Die NATO

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Die ersten 1980er Jahre brachten zunächst wieder eine Verschärfung der Spannungen zwischen den Supermächten. Zwar akzeptierte der neue US-Präsident Ronald ReaganReagan, Ronald das nicht-ratifizierte SALT ISALT I & III-Abkommen und verfolgte weiterhin das Ziel der Waffenreduzierung, er nahm aber eine konfrontativere Haltung gegenüber der Sowjetunion als sein Vorgänger CarterCarter, Jimmy ein und unterstrich stärker Probleme bei der Erfüllung der Vereinbarungen und der damit zusammenhängenden Kontrollregime (Combs 2012, 388f.; Meiers 1991, 137ff.). Erickson (2018, 403) bemerkt, dass zwar ausgefeilte Kontrollregime mit Elementen wie Datenoffenlegung, Besuchen und Monitoring etabliert worden waren, dass aber die Beachtung dieser RegimeRegime(theorie) häufig Problemen unterschiedlicher Definitionen und Meinungen unterlag (s. auch Knorr 1990, 180ff., 198ff.; s. die Angaben bei Yost 1984). Des Weiteren enthielten die Verträge zwar meist Mengenbegrenzungen für Waffen, gingen aber nicht das Problem der technologischen Weiterentwicklung an, die zu deutlich stärkeren Sprengköpfen führte (Müller und Schaper 2003, 11f.). Ab 1984 warf ReaganReagan, Ronald der Sowjetunion offen Vertragsbruch vor (Meiers 1991, 219ff.). Wenngleich er keine Vergrößerung, sondern eher eine Verbesserung des US-amerikanischen Nukleararsenals in Betracht zog, machte er doch deutlich, dass die USA ihre strategischen Verteidigungsnotwendigkeiten unabhängig von SALT ISALT I & III bemessen müssten (State Department o. J.). Wegen des Verbots bzw. der starken Einschränkungen von ABMABM-Vertrag-Systemen dachte die ReaganReagan, Ronald-Administration zudem über den Aufbau von Verteidigungssystemen gegen ICBMICBM (Nuklearwaffe)-Angriffe mit ballistischen Raketen nach, die Teil eines Strategic Defense InitiativeSDI (SDISDI) genannten Programms waren, das auch Weltraumwaffen beinhaltet hätte (Combs 2012, 391; Lübkemeier 1986; Yost 1984, 89ff., 115ff.). Dennoch lehnte Präsident ReaganReagan, Ronald auch unter außen- und innenpolitischem Druck RüstungskontrollRüstungskontrollee und AbrüstungAbrüstung nicht vollständig ab, sondern wollte vor allem letzteren Aspekt mit Bezug zum ICBMICBM (Nuklearwaffe)-Ungleichgewicht behandelt wissen (Meiers 1991, Kap. II). ReaganReagan, Ronald führte die Gespräche mit der Sowjetunion daher schon seit 1982 unter neuem Namen, den Strategic Arms Reduction Talks (STARTSTART I, II & III), fort (Knorr 1990, 170ff.; Schöllgen 2013b, 202ff). Nach einer Unterbrechung von 1983 bis 1985 konnten diese Verhandlungen aber erst im Juli 1991 von Präsident Bush Sr.Bush, George H.W. und Michail GorbatschowGorbatschow, Michail paraphiert werden – nur sechs Monate vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Während der US-Senat den Vertrag ratifizierte, standen auf der anderen Seite nunmehr mehrere unabhängige AtomwaffenAtomwaffenstaaten – neben Russland auch Kasachstan, die Ukraine und Weißrussland. Vor der Billigung des Vertrags mussten also erst Regelungen getroffen werden, ob diese Staaten NuklearwaffenAtomwaffen behalten, zerstören oder an Russland abgeben wollten. Ultimativ entschieden sich alle drei früheren Teilstaaten der Sowjetunion gegen den Besitz von NuklearwaffenAtomwaffen, sodass der Vertrag im Dezember 1994 formal in Kraft treten konnte (Hill 2018, 106; Wallander 1999, 112ff). Zerstörung oder Transfer der Waffen dauerten bis 1999 an. STARTSTART I, II & III (I) setzte die Begrenzung der Abschusssysteme durch SALT ISALT I & II/II fort und zog des Weiteren eine Obergrenze aller AtomwaffenAtomwaffen für jede Seite von 7.950 Sprengköpfen im Jahr 1999 sowie 6.000 im Jahr 2001, die von beiden Staaten eingehalten und erreicht wurde (Freeman 2011). Durch die zahlenmäßige Angleichung beider Arsenale wurde das Problem der Verletzlichkeit amerikanischer ICBMICBM (Nuklearwaffe)s verringert (Knorr 1990, 175ff.; Yost 1984, 93ff.). Es stellt einen nicht zu unterschätzenden politischen Erfolg dar, dass trotz der Umbrüche in der Sowjetunion und Europa zu Beginn der 1990er Jahre die im Kalten Krieg begonnene AbrüstungAbrüstungsagenda, die maßgeblich zur EntspannungEntspannung(spolitik)spolitik beigetragen hat, weitergeführt werden konnte (Knorr 1990, 174; Müller und Schaper 2003, 12).

