Kreuz Teufels Luder

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Liliths Tochter



Als Lilith wieder schwanger war, wusste sie nicht, wer der Vater war. Sicher war nur, dass ihr erstes Kind das von Jakob war. Als Lilith die Schwangerschaft bemerkte, wollte sie das Kind nur loswerden. Sie versuchte es mit Schlaftabletten und Alkohol, doch es gelang ihr nicht, weil sie zu wenig davon nahm. Lilith hatte Angst, sie könnte selber sterben. Sie versuchte es damit, die Treppen hinunterzufallen, bis sie sich einen Rippenbruch holte. Doch das Kind in ihr war fest entschlossen, Liliths Un­terfangen einen Strich durch die Rechnung zu machen. Lilith versuchte, es mit einer Stricknadel aus sich herauszubekommen, was ihr einen Spitalaufenthalt und lange Bettruhe brachte. Lilith war fast im siebten Monat schwanger und die Ärzte versuchten, das Kind zu retten. Und es half kräftig mit, weil es für sich entschieden hatte, das Licht dieser Welt zu erblicken. Die Ärzte hatten Lilith klipp und klar gesagt, sie hätte Glück, wenn es ein gesundes Kind würde. Das Kind hatte gewonnen, und Lilith war verzweifelt, fand sich aber damit ab, dass es nun wohl auf die Welt kommen sollte.



Lilith bekam Besuch von der Behörde der Gemeinde, in der sie gerade lebten, und das gefiel ihr überhaupt nicht. Man schlug ihr vor, den Buben in einem Heim unterzubringen, und legte ihr ans Herz, das Kind, das sie erwartete, zur Adoption freizugeben. Lilith wollte nicht und bekam es mit der Angst zu tun, solche Angst, dass sie noch am selben Tag den Wohnort wechselte, ihre drei Zuhälter immer im Schlepptau. Einer war Piet­ro aus dem Tessin, einer Kurt aus dem Berner Oberland, und der Dritte war Jakob. Alle kassierten ein, und wenn sie genug hatten, verliessen sie sie für ein paar Tage oder Monate, damit der nächste wieder sein Geschäft machen konnte. Waren sie knapp bei Kasse, tauchten sie wieder auf. Sie reichten Lilith in der ganzen Schweiz an ihren Stammtischen herum.



Lilith war abgestumpft, verbraucht und hatte alles Mitgefühl verloren. Luisa kam im November 1961 in einem kleinen Dorf zur Welt, ohne Arzt und Hebamme. Lilith wollte nicht ins Spital, weil sie fürchten musste, dass man ihr das Kind wegnehmen würde. Lilith roch von nun an immer, wenn die Behörden bald vor der Tür stehen würden. Sie zog mit ihren beiden Kindern von einer Gemeinde in die andere und konnte sich so der Justiz entziehen.



Auf Luisa folgten noch Mascha, Alioscha, Mara, Mira, Lisa und als Letztgeborene Veronica.





Zwei



Ich, Luisa, liebte meinen Bruder Arabat, der sehr ängstlich war, blond gelocktes Haar hatte und wie ein blasser Engel aussah. Wir lebten seit Kurzem in einem Häuschen am Dorfrand, auf einem Fabrikareal, wo es immer nach Eisen roch. Wir waren weggezogen aus einem Haus, das meine Mutter Lilith nicht behalten durfte. Denn es gab dort keinen Strom und kein Wasser, und es war nicht schön dort für uns Kinder.



Ich war blondrot, klein, frech und grenzenlos lebendig. Arabat und ich stritten uns nicht, wir spielten miteinander, und ich gab den Ton an. Meine Mutter Lilith durften wir nicht stören, wenn sie Besuch von Männern hatte. Wir durften dann nur in unserem Zimmer sein. Arabat hielt sich an ihre Anweisungen, ich, Luisa, aber nicht. Mir war im Zimmer langweilig. Manchmal hatte ich Hunger, eigentlich immer, denn Mutter Lilith kochte selten für uns. Also musste ich mir selbst helfen und in der Küche nach etwas Essbarem stöbern. Tisch und Stühle halfen mir, in die höheren Gegenden zu gelangen. Am Abend vor dem Schlafengehen bekam Arabat immer noch Muttermilch. Arabat genoss diese Zweisamkeit am liebsten ungestört, weil die Mutter am Tag kaum Zeit für uns hatte. Ich gewährte ihm seine Zeit. Dieses Muttermilchritual gefiel mir nicht. Ich ertrug diese Nähe nicht.



