrags mit Konsultationsmechanismus – treffen Akteure zusammen und können so Informationen über Motivationen, Politiken etc. der anderen Seite erhalten. Unsicherheit wird so teilweise reduziert – teilweise, weil die Möglichkeit der Nichterfüllung der Kooperationsabsicht bestehen bleibt. Verschiedene andere Mechanismen sind jedoch in der Lage, auch dieses Problem des Betrugs oder der Untreue – in spieltheoretischer Sprache (game theorygame theorySpieltheorie) cheatingcheatingSpieltheorie genannt – zu bewältigen. So fand Robert Axelrod (1984, Kap. 1) heraus, dass der so genannte shadow of the futureshadow of the future die Wahrscheinlichkeit von cheating verringert. Da bei wiederholtem Handeln die Wahrscheinlichkeit besteht, erneut auf dieselben Akteure zu treffen, würde unnötiges cheating zu einer Belastung zukünftiger Interaktionen führen, deren Kosten erhöhen und somit den eigenen Interessen zuwiderlaufen.1 Ebenfalls besteht bei wiederholter Kooperation in Institutionen ein Transaktionskostenvorteil, da die Institution nicht jedes Mal wieder neu aufgebaut werden muss, wenn sie einmal geschaffen wurde – die Kosten für Zusammenarbeit sind versunken („sunk costssunk costs“, Stinchcombe zitiert nach Keohane 1984, 102). Somit haben Institutionen langfristig das Potential, Kosten-Nutzen-Kalkulationen der in ihr organisierten Akteure zu verändern. Mehr noch: Durch wiederholte Kooperation kann sich auch eine Kooperationsnorm entwickeln, die wiederum normkonformes Verhalten der Akteure fördert und nicht-normkonformes Verhalten sozial bestraft. Langfristig ist es so also denkbar, dass Staaten ihre Interessen zunehmend so formulieren, dass sie von vornherein kooperationskompatibel sind (Wallander et al. 1999, 9f.). Gerade mit Bezug zur deutschen Außenpolitik wurde eine derartige Erklärung ihres kooperativen und multilateral-integrativen Impetus über die vergangenen Jahrzehnte immer wieder vorgebracht (Hellmann 2007; Wallander 1999, 148ff.).

 

2.1.2 Institutionen und Sicherheit

Es gibt eine offene Debatte zwischen InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus und Realismus über die Anwendungsfähigkeit des InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus auf Sicherheitsfragen. Während die institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tische Schule (auch unterstützt durch liberalLiberalismuse Ansätze, s. Moravcsik 1997) die Auffassung vertritt, dass der Anwendung ihrer Theorie auch im Feld Sicherheit nichts Prinzipielles entgegensteht und sich viele Analysen von Sicherheitsphänomenen und Sicherheitsorganisationen des InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus bedienen (Dembinski und Hasenclever 2010; Wallander 1999), ist der NeorealisRealismus (Neo-)mus der Auffassung, dass Kooperation im Feld Sicherheit zu unbeständig ist, vermeintlich institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tische Erklärungen in Wirklichkeit auf andere Faktoren zurückzuführen sind und Institutionen somit im Feld Sicherheit epiphänomenal seien, also keine oder nur eine marginale Relevanz hätten (s. Kap. 3.1).1

