Eine Urlaubsliebe (eBook)

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Später, als er am offenen Fenster saß, in einer seltsamen Mischung aus Wehmut und Ärger in den Abend sah und ihm immer wieder Bilder der Baroness dazwischen­kamen, dachte er nach. Was war es denn eigentlich gewesen? Zwei Worte eines unfreundlichen, arroganten und mehr als indiskreten Buchhändlers, der seine Bücher verkaufen wollte. Aber noch als er das dachte, wusste er schon, dass das nicht stimmte. Es war einfach so, dass der Mann es so genau getroffen hatte. Seine geheimen Ängste und Gedanken. Seltsam. Peter straffte sich und sah aus dem Fenster über die Stadt. Allmählich wurde es ganz dunkel und überall gingen die Lichter an. Eigentlich sah es so friedlich aus, wenn man über die Dächer sah. Aber er war unruhig. In solchen Augenblicken war auf einmal alles unsicher und düster. Was tat er mit seinem Leben? Und was tat er mit dem Leben der Baroness? War es wirklich so, dass sie sich selbst – und damit den anderen – belogen? Er trommelte mit den Fingern unruhig auf die Fensterbank, dann drehte er sich kurz entschlossen um und holte das Buch aus der weißen Tüte, die er auf den Tisch gelegt hatte, als er nach Hause gekommen war. Dann ging er wieder ans Fenster.

»Die Baroness«, las er den Titel noch einmal. Das hatte er schon geschickt gemacht, dieser Buchhändler. Peter wog das Buch in der Hand. Ihr Leben sollte darin stehen, hatte er behauptet. Was für ein Blödsinn! Er schlug es aufs Geratewohl auf und las:

»Sie sah ihm hinterher und ärgerte sich nicht zum ersten Mal über das braun-rot karierte Jackett, das er schon vor Jahren hätte wegwerfen sollen.«

Peter hielt inne. Ein eigenartiges Gefühl war da plötzlich in ihm; so ein Gefühl, wie man es von nächtlichen Spaziergängen kennt, wenn man auf einmal merkt, dass da jemand hinter einem geht. Wie weit konnten Zufälle gehen? Er hatte ein braun-rot kariertes Jackett. Er konnte sich gerade nicht erinnern, ob er es schon jemals angehabt hatte, wenn er die Baroness gesehen hatte, aber er hatte eines, und so, wie er sie kannte, würde es ihr nicht gefallen. Verunsichert wog er das Buch in der Hand. Zufall? Wie viele braun-rot karierte Durchschnittsjacketts gab es in der Welt? Er schlug es ein ganzes Stück weiter vorne auf und las:

»Die Strömung im Fluss war viel stärker, als sie gedacht hatte. Sie gab sich Mühe, nicht in Panik zu geraten und schwamm in gleichmäßigen, kraftvollen Zügen, aber sie sah am vorbeiziehenden Ufer, wie schnell sie abgetrieben wurde. Die Doppelspitze des Doms verschwand allmählich, als unter der Brücke der Lastkahn auftauchte …«

Er hielt das Buch geöffnet in der Hand. Das sonderbare Gefühl der Beklemmung war jetzt noch stärker. Er erinnerte sich an einen Tag, an dem sie auf einer Brücke gestanden waren, Hand in Hand, und ins Wasser gesehen hatten und die Baroness auf einmal leichthin gesagt hatte: »Soll ich dir erzählen, wie ich einmal fast ertrunken bin?«

Und sie war in Köln aufgewachsen. Am Rhein. Peter zwang sich zur Vernunft. Es gab auch in anderen Städten einen Dom. Jeder war schon einmal fast ertrunken, weil er leichtsinnig im Meer oder im Fluss geschwommen war. Zufall. Koinzidenz. Natürlich setzte er jetzt alles in Beziehung zur Baroness, weil der Buchhändler behauptet hatte, in dem Buch stehe ihr Leben. Trotzig blätterte er fast bis zum Schluss und las:

»Der Friedhof war voller blühender Bäume und der kühle Aprilwind bewegte die jungen Blätter wie …«

Erschrocken, hastig und mit einem Gefühl wie von plötzlicher Scham klappte er das Buch zu. Wenn, nur einfach mal so gedacht, wenn in dem Buch wirklich ihr Leben stand, wollte er dann wissen, in welchem April es endete? Wollte er das wirklich wissen? Wollte er wissen, was mit ihnen beiden geschah? Wollte er wissen, was ihre Zukunft war und seine, so lange sie mit ihm war, und schließlich: Ob es überhaupt eine gemeinsame Zukunft gab?