Mutter Lilith zwang mich manchmal trotzdem an ihren widerlichen Busen, an dem so mancher nuckelte und der so voller verschiedener Gerüche war. Da half nur kräftiges Beissen, um dieser Nähe zu entkommen. Sie suchte sie immer wieder, doch ihre Zuckerstimme nützte nichts und auch nicht ihr süsses Geschwätz: «Meine Prinzessin, mein Schätzeli und Zuckerpüppchen!»



Arabat schlief oft an ihrem Busen ein. Mich brachte Lilith wortlos zu Bett, was wohl als Strafe gedacht war, weil ich ihren Busen ablehnte. Wir standen oft wieder auf, um hungrig in der Küche etwas Essbares zu suchen. Egal ob es ein Glas Gomfi war oder einfach ein wenig Brot, wir assen alles, was unsere Augen sehen und unsere Hände greifen konnten.



Lilith war nachts auf der Jagd nach Männern, und wir waren allein. Wenn gerade ein Zuhälter bei uns wohnte, waren wir bei dem. Die Zuhälter hatten nicht viel übrig für uns Kinder. Sie sassen am liebsten vor einem Harass Bier und Frauen, die wir nicht kannten. Wir mussten nur leise genug sein, dann konnten wir machen, was wir wollten. Wenn kein Zuhälter da war und wir ganz allein waren, ging es laut zu und her. Die Küche wurde zum Bergsteigerparadies. Arabat und ich rückten den Küchentisch vor den grossen Schrank, wo Mutter Lilith meistens ein Kilo Zucker, Schokolade, Brot und verschiedene Gomfis aufbewahrte. Dazu eine Unmenge Raucherwaren und Flaschen mit stark riechendem Wasser, manchmal war es sogar farbig. Wenn wir es probierten, brannte uns der Mund, und wir mussten heftig husten. Und wenn wir zu viel von diesem Zeug getrunken hatten, mussten wir kötzeln. Um an die Flaschen heranzukommen, stellten Arabat und ich einen Stuhl auf den Tisch und auf diesen Stuhl nochmals einen Stuhl. Diese Sache mit dem Tisch und den Stühlen war unser Abenteuer. Wir waren auf Bergtour. Weil Arabat Angst hatte, den Berg zu besteigen, stürmte ich den Gipfel und fiel manchmal auch her­unter, wenn er zu beben anfing. Mit der Zeit aber wusste ich genau, wie ich mich hinaufbewegen musste.



Die Nächte, in denen unsere Mutter auf der Jagd war, dauerten lange. Wir hatten viele Ideen, seilten die Flaschen an Schnüren herunter und wieder hoch auf den Gipfel – das war die Kunst des Gleichgewichts. So manche Flasche ging in die Brüche. Solange wir aber alles auf- und wegräumten, würde uns nichts geschehen. Das wussten wir. Oft war ich ganz klebrig von der Gomfi und dem Zucker, sogar meine Haare klebten. Mit der Zeit breitete sich auf meinem Kopf so etwas wie ein Filzteppich aus, denn Waschen war für uns nicht alltäglich, das machte man nur ab und zu. Da wir uns selbst überlassen waren, kam es auch gar nicht darauf an, was für Kleider wir trugen. Alles roch süss und manchmal auch leicht nach Urin. Durfte ich einmal in warmem Wasser baden, fand ich das schön, aber ich vermisste danach den Geruch nach Süssem und Urin. Diese Gerüche verliehen mir ein Wohlgefühl, und ich fühlte mich sicher in meiner Welt.



