Meine Antwort auf Ihr Buch, Herr Sarrazin

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Fluchtgründe

Sergej ist aus Russland und seit 21 Monaten in Deutschland. Seitdem lebt er mit dem Status einer Duldung im Asylbewerberheim in Freiberg. Im vorigen Jahr hat er am BSZ die Abschlussprüfung in der Vorbereitungsklasse mit berufsbildenden Aspekten mit der Note „Eins“ bestanden. Er ist sehr intelligent, sprachgewandt und vielseitig interessiert. Eines Tages hat er mir seine Geschichte erzählt.

Er lernte vier Jahre an einem Kolleg in Moskau, um später Informatik studieren zu können. Weil er sich dort mit dem Lehrkörper anlegte, musste er das Bildungsinstitut vorzeitig verlassen, so dass er keinen Abschluss besitzt. Sergej ist ein Mensch, der alles hinterfragt und Missstände aufdecken will. Das wurde ihm zum Verhängnis, als er in seiner Heimatstadt eine Kundgebung organisierte, die sich gegen den korrupten Bürgermeister richtete. Die Polizei verhaftete ihn und er musste zwei Tage im Gefängnis verbringen. Von dort aus gelang ihm die Flucht nach Deutschland, wo er seitdem als Untergetauchter lebt. Doch er hat bisher keine Chance, hier ein normales Leben zu führen, da bis heute sein Asylverfahren läuft. Mit seinem Heimatland und mit seiner Familie hat er abgeschlossen.

Er lebt allein in Deutschland, hat also keine Verwandten hier, die ihm helfen könnten, so dass er auf die Unterstützung fremder Menschen angewiesen ist. Zwei seiner Bezugspersonen sind Herr Z. vom Jugendmigrationsdienst der AWO in Chemnitz und Herr L. vom Café INKA in Freiberg. Da er oft Langeweile hat, besucht er uns manchmal in der Schule und wir laden ihn zu Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts ein. Sergej ist ein sehr sparsamer Mensch, der langfristig plant und genau weiß, was er will. Als er noch für den Einkauf von Lebensmitteln Gutscheine bekam, fragte er mich, ob ich für einen Teil davon für meinen Bedarf einkaufen würde. Ich tat ihm den Gefallen, weil ich keinen Nachteil, aber er den Vorteil hatte, zu Bargeld zu kommen, das er u. a. für die Bezahlung seines Passes sparen will. Der Wert eines Gutscheines betrug pro Tag 4,45 Euro, die Sergej aufgrund seiner haushälterischen Lebensweise für sich nicht in Anspruch nehmen muss.

Wenn er sich mit mir unterhält, will er immer auf eventuelle Grammatik- oder Aussprachefehler hingewiesen werden. Ja, er macht mich sogar manchmal auf einen Schreibfehler an der Tafel aufmerksam.

Im November vorigen Jahres erkrankte Sergej an einer schweren Lungenentzündung, so dass er einige Zeit im Krankenhaus verbringen musste. Dort besuchte ich ihn, wo er uns die Odyssee seines Krankheitsverlaufs erzählte. Nach den Weihnachtsferien bekam ich wie alle DaZ-Lehrer in Sachsen vom Ausländerbeauftragten des Freistaates eine Doppel-CD von Sebastian Krumbiegel von den Prinzen mit dem Titel „Ängste und Träume“ geschenkt. Auf dem Cover schreibt der Sänger: „Alle, die in unserem Land ‚Ausländer raus!‘ schreien, wissen nicht, wovon sie reden. Wir sollten den Menschen, die zu uns kommen, zuhören. Sie haben ihre persönlichen Geschichten und machen hier Erfahrungen, aus denen auch wir etwas lernen können.“

Jugendmigrationsdienst

Wöchentlich einmal habe ich Kontakt mit Herrn Mohammad Z., der als Eingliederungsberater des Jugendmigrationsdienstes (JMD) der Arbeiterwohlfahrt Chemnitz die jungen Migranten in Freiberg betreut. Mit ihm arbeite ich seit zwei Jahren eng zusammen und wir haben in dieser Zeit ein sehr gutes Verhältnis aufgebaut. Herr Z. stammt aus Afghanistan und lebt mit seiner Familie seit vielen Jahren in Deutschland. Als engagierter Angestellter des JMD unterstützt er vor allem neu zugewanderte Jugendliche und Erwachsene bei der sprachlichen, schulischen, beruflichen und sozialen Eingliederung. Unsere Zusammenarbeit erstreckt sich hauptsächlich auf die Organisation von Veranstaltungen mit den Migranten nach dem Unterricht. Dazu gehören Kino- und Museumsbesuche, Sportnachmittage und Ausflüge in die nähere Umgebung.