Das letzte der zu Zeiten des Kalten KriegsKalter Krieg ausgehandelten AbrüstungAbrüstungsabkommen ist der Intermediate-Range Nuclear Forces TreatyINF-Vertrag (INFINF-Vertrag), der ab 1981 verhandelt, 1987 von ReaganReagan, Ronald und GorbatschowGorbatschow, Michail abgeschlossen wurde und bis August 2019 gültig war. Wegen der sehr unterschiedlichen Zielsetzungen der beiden Seiten – Abschaffung russischer IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s versus Nicht-Stationierung US-amerikanischer – gestalteten sich die Verhandlungen mehr als schwierig. Ein Durchbruch konnte erst nach dem MachtMachtwechsel in der UdSSR zu Michal GorbatschowGorbatschow, Michail zu Beginn des Jahres 1985 erzielt werden (Hill 2018, 35f.; Knorr 1990, 100ff., 228ff.; Meiers 1991, 127ff.). Der INFINF-Vertrag-Vertrag sticht unter den anderen Abkommen heraus, weil er als einziger Vertrag komplette Waffengattungen, nämlich nukleare IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s, MRBMs und bodengestützte MarschflugkörperMarschflugkörper und somit alle AtomwaffenAtomwaffen mit Reichweiten über 500 km und unter 5.500 km verbietet, die in den SALT-Verhandlungen noch offen geblieben waren (Görtemaker 1979, 86ff.; Yost 1984, Kap. 6). Somit durften die USA und die Sowjetunion/ Russland zwischen Dezember 1987 und August 2019 nur SRBMSRBM (Nuklearwaffe)s (unter 500 km Reichweite) und ICBMICBM (Nuklearwaffe)s besitzen. Damit wurde für Europa das Problem der russischen SS-20 gelöst, die westeuropäische Städte schnell hätten erreichen können und daher ein hohes Eskalationspotential hatten (Meiers 1991, Kap. II; Yost 1984, 78ff., 126ff.). Die einzig erlaubten Waffen der vom Vertrag verbotenen Gattungen durften sich auf Schiffen oder in der Luft befinden, was Vorwarnzeiten deutlich erhöhte. Das neue Verbot führte zur Zerstörung von über 2.500 Waffen und war mit starken Kontrollbefugnissen von beiden Seiten robust ausgelegt (Encycloplaedia Britannica 2019; Knorr 1990, Kap. III.2). Durch den INFINF-Vertrag-Vertrag entspannte sich somit die nukleare Bedrohungslage in Europa in den 1980er Jahren erheblich.