Die bedeutendste Kritik der Anwendbarkeit des InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus auf Sicherheit wurde von Mearsheimer geschrieben, dem wichtigsten Vertreter des (offensiven) NeorealisRealismus (Neo-)mus. In seiner Brandschrift The False Promise of International Institutions vertritt Mearsheimer die Auffassung, dass der InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus lediglich auf Kooperationssituationen anwendbar sei, in denen zwei (oder mehr) Seiten gegenseitig kompatible Interessen haben. Dies sei gerade bei Fragen von Krieg und FriedenFrieden nicht der Fall, deren fundamentale Unsicherheitsbedingung sich nicht wie ökonomische Wechselbeziehungen institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ieren lasse. CheatingSpieltheorie habe hier im Zweifelsfall die Konsequenz, die territoriale und politische Integrität eines Staates zu beenden bzw. ihn schlichtweg auszulöschen. Daher könne man in Sicherheitsbeziehungen nicht das Problem relativer Gewinne bzw. relativer MachtMachtkalkulationen ausblenden. Findet Kooperation in Sicherheits- und Kriegsfragen statt, seien MachtMachtbeziehungen und relative Gewinne stets ausschlaggebend (s. Kap. 3.1). Von einer Relevanz von Institutionen könne nur dann gesprochen werden, wenn Staaten eine Politik betrieben, bei denen sie relative Gewinne missachteten oder wenn Institutionen trotz relativer MachtMachtprobleme erfolgreich seien. Für beides gäbe es nur schwache empirische Befunde (Mearsheimer 1994, 14ff.).

Mearsheimers Fundamentalopposition wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Bereits früher hat Keohane darauf hingewiesen, dass Institutionen die Befolgung von gemeinsamen Entscheidungen als soziale, normative Verhaltenserwartung hervorrufen. Außerdem sei es unlogisch für Staaten, sich einer Institution anzuschließen und die Interessen, deren Erreichung zur Gründung der Institution geführt haben, dann nicht zu verfolgen (Keohane 1984, 98ff.). SozialisationSozialisations-, IdentitäIdentitätts- und NormNormenbefolgungsargumente wurden danach vielfach von Konstruktivist*innen empirisch analysiert (Lebow und Risse-Kappen 1995; Katzenstein 1996), gerade auch mit Bezug zur NATO (Behnke 2000; Risse-Kappen 1996) oder zu den Außenpolitiken ihrer Mitgliedstaaten (Duffield 1999; Hemmer und Katzenstein 2002; Ostermann 2019b). Gewissermaßen als Antwort auf Mearsheimer formulieren Haftendorn, Keohane und Wallander (1999) in Imperfect Unions – Security Institutions over Time and Space, wie der Einfluss einer Sicherheitsinstitution gemessen werden kann:

1 Feststellen der normativen Gemeinsamkeiten;

2 Spezifizität von NormNormenen und internen Regeln, die Kooperation steuern;

3 funktionale Differenzierung von Aufgaben zwischen Mitgliedern, durch die gegenseitige Abhängigkeitsverhältnisse entstehen (Wallander und Keohane 1999, 24ff.).

So argumentieren McCalla (1996, 456ff.), Wallander und Keohane (1999, 41ff.) sowie Tuschhoff (1999) mit Bezug zur NATO, dass ein zunehmender InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierungsgrad, normative Konvergenz, die Existenz von klaren Verhaltensregeln und funktionale Vielfalt sowie AnpassungsfähigkeitAnpassungsfähigkeitTransformation maßgeblich für das Fortbestehen der Allianz und ihren politischen Erfolg, Sicherheit und Verteidigung im nordatlantischen Raum zu organisieren, gesorgt haben. Wallander (1999, 19ff.) weist zudem darauf hin, dass Interaktionen zwischen Staaten sowohl aus machtbezogenen als auch kompatiblen Interessen bestehen können – beide können in Institutionen bearbeitet werden. Ungeachtet der auch heutzutage offen zutage tretenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Seiten des Atlantiks hat die NATO ihre Fähigkeit zu dieser Konfliktbearbeitung bisher immer wieder unter Beweis gestellt.