Bei einem unserer Treffen in seinem Büro sagte mir Herr Z., dass die Jugendlichen, die er betreut, nur positiv über mich sprechen. Sie seien sehr dankbar für meine Hilfen bei der Bewältigung der bürokratischen Hürden ihrer Eingliederung, bei ihrer Wohnungssuche, Fahrten zur Ausländerbehörde und vieles mehr. Dafür wolle er mir ausdrücklich Dank sagen. Er machte mich verlegen, aber ich freute mich natürlich über seine Äußerungen und fühlte mich in meiner Arbeit bestätigt. Herr Sarrazin, bei manchen Personen wie auch der Ihren stehe ich sicher mit dieser Einschätzung als Gutmensch mit einem Helfersyndrom da. Ok, da muss ich drüber stehen, doch Handeln halte ich immer noch für die bessere Variante, um Probleme zu lösen, anstatt große Reden zu schwingen bzw. schonungslose Analysen wie die Ihren zu schreiben. Man mag gegen viele Fakten nicht ankommen, praktische Hilfsangebote habe ich in Ihrem Buch, Herr Sarrazin, kaum gefunden.

Während unseres Gesprächs kamen Arian und Mohammad, die seit einiger Zeit eine Aufenthaltsgestattung haben und deshalb eine eigene Wohnung beziehen durften. Wir hatten viel Spaß und Herr Z. sagte, dass beiden nur noch eine passende Frau fehlt. Ich machte den Vorschlag, sie sollten doch mal in die Disko gehen und ich würde mich auch bereiterklären mitzugehen und schlug das gleiche Herrn Z. vor. Er war begeistert und wir einigten uns darauf, im April oder Mai nach Hartmannsdorf ins Braugut in eine Disko zu fahren. Natürlich nur privat, wie Herr Z. sagte.

In einer Vertretungsstunde in einer Förderschulklasse des BSZ hatte ich ein interessantes Gespräch mit einem Schüler, der sich über die seiner Meinung nach große Anzahl von Ausländern in Freiberg wunderte. Dieser fragte mich, warum eigentlich so viele Ausländer nach Deutschland kommen und hier zum Teil uns Deutschen die Arbeit wegnehmen. Außerdem wollte er wissen, warum manche Ausländer zum Beispiel in einem Dönerimbiss arbeiten, obwohl sie kaum Deutsch sprechen können. Er sei aber auf keinen Fall rassistisch, mache sich nur Gedanken darüber.

Ich erzählte von den Migranten und ihren Geschichten, die in meinem Kurs Deutsch lernen und merkte ihm an, dass ihn das zum Nachdenken veranlasste, und schlug ihm vor, uns doch einmal in der Pause zu besuchen, um die Schüler aus den anderen Ländern näher kennenzulernen. In dieser Woche war ich mit Cristiane, Asis, Arian, Sergej und dem fünfzehnjährigen Ali, der die Mittelschule in Freiberg besucht, im Altstadtcenter Bowling spielen. Dazu laden wir auch immer ausländische Jugendliche ein, die aus verschiedenen Gründen nicht am Deutschkurs teilnehmen.

Ich habe gerade mal eine Pause vom Schreiben gemacht, als im Fernsehen Dieter Nuhr, der zu meinen Lieblingskabarettisten zählt, den heutigen Satiregipfel u. a. mit der Bemerkung ankündigte: „Herr Sarrazin meint ja in seinem Buch, dass Deutschland immer mehr verdumme und er sich frage, ob er nur der Theoretiker davon oder schon die Auswirkung sei.“ Ich denke, diese Aussage verkraften Sie, Herr Sarrazin, oder? Denn ich habe Sie ja am Anfang des Buches als intelligent eingeschätzt.

Flüchtlinge

An einem Vormittag im April war Rohan, der vor vier Jahren aus Pakistan nach Deutschland gekommen war, zu Besuch in der Schule. Er ist ein intelligenter junger Mann, der in seinem Heimatland mit einem Biologiestudium begonnen hat, das er in Deutschland fortsetzen wollte. Da er jedoch nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung besitzt, ist das nicht möglich und er muss in einem Dönerladen als „Mädchen für alles“ arbeiten. In seiner Freizeit geht er in ein Fitnessstudio oder beschäftigt sich mit seiner 15-monatigen Tochter, die er zusammen mit einer deutschen Frau hat.