3.6 Schlussbetrachtungen zu kollektiver Verteidigung während des Kalten Kriegs

Nachkollektive Verteidigung der GründungKalter Krieg der Allianz mussten erst die Grundlagen für eine kollektive Verteidigungkollektive Verteidigungsfähigkeit geschaffen werden. Dazu galt es, gemeinsame Strukturen aufzubauen, Verteidigungspläne zu erstellen und vor allem die Streitkräfteplanung der Bündnismitglieder nach den Verlusten des Zweiten WeltkriegZweiter Weltkriegs zu koordinieren. Dieser Prozess war von vornherein problembehaftet, aber die Alliierten, die von 1949 bis 1982 von 12 auf 16 Staaten anwuchsen, schafften es dennoch, Verteidigungskonzepte für die VorneverteidigungVorneverteidigung in Europa und für den nordatlantischen Raum zu implementieren. Aufgrund der konventionellen Unterlegenheit gegenüber den Warschauer PaktWarschauer Pakt-Staaten beinhalteten diese Pläne die Androhung des Einsatzes von NuklearwaffenAtomwaffen. Die Fortschritte in der interkontinentalen Raketentechnik führten in den 1960er Jahren zum Gleichgewicht des SchreckensGleichgewicht des Schreckens. Durch das damit mögliche Szenario eines nuklearen Holocaust – der Vernichtung allen Lebens auf dem Planeten – stabilisierte sich die Blockkonfrontation allerdings zunehmend in ihrem bipolarPolaritäten Spannungszustand, der sogar den Beginn erster RüstungskontrollRüstungskontrolleschritte Ende der 1960er Jahre ermöglichte. Nach dem Umschwenken der NATO auf die flexible responseflexible response-Nukleardoktrin im Jahr 1962 gewannen die konventionellen Verteidigungsfähigkeiten wieder eine stärkere Rolle in der VerteidigungsplanungVerteidigungsplanung, die nunmehr von einer ausdifferenzierten alliierten Hauptquartierstruktur durchgeführt wurde. Die ostwestliche Blockkonfrontation verfestigte Sicherheitspolitik im transatlantischen Raum. Wenngleich es andere wichtige, teils unabhängige politische Entwicklungen in anderen Teilen der Welt gab (Dekolonialisierung, Öffnung ChinaChinas, GlobalisierungGlobalisierung), strahlte die Ost-West-Konfrontation häufig auf die gesamte Welt in Form eines Kampfes um MachtMacht und Einfluss der Blockgegner mit verheerenden Stellvertreterkriegen in Vietnam oder AfghanistanAfghanistan(kriege) aus. Internationale Institutionen wie die UN oder später die KSZEKSZE wurden von diesem Fundamentalkonflikt ebenfalls beeinflusst oder geprägt – nicht zuletzt der UN-Sicherheitsrat mit seinem Vetospiel zwischen den ständigen Mitgliedern (Bailey 1978; Junn 1983).

Ob die NATO durch diese Politik aus friedentheoretischer Sicht nicht auch zum Fortbestand von Konflikt, Konfrontation und Unsicherheit beigetragen hat, anstelle mit der Sowjetunion zusammenzuarbeiten oder zu anderen Lösungen bezüglich der Sicherheitsprobleme Europas zu kommen, kann an dieser Stelle nicht hinreichend erörtert werden und ist Gegenstand eigener Forschungstraditionen und -auseinandersetzungen (Senghaas 1981). Diese kritischen Beiträge sind nützlich, weil sie uns lehren, in Alternativen zu denken und die bestehende Welt(ordnung) nicht als die beste aller möglichen anzusehen (autoritativ Booth 1997). Gleichzeitig kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Staaten der westlich-liberalLiberalismusen Welt durch das außenpolitische Handeln der Sowjetunion nach dem Ende des Zweiten WeltkriegZweiter Weltkriegs bedroht gefühlt haben. Diese Bedrohungsperzeption war sozial und politisch wirkmächtig und bis zum Ende der 1960er Jahre als politisches Leitmotiv größtenteils unangefochten.

Während die Zusammenarbeit im Warschauer PaktWarschauer Pakt aufgrund der Rolle der Sowjetunion und ihres autoritären Systems stärker vertikal strukturiert war und der Logik einer Zentrum-Satellitenbeziehung folgte, ist die Atlantische Allianz ein Bündnis formal gleicher Mitglieder, in der die USA aber aufgrund ihrer militärischen KapazitätenKapazitäten (militärische) und ihres lange bestehenden Willens, eine auf liberalLiberalismusen Prinzipien basierende WeltordnungWeltordnung aufzubauen und zu erhalten, als primus inter pares und wohlwollender HegemonHegemonie (USA) stand, dem andere Staaten freiwillig folgten (Layne 2006). Es stellt eine Leistung der NATO dar, die unterschiedlichen Sicherheits- und Verteidigungspolitiken von 16 Staaten mit ihren jeweils eigenen nationalen Interessen und Sicherheitsbedürfnissen koordiniert zu haben. Diese Kooperation hat immer wieder Rückschläge erfahren, wie z. B. durch die SuezSuez(krise)krise, den französischen Austritt aus der integrierten Militärstruktur oder durch Uneinigkeit in nuklearstrategischen Fragen, sie war aber auch von bedeutenden Momenten transatlantischer Solidarität geprägt, wie z. B. in Fragen der Situation Deutschlands und Berlins. Im Sinne zuvor dargestellter institutionalisInstitutionalismus (Neoliberaler)tischer Literatur war die NATO eine Allianz, die Gefahren extern und somit unter Ausschluss des Gegners aus gemeinsamen Entscheidungs- und Politikprozessen bearbeitete.