2.1.3 Institutioneller Wandel und die NATO

Die NATO hat sich seit ihrer Gründung im Jahr 1949 fundamental verändert. Dies drückt sich nicht nur im Wandel ihrer Mitgliederstruktur aus, sondern auch in den MachtMachtverhältnissen innerhalb der Allianz, vor allem aber in der Verschiebung ihres Aufgabenspektrums von kollektiver Verteidigungkollektive Verteidigung gegen die UdSSR hin zu kollektivem Sicherheitshandeln im Namen der Weltgemeinschaft/ UN und seit 2014 (russische KrimUkraine/Krim(krise)invasion) wieder zurück Richtung Verteidigung. Wie konnte eine Allianz, die sich erfolgreich verteidigt und ihren Gegner 1991 verloren hat, diesen Wandel überleben, ohne sich aufzulösen oder ineffektiv zu werden, wie es realistische AllianztheorieAllianztheorie vorhersagt? InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)t*innen argumentieren, dass der einzigartig hohe InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierungsgrad der Atlantischen Allianz, die Existenz von Regeln sowie ihre normativ-ideologiIdeologieschen Gemeinsamkeiten die TransformationTransformationsfähigkeit der NATO erklären (s. auch Kap. 6, KonstruktivismusKonstruktivismus). Tuschhoff (1999, 146ff.) unterstreicht, dass trotz der MachtMacht der USA eine MachtMachtverschiebung zugunsten Europas stattgefunden hat, weil sie durch die integrierte Militärstruktur sowie die Beteiligung an gemeinsamen Missionen Einfluss auf Politiken der USA gewannen.

Diese Erkenntnis hebt gleichzeitig Keohanes (1984, Kap. 6) früheres Argument hervor, dass Akteure innerhalb einer Institution an ihr festhalten, wenn sie die Interessen des Akteurs repräsentiert, auch wenn diese sich in der Zwischenzeit gewandelt haben mögen. Wegen der hohen Kosten, die mit der Initiierung einer neuen Institution verbunden sind, ist es zudem u. U. sinnvoll, eine Institution zu erhalten und anzupassen, anstelle eine neue aufzusetzen. Auch in Zeiten geringeren institutionellen Ertrags fallen zudem nicht die Informationsvorteile und der Aspekt der geringeren Transaktionskosten weg. Ein psychologischer Grund für den Erhalt einer Institution kann zudem die Bevorzugung von Stabilität gegenüber Unsicherheit sein (ibid., 100ff.). Damit deutet Keohane das in der Organisationstheorie entwickelte und im InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus übernommene Argument der Pfadabhängigkeit (path dependency) an (Keohane 1989, 169f.; March und Olsen 1984, 745). Pfadabhängigkeit bedeutet, dass einmal Geschaffenes die Tendenz hat, entweder zukünftige Lösungswege vorzugeben – z. B. eher kooperative Lösungen als konfrontative – und sich selbst nicht abschaffen zu wollen. Somit muss man internationale Organisationen auch als Bürokratien verstehen, in denen internationale Beamt*innen ein Eigeninteresse am Fortbestand ihres Wirkens haben und u. U. unabhängig von politischen Vorgaben1 oder Krisen handeln (Barnett und Finnemore 2004; March und Olsen 1989; McCalla 1996, 456ff.). Je höher der InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)ierungsgrad, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass eine Organisation Krisen und weltpolitische Wandelprozesse, wie das Ende des Kalten Krieges, überleben können und dabei ihre Aufgaben verändern (s. Kap. 5).

Diese theoretischen Überlegungen zum InstitutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)mus zeigen, dass seine Anwendung auf Sicherheitsorganisationen keinesfalls so abwegig ist, wie Mearsheimer impliziert. Wenngleich seine Kritikpunkte, vor allem mit Blick auf das Problem relativer versus absoluter MachtMachtgewinne, Grund zum Nachdenken geben und zu einer vorsichtigen Analyse von politischen Interessenlagen und Konfliktdynamiken anhalten, so erscheint eine institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tische Perspektive zumindest als eine valide Betrachtungsweise der NATO unter anderen. Seine ökonomisch inspirierten, rationalistisch geprägten Konzepte zu Kostenvorteilen und absoluten Gewinnen durch Kooperation sowie zur Regelbefolgung sind ein fundiertes Gerüst zum Begreifen von Vorgängen in Sicherheitsinstitutionen. Bei der folgenden Befassung mit der NATO als Organisation können uns diese theoretischen Überlegungen bereits hilfreich sein.