Es war jetzt ganz Nacht geworden. Neumond, und der Himmel schwarz. Peter löschte das Licht und stand im Dunkeln, immer noch das Buch in der Hand. Las sie gerade sein Leben? Sie war so neugierig … Und er? Sollte er wissen, was mit ihr geschah? Und was geschehen war? All die kleinen Geheimnisse, die man so hat? Die vergangenen Geliebten, die alten, nur halb vergessenen Lieben? Die Sehnsüchte, die nichts mit einem selbst zu tun hatten? Und wenn sie es las, sollte er dann nicht auch alles über sie wissen? Es würde alle Unsicherheit wegnehmen, die da manchmal zwischen ihnen war. Und er würde wissen, ob sie wirklich liebte. Er müsste ja vielleicht nicht alles lesen. Nur die Kapitel, die ihn angingen. Ob sie las? Ob sie der Versuchung widerstehen würde, und ob sie es überhaupt wollte? Er überlegte, ob er sie anrufen solle, aber dann blieb er doch einfach am Fenster stehen und sah in die Nacht. Irgendwie konnte er jetzt nicht mit ihr sprechen. Er spielte unentschlossen mit dem Buch. Die Baro­ness. Roman. Dann, mit plötzlicher Entschlossenheit, warf er das Fenster zu und machte in der ganzen Wohnung Licht.

3

Im Sonnenlicht eines richtigen Frühlingstages hatte der Buchladen nicht mehr Zauber als ein Buchladen eben hat, aber dafür sah er jetzt viel freundlicher aus als noch vor drei Tagen. Der alte Parkettboden leuchtete dort, wo die Sonne durch die Fenster hereinfiel, und wie in allen Buchläden glitzerte der Staub in den Lichtbahnen. Die Tür war offen gestanden, als Peter eingetreten war, und so lag der typische Geruch jedes Buchladens nach Papier und ein wenig nach Leinen von den Buchrücken neben den Blütengerüchen von draußen nur wie eine Erinnerung in der Luft. Peter stand in der Mitte des Raumes, hatte das Buch in der Hand und wusste nicht genau, wie er sich fühlen sollte. Es war kein sehr schönes Wochenende gewesen. Sie hatten nicht einmal telefoniert, es war, als hätten die beiden Bücher ihnen mit einem Mal die Sprache genommen. Er hatte die Baroness nicht anrufen können; eigentlich wusste er selbst nicht, wieso. Aber drei Tage Schweigen – das hatten sie bisher noch nie gehabt.

Wieder war der Besitzer nicht zu sehen, und Peter trat ziellos zu den Regalen und sah sich die Bücher an, die dort standen. Die Klassiker in Leinenbindung hier: Goethe, Hesse, Schiller, Mann. Im Regal daneben die leuchtend bunten Taschenbücher mit modernen Titeln wie Seide, Schnee oder Tausend Sachen, die man bei Frauen falsch machen kann! Peter verzog den Mund zu einem halben Lächeln. Davon kannte er auch ein paar. Unschlüssig streifte er zwischen Regalen und Tischchen hin und her, nahm mal dieses, mal jenes Buch auf und wartete höflich, dass sich der Ladenbesitzer zeigte.

»Ach«, kam es aus der Tür zum Nebenzimmer, »sehen Sie, Sie sind doch wiedergekommen.«

Der Ladenbesitzer hatte diesmal kein Glas Wein, sondern eine ziemlich gebraucht aussehende, sehr große Kaffeetasse in der Hand, aus der er angelegentlich einen Schluck nahm, bevor er boshaft fragte:

»Ist meine böse Kundenfangstrategie aufgegangen? Wollen Sie jetzt doch Bücher bei mir kaufen?«

Peter antwortete nicht gleich, sondern sah den Mann sehr aufmerksam an.

»Nein«, sagte er dann langsam, »eigentlich wollte ich kein Buch kaufen. Ich wollte wissen …« Er hob das Buch, das er die ganze Zeit in der Hand gehalten und das ihn drei Tage lang gequält hatte, »… ich will eigentlich nur … also, was ich wirklich wissen will, ist …«

Der Buchhändler unterbrach ihn.

»Beim letzten Besuch haben Sie viel mehr geredet. Was für eine heilsame Kraft Literatur doch haben kann. Also, was genau wollen Sie wissen?«

»Na, das würde auch mich interessieren«, kam es vom Eingang. Peter drehte sich um. Da stand die Baroness. Im Morgenlicht leuchtete ihr Haar. Peter fühlte einen kleinen Stich, als er sie ansah.