 

Trotz des exklusiven Charakters der NATO haben politische Akteure – sei es John F. KennedyKennedy, John F., Willy BrandtBrandt, Willy oder Nikita ChruschtschowChruschtschow, Nikita – im Verlauf des Kalten KriegsKalter Krieg bewiesen, dass sie in bestimmten Situationen in der Lage waren, konkrete (wie die KubaKuba(krise)krise oder die europäischen Grenzproblematiken) oder sich abzeichnende Konflikte (wie um IRBMIRBM (Nuklearwaffe)s und ihre Einsatzszenarien) nicht nur konfrontativ, sondern auch kooperativ anzugehen. Sie haben damit auch SicherheitsdilemmaSicherheitsdilemma(sensibilität)sensibilität (security dilemma sensibility, Booth und Wheeler 2008, 7) bewiesen, indem sie sicherheits- und verteidigungspolitische Interessen und Ängste der Gegenseite verstanden und für die Einleitung von verschiedenen Kommunikations-, EntspannungEntspannung(spolitik)s- und nuklearen AbrüstungAbrüstungspolitiken genutzt haben, wie sie sich vor allem seit den 1960er Jahren nach der KubaKuba(krise)krise entwickelt haben. Diese Formen der Kooperation kannten durch innenpolitische (z. B. Wahl ReaganReagan, Ronalds) und weltpolitische Entwicklungen (z. B. AfghanistanAfghanistan(kriege)krieg) Höhen und Tiefen, trugen aber durch ein zunehmendes Netz an vertraglich regulierten bi- und multilateralen EntspannungEntspannung(spolitik)s- und AbrüstungAbrüstungspolitiken zu friedlichFriedeneren Beziehungen bei. Das Ende dieser Epoche der Weltpolitik seit 1949 sollte aber vor allem durch Ereignisse in der Sowjetunion ausgelöst werden, denen sich der nächste Abschnitt kurz widmet, bevor wir zu einer Betrachtung kollektiver Verteidigungkollektive Verteidigungspolitik nach seinem Ende übergehen.

3.7 Das Ende des Kalten Kriegs

DieKalter Krieg seit 1949 stabile Blockkonfrontation nahm Ende der 1980er Jahre ein überraschend schnelles Ende, das kaum ein/e Beobachter*in hat kommen sehen. Das markanteste Ereignis dieses Zeitenumbruchs war in Deutschland der Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 mit der darauffolgenden WiedervereinigungWiedervereinigung (deutsche), die formal am 3. Oktober 1990 durch den Zwei-plus-Vier-VertragZwei-plus-Vier-Vertrag1 besiegelt wurde und die wieder eine vereinte, in die westlichen Strukturen und den europäischen Integrationsprozess eingebundene Bundesrepublik schuf – eingebunden sowohl in die EU als auch die NATO (Schöllgen 2013a, 256ff.). Die fünf ostdeutschen Bundesländer und Berlin als wiedervereinte Hauptstadt wurden in den Folgejahren in die politischen Strukturen der BRD integriert. Die Entlassung der DDR in die WiedervereinigungWiedervereinigung (deutsche), eine lockerere Hand in anderen Staaten des Ostblocks, z. B. in Polen (Akzeptanz freier Wahlen 1989), Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei (Grenzöffnung für DDR-Bürger) sowie die Reformpolitiken glasnostGlasnost (Transparenz) und perestrojkaPerestroika (Umbau) unter dem seit Anfang 1985 regierenden UdSSR-GeneralsekretGeneralsekretär/ -sekretariatär Michail GorbatschowGorbatschow, Michail waren eigentlich dazu gedacht, das sozialistische UdSSR-System zu stabilisieren und politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich modernisieren (Hill 2018, 33ff.; Meiers 1991, 175ff.). Die neuen Freiheiten, Ereignisse und Politiken führten schließlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion. Die vorher unter der Decke gehaltenen politischen und wirtschaftlichen Missstände kamen ans Tageslicht, die Reformansätze für die wirtschaftlichen Probleme griffen nicht. Die Situation gipfelte 1988 in einer partiellen Lebensmittelkrise, sodass die Bürger*innen der UdSSR nicht mehr an die Reformfähigkeit des Systems glaubten. Dazu kam ein Wiederaufleben von NationalNationalismusismen in den sowjetischen Teilrepubliken und Satellitenstaaten, die das lange durchlebte repressive System in Frage stellten. Das politische System der Sowjetunion war hiermit überfordert. Estland erklärte sich im Herbst 1988 für souverän, andere Staaten folgten, Russland im Juni 1990. Der gescheiterte Putschversuch gegen GorbatschowGorbatschow, Michail im August 1991 brachte dann bestehende Hoffnungen auf eine erneuerte Union zum Erliegen (Pradetto 1997, 12). Die UdSSR wurde am 21. Dezember 1991 aufgelöst. Russland als größter und hegemonialer Staat der Sowjetunion gilt offiziell als Rechtsnachfolger der UdSSR und nahm deren Sitz im UN-Sicherheitsrat ein. Elf Staaten (Armenien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, MoldawienMoldawien, Russland, Tadschikistan, Turkmenistan, Ukraine, Usbekistan und Weißrussland) entschlossen sich zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger StaatenGemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) (GUSGemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)) als nachfolgende Kooperationsorganisation der ehemaligen Sowjetrepubliken. Andere ehemalige Sowjetrepubliken und weitere Staaten des Warschauer PaktWarschauer Pakts entschlossen sich aber, anderen Kooperationsformen nachzugehen, was seit 1999 unter anderem zu Beitritten in die NATO führte (Schattenberg und Lehmann 2014). Die Wandelprozesse, die in den anderen ehemaligen Staaten des Ostblocks stattfanden, standen in ihrer Tiefe der deutschen WiedervereinigungWiedervereinigung (deutsche) in nichts nach.