Wenn wir unsere Bäuche gefüllt hatten, gingen wir schlafen, und ich wickelte mich in das klebrige, süss riechende Leintuch. Arabat wimmerte oft vor sich hin und lullte mich damit langsam in den Schlaf. Arabat war traurig, aber mir gab er mit seinem Wimmern das Gefühl, nicht allein zu sein. Arabat war der einsamste Junge, den es auf der Welt gab. Arabat und ich standen am Morgen immer allein auf, denn Mutter Lilith schlief meist noch und war manchmal gar nicht zu Hause. Dann fing die Suche nach Essen wieder von vorne an. Am Abend gingen wir mit den Kleidern ins Bett und standen am anderen Tag fer­tig angezogen wieder auf. Wir wechselten die Kleider erst, wenn Mutter Lilith endlich Zeit und Lust dazu hatte, uns frisch einzukleiden. Aber diesen frischen Geruch mochte ich nicht.



Wenn am Morgen niemand zu Hause war, machten Arabat und ich uns auf den Weg in die grosse weite Welt hinaus, obwohl Mutter Lilith und Vater Jakob uns dies verboten hatten. Die Menschen, denen wir draussen begegneten, verstanden wir nicht. Und diese Menschen verstanden auch uns nicht. Die grosse Welt war uns fremd. Aber für mich war sie voller Reize. Ich war sehr neugierig und kannte keine Grenzen. Alles, was ich sehen, riechen und anfassen konnte, war für mich wie ein grosses Abenteuer. Bei diesen Ausflügen in die Welt hinaus konnte ich mein kleines Herz klopfen hören. Das gefiel mir sehr, und ich fühlte mich lebendig. Ich hatte keine Angst. Ich war dort draussen ganz zu Hause.



Oft kam es vor, dass ich aus Gärten Blumen holte. Die Menschen, die mich dabei erwischten, waren lieb und lächelten mich an, auch wenn ich mit ihnen redete und wir uns nicht verstanden. Da ich ein kleines Mädchen war und sehr anders war als andere kleine Mädchen, hatte man nur Mitleid mit mir. Ich wurde sogar mit Essen belohnt. Es war viel besser als das, was ich zu Hause bekam. Ich genoss das Mitleid sehr. Es gab mir das Gefühl, alles nehmen zu dürfen und überall eintreten zu können.



Mutter Lilith freute sich über die Blumen, die ich ihr von den verbotenen Ausflügen mitbrachte, ermahnte mich aber, zu Hause zu bleiben. Meine zerzausten Blumen standen dann im Wohnzimmer, und ich dachte, wie schön der Raum doch war und wie gut es roch. Weil die Blumen, die ich pflückte, im blauen Dunst einen guten Duft verbreiteten, gewöhnte ich mir an, nur solche Blumen zu pflücken, die besonders intensiv dufteten. Mutter Lilith wurde von den Leuten im Dorf oft aufgefordert, mir zu sagen, ich solle das Stehlen, wie sie es nannten, doch unterlassen. Meiner Mutter war das aber einerlei, denn ich wusste mich ja selbständig zu bewegen. So hatte sie ihre Ruhe und musste mich und meinen Bruder nicht beschäf­tigen.



Einmal aber ging ich viel zu weit. Das brachte Mutter Lilith wieder das Sozialamt ins Haus, wovor sie grosse Panik hatte. Auf Entdeckungsreise im Dorf kamen wir wie so oft an einem Haus vorbei, das einen grossen Reiz auf mich ausübte. Ich wollte dort unbedingt die Umgebung erforschen, und da die Besitzerin immer sehr lieb war, dachte ich nicht an etwas Unrechtes. Es gab dort eine Scheune, an der ein Strauch mit lauter stark duftenden Blüten emporwuchs, und viele fleissige, summende, fliegende Tierchen kamen und gingen, woher und wohin wusste niemand. Mit meinen klebrigen Händen fing ich an zu buddeln, und Arabat half kräftig mit. Die Finger taten mir bald weh und verkrampften sich. Es stellte sich als zu schwierig heraus, den Strauch auszugraben. Er hatte so viele Wurzeln, die sich nicht aus der Erde lösen wollten. Der Strauch konnte nicht loslassen, und das ärgerte mich so, dass ich böse wurde und anfing, seine Blüten abzurupfen. Wütend zerstörte ich seine Wurzeln. Ich stopfte so viele abgerupfte Blüten in meine Kleider, wie ich nur konnte, und auch in die meines Bruders – egal, ob sie wieder herausfielen. Wir stopften uns richtig aus damit. Bald sah der Strauch erbärmlich aus, und mir kam es vor, als würde er weinen, ja sogar schreien, und da überkam mich ein ungutes Gefühl. So schnell und zielgerade waren Arabat und ich noch nie nach Hause gerannt, mit der Angst im Nacken, es könnte uns jemand folgen. Zu Hause angekommen, war ich gar nicht mehr so ausgestopft, und auch Arabat nicht. Es waren nur noch wenige Blüten da, die aber noch immer ihren intensiven Duft verströmten, und wir rochen beide so herrlich!