»Hallo«, sagte er.

»Selber Hallo«, sagte sie kurz und trat jetzt auch ein. Der Buchhändler hob bloß halb die Hand als Zeichen, dass er sie wiedererkannte, trank aber sonst nur einen Schluck Kaffee und wartete ab. Die Baroness musterte Peter.

»Du siehst aus wie Dresden im April ’45«, sagte sie dann. »Schlecht geschlafen?«

Es klang sorgfältig neutral, und Peter hätte nicht sagen können, ob das eine echte Bosheit war oder ob sie sich einfach an ihrem gewohnt leichten Ton festhielt.

»In meinem Alter braucht man nicht mehr so viel Schlaf«, gab er zurück und lächelte schief, »aber so ganz wie der strahlende Morgen siehst du auch nicht aus, mein Herz.«

Sie nickte kurz, aber sie lächelte nicht, und so wusste er nicht, was sie dachte. Ihre Blicke trafen sich, und sie sahen sich eine ganze Zeit lang schweigend an. Er hatte das Buch in ihrer Hand natürlich ebenso gesehen wie sie das seine. Er fragte sich, ob sie ihn so ansah, weil sie das Buch gelesen hatte, und im selben Augenblick wurde ihm klar, dass sie sich das auch fragen musste, egal, ob sie seinen Roman jetzt gelesen hatte oder nicht.

»Na«, sagte sie dann schließlich unvermittelt, »was wolltest du den Herrn fragen?«

Der Buchhändler hatte sich nicht von der Stelle gerührt.

»Ich«, setzte Peter an, aber dann unterbrach er sich selbst. »Nichts«, erwiderte er dann und streckte dem Buchhändler mit einer plötzlichen Bewegung das Buch hin: »Ich möchte dieses Buch zurückgeben.«

Der Buchhändler nahm es und drehte es ein bisschen hin und her.

»Ich bin keine Leihbibliothek«, sagte er trocken. »Ihr Geld kriegen Sie nicht wieder, das ist Ihnen klar, oder?«

»Das ist mir egal«, antwortete Peter plötzlich sehr erleichtert, »ich bin sogar bereit, ein anderes Buch zu kaufen.«

Die Baroness hatte Peter genau beobachtet. Impulsiv trat sie einen Schritt vor.

»Ich gebe meines auch zurück«, sagte sie und legte es auf die Theke.

»Ich kann dann bald ein Antiquariat aufmachen«, meinte der Buchhändler ungerührt, aber man hatte den Eindruck, dass ein Lächeln um seine Mundwinkel spielte. »Hat es Ihnen nicht gefallen? Nicht spannend genug?«

 

»Das geht Sie nichts an!«, sagte die Baroness in dem schnippischen Ton, den Peter so gut kannte, und er musste lächeln.

»Ich denke«, erwiderte er mit leichter Selbstironie, »die junge Dame mag keine Schundromane.«

Die Baroness warf ihm einen kurzen Blick zu und lächelte das erste Mal. Peter wurde es warm ums Herz, man konnte es nicht anders sagen. Der Buchhändler nahm die beiden Bücher, sah sie kritisch an, pustete über den Schnitt und stellte sie wieder in die Regale. Die Baroness und Peter beobachteten ihn. Wenn man in den nächsten Raum hineinsah, konnte man durch die Fenster erkennen, wie der verwilderte Garten in der Vormittagssonne leuchtete.

»Wollen wir ein bisschen Bücher kaufen?«, fragte er sie.

»Ich denke, wir leihen sie erst einmal aus und sehen, ob sie uns gefallen«, sagte sie mit einem kleinen Lächeln. Und dann gingen sie durch die Räume, machten sich gegenseitig auf Bücher aufmerksam, zeigten sich Kuriositäten und lachten, wenn sie beide gleichzeitig nach einem Buch griffen. Der Buchhändler hatte sich in seinen Sessel zurückgezogen und las Zeitung.

»Hast du’s gelesen?«, fragte Peter unvermittelt, noch halb lachend. Die Baroness sah ihn nicht an.

»Und du?«, fragte sie nach einem Augenblick zurück.