Welche Gründe letztlich zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt haben und ob dieser Zusammenbruch selbstverschuldet war oder nicht, ist in der Fachliteratur umstritten (Schattenberg und Lehmann 2014). Zweifelsohne war die sowjetische Wirtschaft seit den 1970er Jahren in einer schlechten Verfassung und der Rüstungswettlauf mit den USA hat bedeutende Summen verschlungen – auf allen Seiten (Meiers 1991, 170ff.). Hierdurch ergibt sich nach neorealistischer Auffassung die Notwendigkeit, der Verschlechterung der relativen MachtMachtbalance entgegenzuwirken, um die eigene Unsicherheit nicht zu erhöhen. Diese Logik erklärt aber nicht, warum die UdSSR unter GorbatschowGorbatschow, Michail so voluntaristisch liberalLiberalismuse, systemreformatorische Politiken der Gegnerseite eingeleitet hat, sich gleichzeitig aus der HegemonHegemonie (UdSSR, Russland)ialrolle in Osteuropa zurückzog und mit der Unterzeichnung des INFINF-Vertrag-Vertrags das MachtMachtverhältnis in Europa zugunsten der westlichen Alliierten verschoben hat (zu INFINF-Vertrag s. auch Knorr 1990, 232). Dies ist eine aus neorealistischer Perspektive irrationale Vorgehensweise, während man z. B. auch mit dem ebenfalls kommunistischKommunismusen ChinaChina zusammen eine stärkere Front gegen die USA hätte bilden können, um das MachtMachtungleichgewicht auszubalancieren. Anders ausgedrückt stellt Richard Ned Lebow (1995) in seiner berühmten Kritik der neorealistischen Erklärung zum Ende des Kalten KriegsEnde des Kalten Kriegs die Frage, warum unter denselben strukturellen Bedingungen im Verhältnis zu den USA, die seit Langem vorherrschten, BreschnewBreschnew, Leonid aggressiv und GorbatschowGorbatschow, Michail kooperativ-zurückziehend gehandelt hat (s. auch Hill 2018, 48). Thomas Risse-Kappen (1994) antwortet, dass GorbatschowGorbatschow, Michails neues Denken mit einem vorhergehenden Wandel in wissenschaftlichen und innenpolitischen Eliten und DiskursDiskurs (Theorie, Konzept)en über LiberalisLiberalismusmus und Kooperation mit dem Westen zusammenhing (s. auch European Strategy Group 1988). Durch den offeneren, auf innenpolitische Reformen zielenden GorbatschowGorbatschow, Michail ergaben sich so neue Möglichkeiten für die Außenpolitik (s. auch Meiers 1991, 171ff., 183ff.; Hill 2018, 25f.). Risse-Kappen stellt also neben die (unzureichenden) materielleMaterialismusn Erklärungen des NeorealisRealismus (Neo-)mus einen ideelleIdeen (Konzept)n, liberalLiberalismus-konstruktivistischKonstruktivismusen Erklärungsversuch, der soziale Prozesse in der UdSSR in die Erklärung mit einbezieht (s. auch Knorr 1990, 99ff.). Zusammen kann so das Einschlagen von GlasnostGlasnost und PerestroikaPerestroika anstelle anderer, konfrontativer Lösungswege besser verstanden werden. GorbatschowGorbatschow, Michails voluntaristisches Handeln und sein Wille zu außenpolitischen Veränderungen waren auf umfangreichere Veränderungen ausgelegt, als das bei seinen Vorgängern der Fall war, und er verstand es, ReaganReagan, Ronald dafür zu gewinnen, sodass dieser seine konfrontative Haltung aufgab (s. auch Lebow 1995, 40f.; Kupchan und Kupchan 1991, 145f.). Diese Erklärung deutet also darauf hin, dass akteursbezogene Aspekte bei der Abschwächung und letztlich dem Ende des Kalten KriegsEnde des Kalten Kriegs eine bedeutende Rolle gespielt haben (Breslauer und Lebow 2008; Lebow und Stein 1994, Postscript).