Jetzt träumt er von einer gemeinsamen Zukunft mit der Mutter seiner Tochter, die er heiraten möchte und mit der er in eine Wohnung in einem Nachbarort von Freiberg ziehen will. Leider hat er den Deutschkurs vorzeitig abgebrochen, weil er viele persönliche Dinge in Zusammenhang mit seiner Aufenthaltsgestattung zu regeln hatte. Ich ermöglichte es ihm allerdings, die Prüfung am Anfang des Schuljahres 2008/09 nachzuholen, die er mit der Note „zwei“ bestand. Leider bekam er aber nachträglich kein Zeugnis, da er zu dem regulären Prüfungstermin im Juni nicht erschienen war. Ich traue ihm ohne weiteres zu, aufgrund seines Wissens und seiner Fähigkeiten ein deutsches Abitur zu machen und zu studieren.

Eines Tages besuche ich Rohan in seiner Wohnung, wo ich auf seinen Landsmann Bara treffe. Er erzählt mir seine spektakuläre Flucht von Pakistan nach Deutschland:

„Es ist das Jahr 2006. Das Flugzeug landet in Nishninowgorod, wo ich mich mit einem Landsmann als Student anmelde und zwei Tage dorthin gehe. Dort wollen wir jedoch nicht bleiben und wir machen einen Fluchtplan. Wir rufen einen Mann aus Pakistan an, der uns für unser restliches Geld ein Zugticket nach Moskau besorgt, wo wir acht Stunden später ankommen. Als wir aus dem Zug aussteigen, werden wir sofort gefangen genommen und müssen mit 60 weiteren Flüchtlingen in einem Zimmer von ca. 10-12 qm Größe zubringen. Nachts liegen wir dicht nebeneinander und können uns kaum bewegen. Zu essen bekommen wir jeden Tag eine kleine Menge Reis. Nach 52 Tagen kommt ein LKW mit einer Ladung Kartoffeln und Zwiebeln. Wir werden mit 14 Leuten in den hinteren Teil gepfercht und kommen 30 Stunden später mit einer Pause von ca. fünf Minuten in Weißrussland an. Dort warten bereits 14 Männer und eine halbe Stunde später kommt ein kleines Auto, in das acht pakistanische und acht indische Männer einsteigen sollen. Nach einer Stunde ist die Fahrt zu Ende und zwei Soldaten fordern uns auf, auszusteigen und schnell zu laufen. Ein Mann kann nicht mehr, weil er starke Bauchschmerzen hat. Um ihn anzutreiben, wird er mit einer großen Holzstange in die Bauchgegend geschlagen. Da er nicht mehr gehen kann, müssen ihn zwei Männer tragen. Nach drei Stunden Fußmarsch kommen wir an einen Teich mit schwarzem, schmutzigem Wasser, durch den wir neun bis zehn Stunden laufen müssen. Insgesamt sind es jetzt 72 Menschen, die zusammengekommen sind. Nach einer Weile sollen alle kurz untertauchen, um nicht entdeckt zu werden. Ein Mann spuckt Blut und wird abwechselnd von sechs Leuten getragen. Wer nicht mehr laufen kann oder will, wird brutal geschlagen. Nach fünf Stunden kommt ein großes Armeeauto, in das alle einsteigen müssen. Der kranke Mann muss Wasser lassen und bekommt eine leere Colaflasche, die er zu diesem Zweck benutzen soll. Als diese jedoch voll ist, hört der Strahl nicht auf, da wahrscheinlich seine Blase geplatzt ist. Wir sollen den Mann zurücklassen, was jedoch niemand will. Seine Kraft ist am Ende, trotzdem bekommt er unaufhörlich die Holzstange zu spüren. An einer Bahnschiene angekommen, sagt man uns, dass hier die Grenze zwischen Russland und der Ukraine verläuft. Wir weigern uns, die zwei Kranken in Russland zu lassen und bezahlen 400 Euro für ihre weitere Mitnahme. Inzwischen kommt ein weiteres Auto, in dem nacheinander 16 Leute transportiert werden. In einem kleinen Dorf angelangt, bleibt das Auto plötzlich im Schlamm stecken und alle, außer den Kranken, müssen schieben. Die meisten Flüchtlinge haben keine Haare, keine Schuhe oder nur einen Schuh. Wieder führt uns unser Marsch durch Wasser, das sich unter einer Brücke befindet und uns bis zur Gürtelhöhe reicht. Den Schmutz kann ich ein halbes Jahr nicht abwaschen, so hat er sich an meinem Körper festgefressen. Die Schleuser lassen uns jetzt allein und geben uns ein Handy, auf dem wir angerufen werden sollen. Drei Stunden vergehen, ohne einen Anruf zu erhalten, der uns über unseren Weitertransport informieren soll.“