 



Mutter Lilith, im Morgenrock, war diesmal gar nicht begeistert. Sie murmelte vor sich hin und nahm einen Schluck aus einer Flasche. Sie schloss uns im Zimmer ein, und da sollten wir bleiben. Vater Jakob war wieder einmal zu Hause, und ihm gefiel das nicht. Die beiden stritten sich laut, als wäre ein Gewitter ausgebrochen. Ich hörte, wie Tisch und Stühle krachten, verzweifelte Schreie – nichts, was mich ängstigte. Wenn die beiden zusammen waren, war das ihr Umgang miteinander. Arabat aber kroch dann immer unter die Decke, wo er für eine Weile blieb, so lange, bis Vater Jakob ins Zimmer trat und uns einen Würfelzucker gab. Ich wusste nicht, warum wir den bekamen, aber er schmeckte und machte uns zufrieden.



Kurz darauf klingelte es an der Tür. Es klingelte öfter bei uns, doch diesmal stand kein Mann vor der Tür, sondern eine Frau, die mit Lilith reden wollte. Vater Jakob hörte, wie Mutter Lilith wetterte. Sie fluchte vor sich hin, liess die Frau kaum zu Wort kommen und bedrohte sie mit einem Stuhl, sodass Vater Jakob eingreifen musste. So hatte ich meine Mutter noch nie ge­sehen. Wie sie mit fremden Menschen umging, machte mir Angst. Trotzdem beobachtete ich alles ganz genau von der Schlafzimmertür aus, sodass ich, falls es schlimm würde für mich, schnell die Tür schliessen konnte. Die Frau zeigte immer wieder auf mich, wedelte mit Blüten vor sich herum, als wollte sie ihren guten Duft im Raum versprühen. Mutter Lilith drückte sie zur Tür hinaus und Vater Jakob versuchte, Lilith zu besänftigen, was ihm nicht gelang. Es gab lautes Geschrei, bis die Tür zuknallte. Ich schämte mich, denn ich war schuld. Der Strauch hatte mich verraten. Ich, Luisa, war schuldig, weil ich ihm wehgetan hatte. Lilith und Jakob stritten heftig weiter, und Lilith warf Dinge nach ihm – er duckte sich ständig –, bis das Zimmer nicht wiederzuerkennen war für meine Kinderaugen.



Ich schloss die Tür hinter mir zu. Ich war ganz still, denn ich wusste, jetzt musste man die beiden in Ruhe lassen. Ich musste still sein, nicht da sein, mich gab es nicht. Ich musste abwarten, wie immer, wenn sich Vater und Mutter stritten. Ich musste sie ihre farbigen Getränke trinken lassen, und wenn ich ganz still in der Stille verharrte, konnte ich die komischen Geräusche der beiden hören, und ich wusste, bald darauf würde Vater Jakob uns wieder verlassen. Es war immer so, und es machte mir nichts aus. Wenn Vater Jakob gegangen war, kam meistens ein anderer, der brachte uns keinen Würfelzucker. Aber meine Mutter bekam jedes Mal etwas in die Hand, und ich musste an Würfelzucker denken.