»Ich«, sagte Peter in gehobenem Ton, »habe ja wohl zuerst gefragt. Die Genfer Konvention verlangt, dass du mir Auskunft gibst!«

»Die Genfer Konvention«, sagte die Baroness lässig, »ist eine Erfindung der sowjetischen Feindpropaganda und gilt in dieser Stadt sowieso nicht, weil hier ich alleine bestimme.«

Sie griff nach einem gewaltigen Bildband über Afrika.

»Wenn du mir liebst, käufst du diesem hier!«, sagte sie in dem Kinderton, der Peter immer lachen machte.

»Mein liebes Kind«, sagte er daher, »ich weiß nicht, ob dir der Begriff Privatinsolvenz vertraut ist. Boshaftes, gieriges Natterngezücht!«

Die Baroness sah sich um, ob der Buchhändler in der Nähe war, aber in diesem Raum waren nur Bücher und die Sonne und ein wenig flirrender Staub, deshalb küsste sie Peter flüchtig auf den Mund.

»Dies«, sagte sie und stieß ihn weg, als er sie wieder küssen wollte, »wollen wir nicht zur Gewohnheit werden lassen. Und jetzt kaufen wir Bücher.«

Eine halbe Stunde später, als sie den Buchladen mit zwei Tüten voller skurriler Kinderbücher, Romane und Bildbände (darunter der Afrikaband) verließen, sagte der Buchhändler, in der Tür stehend: »Nur zur Information – es handelt sich hier nicht um einen Leasingvertrag. Sie können die Bücher jetzt für immer behalten. Bis zum nächsten Mal!«

Peter drehte sich noch einmal zu ihm um: »Was bringt Sie auf den Gedanken, wir würden noch mal wiederkommen?«

Der Buchhändler lächelte das erste Mal offen und frei.

»Alle kommen sie wieder«, sagte er heiter, »alle.«

Peter und die Baroness gingen eine Zeit lang schweigend durch die sonnenhellen Straßen. Der Tag fühlte sich leicht an, und es war ein Vergnügen, die Baroness neben sich zu wissen. Peter sah sie von der Seite an. Sie lächelte nicht, aber ihr Gesicht war entspannt und sie sah sehr schön aus.

»Willst du wirklich wissen, ob ich’s gelesen habe?«, fragte er dann.

Die Baroness antwortete nicht, sondern ging noch ein Stück, bis sie auf der Mitte der Brücke waren. Dort stellte sie die Tüten ab und schwang sich auf die Mauer.

»Lübbest du mir noch?«, fragte sie nachlässig und lehnte sich an eine der warmen Sandsteinkugeln, die in regelmäßigen Abständen auf der Mauer standen.

Peter sah sie an und dachte, dass es vielleicht völlig unwichtig war, was man voneinander wusste, solange es Tage wie diesen gab.

»Große Lübbe«, antwortete er, »mit Lübbelchen obendrauf.«

»So wie das Geglitzer da unten?«, fragte sie weich und zeigte auf den Fluss, der in der Sonne gleichmäßig durch die Stadt mit dem wunderbaren Buchladen floss.

»Wie das Geglitzer«, sagte Peter, und dann küsste er die Baroness auf den Mund.

Mittsommerliebe

1

Als ich fünfzehn war, kam ich zum ersten Mal in die Stadt. Meine Mutter nahm mich mit. Natürlich war ich schon vorher dort gewesen. Aber richtig, ich meine, so, dass ich ohne sie alleine in Nürnberg unterwegs sein durfte – das war neu.

Es war ein paar Tage vor dem Mittsommerfest. Bei uns im Dorf waren die großen Räder bereits fertig; und während der Zugfahrt konnte ich sehen, dass sie in manchen Dörfern auch schon Räder aufgestellt und die Hürden aufgebaut hatten.

Ich weiß noch, was für ein schöner Sommer das war. Er hatte schon im Mai angefangen, und manchmal lag ich nachts lange wach. Ich hatte immer die Fenster offen. Nicht, weil es so warm war – bei uns oben waren auch die Mainächte noch kühl –, aber ich hörte so gerne die Geräusche der Nacht, das Summen der großen Windmühlen. So ein tiefes Summen, das durch die Wände ging. Ich glaubte, mein Bett würde mitvibrieren, und wenn ich ganz still lag, klopfte mein Herz manchmal so stark, dass die Schläge einen Takt über dieses Summen schlugen und das Bett erschütterte. Als wir in der Schule den Elektromotor durchgenommen hatten, sollten wir die Achse mit der Hand bewegen, und ich hatte es als ein wunderbares Gefühl empfunden: Erst ging es ganz leicht, dann wie einen unsichtbaren Berg hinauf, eine gleitende Schwere gegen das Magnetfeld, und dann der Schwung aus dem Feld – in solchen Nächten stellte ich mir vor, ich wäre die Achse in einem solchen Feld, drehte mich in einem tiefen Summen. Und ich dachte dabei bunte Bilder von der Stadt. Über meinem Bett hing eine Doppelseite aus einer Illustrierten. Das Bild eines morgenkühlen Parks mitten zwischen eleganten, verspiegelten Hochhäusern irgendeiner Großstadt. Davon träumte ich damals.