 

Die Odyssee der Flucht ging wochenlang weiter, bis der Zielort Deutschland erreicht wurde. Diese Angaben sind alle bei den entsprechenden Behörden schriftlich niedergelegt. Ich kenne Bara und lernte ihn als einen liebenswerten jungen Mann kennen, der in Deutschland nur eins will: ein besseres Leben als das in seinem Heimatland. Noch immer hat er nur den Aufenthaltsstatus einer Duldung. Das heißt, seine Abschiebung wurde vorübergehend ausgesetzt und er darf den Landkreis Mittelsachsen nicht ohne triftigen Grund verlassen. Damit besitzt der junge Mann aus Pakistan keinen rechtmäßigen Aufenthaltstitel, der u. a. keine Arbeitserlaubnis enthält. Mit dem Risiko einer Strafanzeige, die seine Abschiebung zur Folge haben kann, arbeitet er dennoch in der Firma seines Bruders.

Auch Bilal ist aus Pakistan, der sich in vier Jahren seines Aufenthalts in Deutschland schnell einen umfangreichen deutschen Wortschatz angeeignet hat. Er hat zwei Brüder und zwei Schwestern, sein Vater ist nach einem Arbeitsunfall gestorben. Im vorigen Jahr hat Bilal eine russische Spätaussiedlerin geheiratet, die zwei Kinder mit in die Ehe gebracht hat. Zu der Hochzeit mit ca. zehn Gästen war ich auch eingeladen und erlebte, wie man auch mit bescheidenen finanziellen Mitteln ein schönes Fest organisieren kann.

Russen

Einer meiner Lieblingsschriftsteller mit Migrationshintergrund ist Wladimir Kaminer, der 1990 in der damals noch bestehenden DDR „humanitäres Asyl“ bekam und kurzfristig die Staatsbürgerschaft der DDR und mit dem Beitritt dieser zur BRD automatisch die bundesdeutsche Staatsbürgerschaft erhielt.

In einer seiner Geschichten unter dem Titel „Von Tübingen nach Böblingen“ zitiert er einen Werbespruch für einen seiner Live-Auftritte mit dem Titel „Der Russe kommt.“ mit der Bemerkung, dass die Russen wohl immer noch Aversionen bei den Deutschen auslösen, und sich dabei selbst auf die Schippe nimmt.

Da auch ein Russe in meinem Deutschkurs lernt, um seine deutschen Sprachkenntnisse zu erweitern, bezog ich diese Geschichte in meinen Unterricht ein und verband sie mit einer Phonetikübung. Der russische Akzent von Kaminer lässt sich ja nun mal nicht verleugnen und dient als gutes Beispiel für bestimmte unüberwindbare Hürden im Erlernen der deutschen Sprache.

Die Aussage „Der Russe kommt!“ kann noch durch den Satz „Die Russen kommen!“ gesteigert werden, den eine Radiomoderatorin machte, als sie von den neuen Einreisebestimmungen für Russen in die Türkei berichtete. Der Inhalt der Nachricht war, dass sich die Türkei schon jetzt auf die vielen russischen Touristen im kommenden Sommer freut und in Antalya sogar ein neues Hotel mit der Architektur des Kremls gebaut wurde. Sie ergänzte diese Meldung noch mit der ihrer Meinung nach lustigen Äußerung: „Aber die Liegen am Strand bleiben in deutscher Hand.“