Wieder einmal hatte Mutter Lilith bei uns zu Hause ein kleines Männerfest. Wir durften nicht aus unserem Zimmer, obwohl wir nicht schlafen konnten. Ich hatte aber keine Lust mehr, schlaflos im Zimmer zu liegen und diesem Treiben zu­zuhören. Es war fürchterlich laut, und der Gesang der Herren machte mir in der Dunkelheit Angst. Ich wollte bei meiner Mutter sein. Ich ging aus dem Zimmer, ohne zu wissen, was mich draussen erwartete. Ich hätte es bleiben lassen sollen.



Bis dahin war das Kinderzimmer für mich ein schützender Ort gewesen, dort konnte mir nichts geschehen. Es war unsere Welt, meine und die meines Bruders. Für mich war unser Zimmer harmonisch und lieb, voller Kinderträume, Farben und Fantasie, auch wenn es unordentlich war. Mein Bruder und ich waren eins in dieser Welt, die nur uns gehörte. Mit dem Öffnen der Tür hatte ich das Tor zur Hölle geöffnet, und es gab kein Zurück mehr. Der scharfe Geruch, die Erregtheit der Stimmen, das völlig Verruchte – das alles drang nun in unser Zimmer, das bis dahin mein Schutzraum gewesen war.



Die Männer sassen auf jeder brauchbaren Fläche, einige standen, die meisten hielten eine Flasche in der Hand und andere nuckelten an braunen, dicken, stinkenden Stumpen, die wie Holz aussahen. Einige hatten dicke Bäuche, andere waren dünn, und bei jedem hing zwischen den Beinen etwas herunter. Bei zweien oder dreien hing es nicht, sondern stand hervor. Es sah aus wie Würste. Manche hatten ihre Würste in den Händen und bearbeiteten sie, alleine oder gegenseitig. Einer beugte sich mit dem Bauch über den Tisch, hielt sich verkrampft mit beiden Händen am Tischrand fest, und ein zweiter hinter ihm war in einer Bewegung, die ich noch nie gesehen hatte. Die Geräusche unter dem Gesang und der Musik waren erschreckend. Meine Mutter sass auf dem Sofa, den Rücken zu mir gewandt. Sie hatte vier Beine, und ihre Arme waren verdreht. Ihr langes, blondes, gelocktes Haar war das einzig Liebliche und Vertraute an ihr. Ich wusste nicht, wo ich war, und dachte, ich hätte mich einfach verirrt. Ich stand da und konnte mich nicht bewegen, ich schaute und schaute und fand doch nichts mir Bekanntes. Ich spürte, wie alles an meinem kleinen Körper hart wurde, ich wurde plötzlich so schwer und konnte kaum mehr atmen. Ich sah Farben an diesen Menschen, die ich noch an keinem gesehen hatte. Ich atmete Gerüche ein, die mein kleines Hirn nicht zuordnen konnte. Ich spürte, wie kleine, eiskalte Tropfen meinen Körper bedeckten und mich zum Frieren brachten. Ich zitterte, und es hörte nicht mehr auf. Ich stand da und konnte nicht zurück ins Bett, meine kleinen Füsse waren wie festgenagelt. Ich war gefesselt, wollte rennen, wollte in mein Zimmer, doch es ging einfach nicht.



Ich weiss nicht, wie lange ich da stand, bis mich einer dieser wurstgreifenden Männer bemerkte und auf mich zukam. Er brummte etwas vor sich hin, und ich starrte einfach in die Menge, ohne etwas zu sehen, als schweiften meine Gedanken weit, weit weg und verliessen mich. Die Männer gingen vom Tisch weg, und ich stand plötzlich darauf wie ein Brett. Für sie war ich wie ein zartes Erdbeerchen, so jung, so frisch, sodass sie mich verzehren wollten. Ich aber wollte ein Radieschen sein, möglichst scharf bei jedem Biss. Die Männer standen rund um den Tisch, klatschten in die Hände, jaulten und grunzten und hatten den Blick dabei immer auf mich gerichtet. Je mehr sie mich mit ihren gierigen Blicken verschlangen, desto leiser wurden die Stimmen und desto mehr verdufteten die Gerüche. Als Mutter Lilith mich lächelnd ansah, spürte ich meinen Körper plötzlich nicht mehr. Ich war aufgelöst, gespalten, meine Augen waren an der Decke und konnten von dort alles mit ansehen. Ich sah meinen kleinen Körper auf dem Tisch, erstarrt. Ich sah, wie Hände diesen kleinen Körper berührten – zu viele Hände. Ich spürte nichts, ich konnte sehen, aber nicht fühlen, auch nicht, als meine Mutter mir die Kleider auszog und mich berührte. Ich wachte klatschnass in meinem Bett auf, und die Angst hielt mich fest in ihrem Griff.