Nürnberg war ganz anders. Aber das wusste ich noch nicht. Ich kannte dort eigentlich nur die Straße, in der meine Großeltern gewohnt hatten, und das war auch schon lange her gewesen. Wir hatten den Großvater in der Klinik besucht. Meine Mutter und ich hatten im Wartezimmer auf ihn warten müssen, bis eine Sekretärin uns in sein Büro führte. Damals kam mir das nicht seltsam vor. Auch nicht, dass ich ihn siezen musste. Sein Büro war penibel ordentlich, aber auf dem niedrigen Tisch standen ein paar Tiere aus Glas, mit denen ich spielen durfte. Und als wir gingen, war ich sehr stolz, dass mein Großvater ein berühmter Arzt war. Die Sekretärin schenkte mir einen gläsernen Schwan. Aber jedes Mal, wenn wir ein paar Tage in seinem großen Haus wohnten, sah ich immer nur die Großmutter. Ins Parterre, wo er sein Arbeitszimmer und seinen Salon hatte, durfte ich nicht.

Diesmal gingen wir ins Hotel. Nürnberg war europäische Hauptstadt in diesem Jahr, und es gab Kongresse, Veranstaltungen und Messen ohne Ende. Meine Mutter hatte eine Einladung bekommen, sie sollte auf der World Convention of Applied Genetics sprechen. Den Namen und das Siegel kannte ich mittlerweile auswendig. Sie hatte es mir bestimmt fünfmal gezeigt. Das war so ungefähr die höchste Ehre, die man als Genetikerin erlangen konnte. Und ich hatte es bestimmt dann noch dreimal in Ruhe gelesen, mit einem englischen Wörterbuch. Ich muss zugeben, dass ich damals ziemlich überrascht war. Ich meine, wir lebten ja schließlich auf irgendeinem Dorf mitten auf dem Land. Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass meine Mutter irgendwie besonders war. Wir hatten kein Labor oder so. An drei Tagen in der Woche arbeitete sie in der Klinik der Kreisstadt und ansonsten zu Hause am Computer. Und so richtig wusste ich nicht, woran sie forschte. Klar, wenn wir hinten in der Scheune ein geheimes Labor gehabt hätten, wo sie Frankenstein gespielt hätte, oder wenn wir eine illegale Monsterzucht gehabt hätten. Aber so interessierte es mich eigentlich nicht wirklich. Ich war mit mir beschäftigt. Und das Beste war, dass sie absolut keine Zeit für mich hatte, während wir in Nürnberg waren. Und ich hatte wirklich großes Glück – dafür hätte ich kille irgend jemandem danken müssen –, die Convention fiel genau in die Mittsommerferien. Ich war also hoch gespannt vor Erwartung, genau wie meine Mutter, aber aus anderen Gründen, und deshalb redeten wir beide nicht sehr viel während der Fahrt. Wir waren noch nie mit dem Zug in die Stadt gekommen. Früher, als wir die Großmutter noch besucht hatten, waren wir immer von Großvaters Fahrer abgeholt und gebracht worden. Das war eine meiner besten Kindheitserinnerungen; die anderen Kinder wären fast geplatzt. Die hätten alles gegeben, wenn sie hätten mitfahren dürfen. Aber jetzt war ich bestimmt seit acht Jahren in keinem Auto mehr gesessen. Deshalb traf mich der Anblick der Stadt, als wir aus dem klimatisierten Bahnhof traten, genauso unvorbereitet wie die glühende Luft: Vor dem Bahnhof verliefen die Straßen vierspurig, und davon waren nur zwei für die Öffis. Die beiden anderen waren voller Autos. Und sie waren nie leer. Irgendwo fuhr immer eins. Ich meine, es gab Autos, in denen ein einziger Mensch saß. Und die Leute in den Bussen oder in den Stadtbahnen schauten nicht mal hin.