Meine Oma erzählte mir mehrmals eine Episode, die sie kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt hatte. Auch damals kamen die Russen nach Deutschland, aber aus einem anderen Grund. Nachdem Hitler den Krieg verloren hatte, wurde Ostdeutschland russische Besatzungszone und die Soldaten der Roten Armee waren in vielen Orten präsent. Die Begeisterung der Bevölkerung darüber hielt sich in Grenzen, oft überwog sogar die Angst vor Racheakten und Repressalien. Auch in die Wohnung meiner Großmutter kamen zwei Russen, nachdem sie ihre Pferde im gegenüberliegenden Grundstück angeleint hatten. Während sie sich mit Parfüm besprühten, rannte meine Oma aus der Wohnung ins zwei Kilometer entfernte Polizeirevier, um Hilfe zu holen. Als sie zurückkam, waren die russischen Soldaten jedoch schon wieder weg, doch das Erlebnis hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt und sie erzählte es immer wieder. In der Schule bekamen wir später nichts von solchen oder ähnlichen Situationen zu hören. Im Vergleich zu diesem harmlosen Ereignis gab es jedoch auch andere Vorfälle zwischen Deutschen und Russen wie zum Beispiel Vergewaltigungen und Plünderungen. Einem Russen haben wir Deutschen allerdings auch die problemlose Wiedervereinigung zu verdanken. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn die damalige Sowjetunion dies 1989 versucht hätte zu verhindern. Doch mit Gorbatschow hatte das Land einen Reformpolitiker, der die Zeichen der Zeit erkannte und den Slogan „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ populär machte. Die Euphorie über ein vereintes Deutschland wich bald bei so manchem Ostdeutschen, der bald seine Arbeit verlor, zugunsten des Realitätssinns. Auch die Westdeutschen mussten feststellen, dass die Wiedervereinigung nicht nur positive Auswirkungen auf ihr Leben hatte.Für mich sind Meinungs- und Reisefreiheit große Errungenschaften gegenüber dem Honecker-Staat, der eigene politische Ansichten unterdrückte und Reisen ins nichtsozialistische Ausland nur Privilegierten und später Rentnern erlaubte. Doch auch auf die Russen hatte die Entwicklung in Deutschland vor 20 Jahren positive Auswirkungen, indem Spätaussiedlern die Einreise nach Deutschland erleichtert wurde. Die russische Sprache war mit der Wende für viele Jahre „out“ und aus Russischlehrern wurden Englischlehrer. Doch die Motivation zum Erlernen der englischen Sprache hielt und hält sich bei den Schülern der Mittel- und Förderschulen in Grenzen. In meinen Unterrichtsstunden höre ich oft die Begründung: „Das brauche ich nicht im späteren Leben.“ Ich gebe zu, die Lehrpläne der Fächer sind vollgestopft mit Stoff, der oft wirklich nicht die Frage nach dem Sinn des zu erlernenden Inhalts beantworten lässt. Doch das Lernen einer Fremdsprache sehe ich als sehr wichtig an, gerade im heutigen Zeitalter der Globalisierung.

Sprachkenntnisse und Einbürgerungstest

Meine bisherigen Reisen haben sich nur auf europäische Länder beschränkt. Sie führten mich achtmal nach Kroatien, zweimal nach Slowenien und Spanien, einmal nach Italien, Dänemark, Polen, Ungarn, in die Schweiz, nach Luxemburg, nach Frankreich, nach Russland und viele Male nach Tschechien. In diesen Staaten kommt man so gut wie ohne Kenntnisse der Landessprache aus. Doch immer habe ich gemerkt, dass Englischkenntnisse von Vorteil sein können. Als ich zum Beispiel im Landesinneren von Kroatien einmal nach dem Weg fragte, verstand niemand deutsch, aber englisch schon eher. In einem Hotel in Frankreich kam ich nicht mal damit weiter, als ich einen „apple juice“ bestellen wollte, um einen Apfelsaft zu bekommen. Meine älteste Tochter, die damals in Frankreich arbeitete und später dazu kam, rettete die Situation durch Anwendung ihrer Französischkenntnisse, indem sie einen „jus de pomme“ verlangte. Auch wenn man die Landessprache eines Urlaubsortes nicht beherrscht, sehe ich es als freundliche Geste an, sich einige Worte wie „danke“, „bitte“ und Wendungen wie z. B. „Entschuldigen Sie bitte!“ und „Können Sie mir helfen?“ usw. anzueignen.