Mit dem Öffnen dieser Tür zur Hölle war mein Kindsein vorbei. Von dieser Nacht an konnte Mutter Lilith mehr Geld verdienen, und mein Körper musste ihr und ihrer Männerwelt dienen. Sie nahm sich jetzt viel mehr Zeit für mich, auch wenn sie müde war von der Nacht. Mutter Lilith wollte, dass ich mit ihr tanze, und dafür stellte sie mich auf den Tisch. Das Tanzen gefiel mir aber nicht, trotz der Musik. Schon wenn sie mich auf den Tisch heben wollte, schrie ich laut in den Raum. Sie konnte mich nicht zum Tanzen bringen, auch nicht, wenn sie Arabat mit auf den Tisch stellte. Kaum war ich hinuntergeklettert, stellte mich die Mutter wieder auf den Tisch. Dieser Kampf mit ihr und dem Tisch ermüdete mich sehr. Ich versuchte, dem Tisch, so gut es ging, fernzubleiben. Ich spielte auch keine Spiele mehr mit ihm. Es gab kein Bergsteigen mehr. Wenn wir einmal gemeinsam assen, setzte ich mich auf den Boden, denn der Tisch war zu meinem Feind geworden, und ich hatte Angst vor ihm.



Von dieser Nacht an hatte ich mit der Angst zu kämpfen, und meine Abenteuerlust war weg. Ich verhielt mich nun wie mein Bruder Arabat, blieb auch oft im Zimmer, in mich gekehrt und unauffällig. Nur manchmal besuchten mich die Lebensgeister doch wieder und ich stellte fest, dass ich noch voller Ideen war und mich wieder spürte. Ich war immer froh, wenn Mutter Lilith nicht da war. Das hiess für mich, dass ich nicht auf den Tisch musste. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte.



Arabat und ich gingen wieder auf Erkundungstour. Wir wohnten inzwischen schon längere Zeit dort, und jeder kannte uns, denn wir waren die Kinder der Vaganten, so nannte man uns. Man hielt im Dorf Sitzungen ab darüber, wie es weitergehen sollte mit uns Vagantenkindern, die inzwischen allen ein Dorn im Auge waren. Das Mitleid war verschwunden. Wir trübten das Dorfbild, man wollte uns nicht mehr. Man hatte einiges in Erfahrung gebracht über Mutter Lilith, und es wurde auch viel geredet. Man wusste, dass Mutter Lilith eine Fahrende war und dass man sie als Kind der Mutter weggenommen hatte. Die Leute machten sich keine Gedanken darüber, welcher Arbeit Lilith nachging. Vielmehr störte es sie, dass Lilith eine Fahrende war, und dafür schämte man sich in der Gemeinde. Alle Augen waren wie Feldstecher auf uns gerichtet, das heisst, auf Mutter Lilith. Die Stadt, aus der wir gekommen waren, forderte die Gemeinde auf, uns Kinder aus diesem Milieu zu holen. Man stritt sich aber noch darüber, wer bezahlen müsse.



Unsere Erkundungstour an einem schönen Tag war der Gemeinde dann aber doch zu viel. Es war heiss, und wir waren uns selbst überlassen. Arabat und ich wanderten zum Dorfbrunnen. Wir mussten dorthin ein schönes Stück Weg unter die Füsse nehmen und grosse Strassen überqueren. Der Weg führte an der Gemeindeverwaltung und am Polizeiposten vorbei. In diesem Dorf thronte die Kirche über dem Dorfbrunnen, und wenn man in die Kirche gelangen wollte, musste man viele Treppen steigen. Der Brunnen erschien unter diesem herrischen Gebäude gar winzig, doch für uns Kleine war er gefährlich.