»Wow«, sagte ich. Ich konnte einfach nicht mehr sagen. Meine Mutter grinste trotz ihrer Nervosität:

»Das«, sagte sie ein bisschen stolz, weil sie ja in der Stadt aufgewachsen war, »ist noch gar nichts. Früher konntest du hier ohne Ampel nicht mal über die Straße.«

»Kille«, sagte ich, »absolut kille.«

»Hey, Großer«, sagte meine Mutter und stieß mich an, »wollen wir auch?«

Ich sah sie an.

»Autofahren?«, fragte ich. »Klar! Aber nur, wenn wir das Hotel noch zahlen können, ja? Ich will nicht eine Woche hungern, bloß um fünf Minuten Auto zu fahren.«

»Die Applied Genetics zahlen das Hotel. Und die Spesen«, sagte meine Mutter stolz, »das nutzen wir aus. So oft kommt man nicht in die Stadt. Komm, Jung.«

Wenn sie »Jung« sagte, war sie gut gelaunt. Ich folgte ihr neugierig. Aber sie ging nicht zu den Taxiständen. In unserer Kreisstadt gab es auch ein Taxi. Aber das fuhr fast nie, sondern stand meistens vor dem Rathaus herum, außer, wenn der Minister kam oder so.

Und meine Mutter ging noch einmal in den Bahnhof zu einem blau-weißen Schalter. Ich kam hin, als sie eben ihren Führerschein zeigte. Ich glaube, sie hatte das von Anfang an geplant, bloß um mein Gesicht zu sehen.

»Du hast einen Führerschein?«, fragte ich völlig perplex. »Zeig mal!«

»Im Auto«, sagte meine Mutter. Sie muss es wirklich genossen haben, damals, als wir zusammen über den Bahnhofsplatz gingen, zum Parkplatz, wo neben jedem Auto ein Butler stand und den Leuten die Tür aufmachte. Ich habe nie vergessen, wie schön sie aussah, als sie zu einem der Autos ging, die Arme auf das Dach stützte und den Kopf schräg legte:

»Na, Sohn«, sagte sie dann stolz, und ich hatte ein merkwürdiges Gefühl – wie wenn Weinen und Lachen gleichzeitig hochwollen und sich im Hals ganz komisch vermischen.

»Mama«, sagte ich, »du bist echt kille.«

Und dann stiegen wir ein, und sie fuhr uns zum Hotel. Sie hatte zwar bestimmt ein bisschen Angst, weil sie seit Jahren nicht mehr gefahren war, aber ich fand damals, dass sie es einfach toll machte.

So fing unsere Woche in Nürnberg an. Die eine große Woche.

2

Es war mein erstes Hotel, und ich war etwas enttäuscht. In meiner Vorstellung gab es mindestens einen Portier und eine verrauchte Hotelbar mit Pianisten. In Wirklichkeit checkten wir mit der Karte ein, die meine Mutter zugeschickt bekommen hatte. Immerhin saß jemand hinter der Rezeption, und es gab altmodische Brieffächer, wenn man sich die Post ins Hotel schicken lassen wollte. Allerdings waren die meisten leer und die anderen mit irgendwelchen Sachen zugestopft. Wir hatten sogar zwei Zimmer, aber nur ein Terminal, das außerdem ungefähr zwanzig Jahre alt war. Eins von diesen Teilen, bei denen man die Tastatur aus der Wand klappen musste. Aber die Aussicht war kühl. Man konnte über die ganze Altstadt hinüber zur Burg schauen. Es wurde allmählich dämmrig, und die Lichter der Autos und der Geschäfte und der Passagen flimmerten in der warmen Luft, die aus der Stadt aufstieg. Ich glaube, ich hing mindestens eine Stunde im Fenster, während meine Mutter auspackte und sich ein wenig hinlegte. Ich mochte es, zu sehen, wie der Abend kam.

»Warum wohnen wir eigentlich nicht bei Großmutter?«, fragte ich später in das dunkle Zimmer.

Es war eine Zeit lang still.

»Weil dein Großvater uns nicht sehen will«, sagte meine Mutter dann mit gelassener Stimme.

»Und warum nicht?«, fragte ich. Es war dunkel, da konnte man leichter sprechen. Ich war damals gerade auf der Kippe zwischen Kind und Erwachsenem, manchmal war meine Mutter einfach meine Mutter; konnte alles und tat alles wie selbstverständlich. Ich hätte zum Beispiel keine Ahnung gehabt, wie man in ein Hotel eincheckt. Und dann war ich schon wieder anders: hatte andere Gedanken, andere Träume, von denen meine Mutter – wie ich mir vorstellte – nichts wusste und nichts wissen sollte. Aber jetzt sah ich sie nicht, und sie mich nicht, und wir waren sonderbar verbunden.