Durch das Ende der Blockkonfrontation veränderte sich die (sicherheits)politische Situation in Europa und der Welt grundlegend, da die bipolarPolaritäte, amerikanisch-russische GroßmachtGroßmacht(konfrontation)konfrontation praktisch zum Erliegen kam (Mandelbaum 1990). Während diese politischen Umbruchprozesse in Westeuropa durch die EG/EU einen festen institutionellen Rahmen hatten, in dem sie sich entfalten konnten, und daher etwas geordneter abliefen, fanden in den meisten Staaten Mittel- und Osteuropas und in Russland grundlegende Prozesse der politischen Demokratisierung, ökonomischen LiberalisLiberalismusierung und sozialen Neuausrichtung statt. Die NATO und die EU/EG unterstützen hierbei teilweise, was mit Bezug zur sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit in den folgenden Kapiteln diskutiert wird. Die deutsche Einheit wurde nicht zuletzt durch Hilfszusagen des Westens bei diesem Transformationsprozess erkauft (Kupchan und Kupchan 1991, 145ff.). Russland fiel weitestgehend als weltpolitischer Akteur aus, da die Umbauprozesse so tiefgreifend waren, dass sie den Großteil der politischen Aufmerksamkeit banden (Hill 2018, 49f., 103ff.). Die Atlantische Allianz war bemüht, zur Absicherung der politischen Lage mit und innerhalb Russlands neue Kooperationsmechanismen zu etablieren (s. Kap. 5.2). Bereits 1989 begannen noch mit der Sowjetunion Verhandlungen über den Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (CFEVertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (CFE)), der Truppen in einem auf Gegenseitigkeit mit der NATO bedachten System abbauen sollte (zu den Verhandlungen s. Knorr 1990, 352ff.; Wallander 1999, Kap. 5). Der Vertrag wurde im November 1990 abgeschlossen, als sich sowjetische Truppen schon auf dem Rückzug aus West- und Mitteleuropa befanden und die Kriegsgefahr durch die Verhandlung der deutschen Einheit enorm reduziert war (Hill 2018, 41ff.). Die NATO hatte somit ihren Widersacher verloren, gegen den sie 1949 gegründet wurde. Mearsheimer (1990) sagte daher ein Aufbrechen der Allianz vorher, da sich ihr Zweck erledigt hatte und es keine rationalen Gründe mehr für das Aufrechterhalten des kostspieligen Bündnisses gab. Er prognostizierte weiter neue Instabilität in der europäischen und globalen Ordnung aufgrund des fehlenden, mäßigenden Einflusses von BipolaritätPolarität (ähnlich Mandelbaum 1990). – Dass diese Entwicklung in der NATO nicht eingetreten ist und die Allianz nicht in ihrem 40./42. Jahr endete, lässt sich unschwer erkennen. Warum dies trotz des Wegfalls ihres Auftrags nicht geschah, werden Kapitel 4, 5 und 6 vertiefen.