Wir zogen uns aus und kletterten in den Brunnen, der randvoll mit Wasser gefüllt war und kräftig vor sich hin plätscherte. Das Wasser war kalt, und es ging eine Weile, bis sich unsere Körper dem kalten Nass angepasst hatten. Arabat und ich tobten uns aus, wir waren fröhlich und vergassen unseren Kummer. Es war so heiss, dass der Asphalt sofort wieder trocknete, wenn er mit Wasser in Berührung kam. Uns gefiel das so gut, dass wir kaum nachkamen damit, die Strasse zu benetzen.



Plötzlich standen zwei Uniformierte vor uns. Sie rochen gut und lächelten mich freundlich an. Ich stand immer noch im Brunnen, und beim Anblick ihres Lächelns, das ihre weissen Zähne zum Vorschein brachte, fing ich an zu frösteln. Ich sah das freundliche Lächeln nicht mehr, ich sah nur noch, dass ihre Hände mich packen und aus dem Brunnen heben wollten. Mir war, als stünde ich auf dem Tisch, und ich fing an zu schreien. Ich wollte nicht aus diesem Brunnen, ich wollte nicht angefasst werden. Da konnten sie noch so gut riechen und eine Uniform tragen, das nützte mir nichts. Ehe ich mich versah, fand ich mich schreiend in einem Auto wieder, und das ängstigte mich noch mehr, denn ich war noch nie in so einem Ding gefahren. Der Gestank des Autos kam mir verdächtig vor. Ich schrie vor lauter Verzweiflung, aber es half mir nicht weiter. Einer der Männer drückte mich auf seinen Schoss und hielt mich fest in seinen kräftigen Armen, die mir fast den Atem nahmen. Ich kam mir vor wie eine Zitrone, die ausgepresst wird, und konnte keinen Widerstand leisten. Ich schrie bis zur Erschöpfung, die mich lähmte und ruhig werden liess. Ich ergab mich diesen kräftigen Armen, liess sogar meinen Kopf auf seine Brust sinken und spürte dort ein schnelles Pochen, das mich ganz zur Ruhe brachte.



Arabat hingegen hatte Freude an seiner ersten Autofahrt, die uns nach Hause zu Mutter Lilith brachte. Als die Autotür geöffnet wurde, hielt der Uniformierte mich immer noch fest in den Armen. Ich war froh, von ihm getragen zu werden, denn ich spürte meine Beine nicht mehr und meine Füsse hätten mich nicht getragen, so erschöpft war ich. Der andere Mann führte Arabat an der Hand und klingelte an der Haustür. Mutter Lilith öffnete, und als sie uns mit den beiden Männern erblickte, begannen ihre Augen zu funkeln. Sie riss mich aus den Armen des Uniformierten und zog auch Arabat zu sich heran. Sie schrie, stampfte und schnaubte wie ein Wildschwein. Sie stellte uns so grob in die Wohnung, dass ich hinfiel und mir wehtat.

 



Die beiden Männer wollten sie besänftigen, ihre Stimmen klangen für mich wie ein Lied. Je sanfter dieses Lied für mich klang, desto mehr erzürnte es aber Mutter Lilith. Ihr Körper bebte, ebenso ihre Stimme, die sich überschlug. Sie kreischte, und ihre Hände fuchtelten durch die Luft. Ich stellte mir vor, wie sie gleich vom Boden abheben würde, und liess mich von diesem Gedanken treiben, bis die Tür knallte und mich in die Wirklichkeit zurückholte. Mutter Lilith stand da, den Rücken fest an die Tür gepresst. Sie bebte noch immer am ganzen Körper, dessen Hitze mir entgegenströmte. Plötzlich brach sie wie ein Sandberg in sich zusammen, schluchzte und kam mir nicht mehr so stark vor. Auch die Hitze war weg, und ich hätte Mutter Lilith mit dem kleinen Finger umstossen können. Ich stand da und sah sie an und verstand gar nichts von diesem Leben, auch wenn ich noch so viel darüber nachdachte.