 

»Weil …«, sie zögerte ein bisschen und sprach gedehnt, als müsste sie sich die Wörter gut überlegen, »weil dein Großvater und ich, also ich meine, mein Vater und ich, wir reden nicht mehr miteinander. Schon lange nicht mehr. Er …«

Ich wartete. Ein Streichholz wurde angerissen, und ich sah, wie meine Mutter rauchte. Sie tat das nicht oft und nie zu Hause. Der Rauch machte das Zimmer vertrauter. Draußen lockte die Stadt mit einem eigenartigen Sommerduft.

»Als ich dich bekam«, sagte sie stockend, »oder, na ja, besser, wie ich dich bekam, das hat ihm nicht gefallen. Oder, nein«, verbesserte sie sich, »das war’s nicht. Um genau zu sein, hat er mir nie verziehen, dass ich dich behalten hab.«

Ich war nicht sehr überrascht. Trotzdem war es komisch, das so ausgesprochen zu hören. Dass der eigene Großvater will, dass man tot ist. Nie geboren worden wäre.

»Hat er das so gesagt?«, fragte ich.

Meine Mutter lachte freudlos.

»Er hat noch ganz andere Sachen gesagt. Das möchtest du gar nicht wissen. Und es ist auch egal. Ich hätte dich nie weggeben können.«

»Und Großmutter?«, fragte ich und sah immer noch über die Stadt hinüber zur Burg. Wie seltsam das aussah: alt und neu. Und das Alte immer noch hoch über der Stadt.

»Großmutter. Ach je. Großmutter. Die hat immer alle immer viel zu sehr geliebt. Weißt du noch? Früher sind wir jedes Jahr hin. Aber dann – er hat sie wochenlang gequält, wenn wir weg waren. Und sie konnte sich nie entscheiden. Wir. Du. Er. Sie wollte, dass wir uns vertragen.« Sie schnaubte verächtlich: »Weißt du, manchmal ist es komisch, dass man von einem Menschen abstammt, der so gar nichts – überhaupt nichts mit einem zu tun hat. Fremder als eine andere Rasse. Vermisst du sie denn?«, fragte sie schließlich etwas überrascht.

»Na ja«, sagte ich, und ließ es dann aber, kühl sein zu müssen, »na ja, nicht wirklich. Aber ich hab sonst überhaupt keine Verwandten. Irgendwie will man doch wissen, wo man herkommt, oder?«

»Lass mal«, sagte meine Mutter mit ziemlich spröder Stimme, »das ist egal. Man kommt her, wo man herkommen will. Oder; anders, wo man ist, kommt nicht drauf an, wo man herkommt. Kille?«

Ich musste lachen. Wenn meine Mutter solche Sachen sagte, klang das immer falsch. Aber ich tat ihr den Gefallen.

»Kille!«, sagte ich. »Ich hab Hunger.«

»Ich auch«, sagte sie und hob die Beine aus dem Bett, »zieh dich um. Wir stürzen uns ins Nachtleben der Großstadt. Kommen Sie, Dom Hirte«, verbeugte sie sich vor mir und ließ mich sie unterhaken, »let’s paint the town red.«

»Domna«, sagte ich hoheitsvoll und führte sie zur Tür.

An diesem Abend durfte ich sogar Bier trinken. Im Zwinger, und den ganzen Abend fuhren unten Autos am Stadtgraben vorbei. Und die Linden blühten und wenn meine Mutter ein Mädchen gewesen wäre, hätte ich mich in sie verliebt.

3

Ich wusste ja damals nicht viel von dem, was meine Mutter machte. Ich habe später einmal gelesen, diese Jahre seien die »Wunderjahre« der Genetik gewesen; die goldenen Jahre, in denen alles möglich schien und die Zukunft wunderbar war. Ein bisschen merkte man davon damals in Nürnberg, auf dem Weltkongress der Genetiker; und man sollte es ja auch merken. Es gab ein umfangreiches Rahmenprogramm; Filme und Shows und Eröffnungen von Instituten. Eigentlich hätte ich zu allem mitkommen können, weil meine Mutter selbstverständlich immer zwei Einladungen bekommen hatte. Aber ich wusste schon jetzt, dass mich die meisten Sachen gar nicht interessierten, und hoffte nur, dass meine Mutter nicht auf die Idee kommen würde, mich überall als »männliche Begleitung« mitzuschleppen. Ich hatte meine eigenen Pläne.