Fast am Ende der DDR-Ära bin ich 1989 mit einer Schulklasse als Auszeichnung nach Leningrad, dem heutigen Petersburg, geflogen. Ich erinnere mich, wie viel Bürokratie ich als Klassenleiterin überwinden musste, um diese Reise genehmigt zu bekommen. Das war der einzige Kontakt mit Russen, die damals noch Sowjetbürger hießen, bei dem ich meine mehr oder weniger guten Russischkenntnisse, die ich mir nach zehnjährigem Unterricht angeeignet hatte, anwenden konnte. Bis heute ist leider nicht mehr viel davon übriggeblieben, abgesehen von ein paar „Brocken“, die ich manchmal in Gespräche mit Jugendlichen aus dem russischen Sprachraum einflechte und meine Gesprächspartner aufgrund meiner andersartigen Aussprache zum Schmunzeln bringe. Dann wird mir bewusst, wie schwer es ist, eine andere Sprache zu lernen und dabei die Regeln der Aussprache und Grammatik zu beachten. Die Schwierigkeit des richtigen Schreibens kommt dazu, wenn die Buchstaben nicht dem lateinischen Alphabet entsprechen oder umgekehrt und die Schreibrichtung die entgegengesetzte, wie im Arabischen, ist. Von Timucin, der aus der Inneren Mongolei kommt, erfuhr ich, dass dort die klassische mongolische Schrift heute noch primär von oben nach unten verläuft. Wie einfach erscheint doch unsere deutsche Sprache, wenn man an die chinesische denkt, in der 3000 bis 4000 Schriftzeichen für den allgemeinen Bedarf notwendig sind.

Eine Sprache lernt man am besten, wenn man sie so oft wie möglich anwendet. Zu dieser Erkenntnis komme ich immer wieder bei meiner Arbeit mit den Jugendlichen aus den verschiedensten Sprachräumen. Wer zum Beispiel von den älteren Bewohnern des Asylbewerberheims keine Chance hat, einen Sprachkurs zu besuchen, der spricht logischerweise mit seinen Landsleuten in seiner Muttersprache. Grundlage für ein Leben in einem anderen Staat als dem Herkunftsland ist aber nun mal das Beherrschen der Landessprache in Verbindung mit der Amtssprache, erst recht, wenn man die entsprechende Staatsbürgerschaft annehmen will. Bei den Lernern meiner Gruppe spielt häufig auch der sächsische Dialekt eine Rolle beim Kommunizieren mit Einheimischen, denn die Hochsprache wird im Alltag von den wenigsten Menschen gesprochen. So geht es natürlich ebenfalls den Migranten, die sich zum Beispiel mit dem bayrischen, hessischen oder plattdeutschen Dialekt anfreunden müssen.

Ich kann nachvollziehen, dass die vielen Migranten in Deutschland ihre eigene Staatsbürgerschaft behalten wollen oder höchstens eine Doppelstaatsbürgerschaft annehmen wollen. Das weiß ich auch aus meinen Gesprächen mit vielen von ihnen, die sich damit eine mögliche Rückkehr in ihr Land offen halten wollen. Für Ausländer, die jedoch die deutsche Staatsbürgerschaft anstreben, wurde 2008 von der Humboldt-Universität Berlin zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen für die Bundesregierung ein 310 Fragen umfassender Test erarbeitet, den die Einbürgerungswilligen bestehen müssen. Wer 17 von 33 zufällig ausgewählte Fragen richtig beantwortet, besteht den Einbürgerungstest und darf als deutscher Staatbürger alle Rechte in Anspruch nehmen.

Im Rahmen des Tages der offenen Tür am BSZ in Freiberg habe ich die Prüfung mit deutschen Schülern und Erwachsenen gemacht, von denen sie weniger als die Hälfte bestanden haben. Zum Beispiel bei der Frage, wo man seinen Hund anmelden muss, kamen viele ins Grübeln. Ich selbst wäre auch nie auf das Einwohnermeldeamt gekommen. Aber wer beschäftigt sich schon mit solch einem Problem, bevor er nicht wirklich die Absicht hat, sich des Deutschen liebstes Haustier anzuschaffen. Ich habe die Fragen, die Kenntnisse über die Geschichte, Sprache, Kultur und das Staatswesen des Landes beinhalten, auch in der einen oder anderen Deutschstunde mit Schülern der Förderschule diskutiert und bei vielen Wissenslücken festgestellt. Fragen nach Einstellungen und Gesinnungen werden übrigens nicht gestellt, seit nach dem hessischen Entwurf eine einheitliche Regelung für Deutschland gefunden wurde.

 

Der aus Syrien stammende Said hat den Einbürgerungstest vor ein paar Wochen bestanden, obwohl er noch immer um seine Niederlassungserlaubnis kämpft, wo ihm andere bürokratische Hürden im Wege stehen.

Interessant ist, dass in den USA, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, nur 10 von 100 Fragen gestellt werden, von denen sechs richtig beantwortet werden müssen. Vorausgesetzt werden allerdings eine permanente Aufenthaltsdauer von fünf Jahren und „ein guter moralischer Charakter“. Wenn man diesen nur immer so leicht erkennen würde!

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