Als sich Mutter Lilith von dem Schrecken erholt hatte und uns wieder anlächeln konnte, stellte sie das Radio ein. Musik ertönte, und sie sang mit. Immer wenn sie mitsang, hiess das für mich, dass ich bald auf dem Küchentisch tanzen musste. Ich fügte mich und stieg auf den Tisch, zur Freude meiner Mutter, die ganz entzückt war von meinem kindlichen Tanz.



*



Nach dem Besuch der Uniformierten zogen wir noch am gleichen Tag weg in einen anderen Kanton. Wir durften nichts mitnehmen, liessen alles stehen und liegen – nicht einmal un­sere Spielsachen packte Mutter Lilith ein. Wieder brachen wir in ein frei stehendes Haus ein, abseits vom Dorf, wo wir keinen Kontakt mit der Bevölkerung hatten. Auch keinen Strom, das Kerzenlicht musste genügen. Und alle Wasserhähne waren versiegelt. Wasser holten wir mit dem Eimer aus dem Fluss.



Dank einem der vielen Männer, die Mutter Lilith kannte, zo­gen wir von dort bald weiter an einen Ort, wo wir wieder Licht und Wasser hatten. Wichtig war, dass wir eine Bleibe weit weg von den anderen Bewohnern hatten. So konnte meine Mutter den Männern ihre Dienste anbieten, ohne die Harmonie der Gemeinde zu stören. Sobald wir jeweils einen Ort fanden, wo wir bleiben durften, lud meine Mutter all ihre Herren und auch neue zu einem ausschweifenden Abend ein. Ich wurde dann am Nachmittag davor gewaschen, und meine Haare wurden zurechtgemacht, sodass sie leicht und luftig waren und gut rochen. Mir war immer angst und bange, und mein kleines Herz wurde schwer, es fühlte sich an, als rutschte es in mir hinunter. Dann konnte ich nicht Pipi machen vor Angst, mein kleines Herz könnte mit hinauswollen.



Am Anfang stand ich in einem schönen, geblümten, orange­farbenen Kleidchen da, auf das ich stolz war, in weissen Kniesöckchen und hellblauen Lackschuhen. Mein rotblondes Haar war zu zwei kleinen, lockigen Schwänzchen hochgebunden, manchmal auch nur zu einem. Für solche Abende hatte ich auch ein besonderes Höschen, das mir sehr gut gefiel, denn hinten hatte es rosa Rüschen. Was ich anhatte, zogen andere Mädchen an Festtagen und für die Kirche an, um niedlich auszusehen. Warum durfte ich nicht auch am Tag niedliche Kleider tragen, warum nur in der Nacht und für Mutter Lilith und ihre Welt? Ihre Welt war doch nicht meine!



Auf dem Tisch tanzend in der Tiefe der Nacht, bei lautem Männergesang und schlechtem Geruch, holte ich die Dämonen herbei, damit diese Teufelin sie voll und ganz befriedigen konnte. Meine Mutter zog mich Stück für Stück aus und trieb es vor meinen Augen. Wenn sie und der Mann sich der Lüsternheit hingaben, richteten beide ihre Augen auf meinen kleinen Körper, sie lächelnd und der Mann voller Lust, wie ein Stier stossend und mit tiefem Geröhre!



Das reizvolle Höschen mit den Rüschen durfte ich je nach Kundschaft länger oder weniger lang tragen, bis es mir ebenfalls ausgezogen wurde. Dann legte mich meine Mutter auf den Tisch und eine Kälte überkam mich und meine Kinderseele verliess diesen kalten Körper und meine Augen sahen von der Decke herab dem Treiben dort unten zu, denn die Dämonen hatten nun freie Bahn, sie durften sich an dem Frischfleisch vergehen, jeder auf seine Weise. Meine Mutter schaute dem Treiben in ihrer rot-schwarzen Reizwäsche zu.



Wenn meine Seele zu langsam war, um sich von mir zu entfernen, und meine Augen bei mir blieben und nicht zur Decke hochgingen, dann taten die Männerpranken mei