Am Morgen nach unserer Ankunft wachte ich auf, wie ich immer aufwachte, plötzlich; hatte noch ein paar Traumfetzen im Kopf und merkte schon durch die geschlossenen Lider, dass die Sonne schien. Das Fenster war offen, und von unten hörte ich das Rauschen der Stadt; erregend, und das wilde Durcheinander von Tönen war ein einziges Versprechen. Ich stellte mich schlafend, als meine Mutter neben meinem Bett stehen blieb, bevor sie ging; genoss ihr Parfum und dass sie mich wohl ansah, bevor sie ging. Dann klappte die Zimmertür, und ich war allein!

Duschen. Keiner sagt: »Hey, lass mal noch ein bisschen Wasser übrig.«

Alleine im Hotel frühstücken. Der Kellner bringt alles. Milch in einem Glas, das beschlägt, während es gebracht wird. Kühles Obst. Und – ohne Wimpernzucken – ein Glas Sekt. Draußen der Sommer. Der Vormittag. Die Stadt.

Ich denke manchmal, dass dieser erste Tag der schönste war. Der Tag, an dem ich durch die Stadt wanderte und hinter allem, was ich sah, ein Anderes war, mehr; jedes Haus und jeder Mensch ein Versprechen; jede Aussicht ein Tor in den verwunschenen Garten; aus jedem Weg sich zehn neue auftaten. Da waren die chinesischen Straßenmusiker, die mit ihren stundenlangen, nie wirklich endenden Zen-Pop-Liedern überall in der Innenstadt zu sein schienen. Und einmal waren da ein E-Saxofonist und ein Gitarrist aus Brasilien. Bei denen saß ich vielleicht eine Stunde und wunderte mich, dass ich jetzt, wo ich doch im Zentrum meiner Sehnsucht saß, mich doch noch fortsehnen konnte, nach einem Brasilien, von dem dieser Mann sang. Später kaufte ich auf dem Markt mein Mittagessen ein. Es war witzig, dass in der Stadt der Genetiker die uralten Verordnungen auf dem Wochenmarkt immer noch galten. Japanische Touristen stellten sich vor den Marktständen unter die vorgeschriebenen Schilder »Genetisch verändert!« und ließen sich fotografieren. Manchmal hatten sie dann noch eine Bananas oder vielleicht auch eine Calla-Chee in der Hand, die sie kaum halten konnten, und zogen wilde Grimassen, als seien sie selbst genetisch verändert. Das fanden sie komisch. Ich kaufte bloß Oliven und Maisbrot und ein paar Tomaten. Tomaten. Meine Mutter sagte immer, dass mit den Tomaten alles angefangen hatte. Die hatten sie zuallererst verändert. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie früher ausgesehen hatten. Tomaten waren schon immer rot.

»Haben Sie auch andere Tomaten, Dom?«, fragte ich höflich.

»Was?« Der Gemüsehändler starrte mich an.

»Na, ungenetische«, sagte ich.

»Die kannst du dir gar nicht leisten, Junge«, grinste der Händler, »biologische kosten das Stück sechs Euro.«

»Ich will sie mal sehen!«, sagte ich. Der Händler bückte sich und holte eine Kiste aus der Kühlung: »Bitte sehr. Aber nur anschauen, nicht anfassen.«

Ich war enttäuscht. Sie waren vielleicht ein wenig kleiner, aber sonst ganz normal.

»Wo ist der große Unterschied?«, fragte ich.

»Sie schmecken nicht nach Tomaten«, grinste der Händler, »sondern …«, er zögerte bewusst.

»Sondern?«, fragte ich.

»Nach Sex«, lachte der schließlich, »die sind fruchtbar. Pflanzen sich fort. Deshalb kaufen sie auch nur … na ja, du verstehst schon.« Er zwinkerte und lachte roh. Ich verstand schon, zumindest in etwa, und wurde rot.

»Danke«, sagte ich rasch und ging schnell weiter. Hinter mir lachte der ganze Marktstand.

Landei!, schimpfte ich mich im Stillen, aber dann musste ich auch lachen. Tomaten!

Später saß ich auf der von der Sonne warmen Burgmauer, aß Maisbrot, Oliven und Tomaten und sah über die westliche Vorstadt ins Weite.