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Diese Aussage trifft auch auf die Schweiz zu, obwohl Pells sie hier vernachlässigt. Die rund dreitausend GIs, die nach dem Krieg zur Erholung in der Schweiz reisten, hinterliessen hierzulande einen ebenso bleibenden Eindruck wie im übrigen Europa, und sie brachten die einheimische Bevölkerung in Kontakt mit neuen Konsumgütern und Lebensmitteln, aber auch mit amerikanischem Jazz und amerikanischen Verhaltensweisen.184 Der englische Frontartikel in der NZZ vom 25. Juli 1945 mit dem Titel «Welcome to Switzerland»185 sowie die Broschüre, die man den amerikanischen Soldaten als Erinnerung an ihre Reise übergab, sind Beispiele dafür, dass die GIs willkommene Gäste waren.186 Besonders bei den Jugendlichen hatte das lässige, unautoritäre Auftreten der Amerikaner grosse Anziehungskraft.187 Die europäischen Gesellschaften, in denen – so die Erinnerung von Hans Magnus Enzensberger – «unbekleidete Damen […] nur im Museum zu besichtigen [waren]», «für unverheiratete Paare […] der Kuppelei-Paragraf [galt]» und in denen «Homosexualität […] mit gesellschaftlicher Ächtung und Abtreibung mit Gefängnis bestraft [wurde]»,188 wirkten dagegen verkorkst, borniert und starr. Die USA hingegen waren das Land der Verheissung, des Wohlstands, der Freiheit. Und gleichzeitig sahen viele nach Kriegsende in der neuen Weltmacht eine Art Held und Beschützer, mit dem man sich identifizierte, wie etwa die Anekdote des Schweizer Philosophen Georg Kohler aus dessen Kindheit zeigt:

«Mein Freund damals hiess Res, Res Stalder. […] Ich war sieben, Res neun. Von Res lernte ich ziemlich viel. Zum Beispiel, warum die Schweiz vor den Russen keine Angst haben musste, obwohl diese jetzt die Atombombe hatten. Deshalb nämlich, weil die ‹Amerikaner›, und das bedeutete, ‹wir›, eben nicht bloss die Atom- und die Wasserstoffbombe, sondern neuerdings auch die ‹Kobaltbombe› besässen.»189

So wurden die USA in der Nachkriegszeit zu einem Leitbild in mehrfacher Hinsicht: Gesellschaftlich-kulturell waren es insbesondere die Jugend, aber auch proletarische Kreise, die dem amerikanischen Vorbild folgten und von Musikstilen über Verhaltensweisen, Konsumgüter und Genussmittel bis hin zur Mode den American way of life imitierten und adaptierten. Kaspar Maase spricht in diesem Kontext auch von «Amerikanisierung von unten».190 Die «Erwachsenen» aus dem Mittelstand hingegen übernahmen amerikanische Konzepte und Gewohnheiten weniger im Privatleben als in der Arbeitswelt: bei der Produktion, im Verkauf, bei der Vermarktung. Hier wird insbesondere der Effekt der Nachahmung eines «vermeintlichen oder tatsächlichen» Vorsprungs wichtig. Auch im weiblichen, «heimischen Arbeitsumfeld» wie der Küche und dem Haushalt wurde der American way bedeutend, wie noch zu zeigen sein wird.

Fünf Sphären des Einflusses

«No development in retailing […] has presented so revolutionary a change in merchandising conceptions as has the Super Market. Through the introduction of self-service, which shifted the responsibility of purchase to the consumer herself, the Super Market has forced changes in the entire economic structure of this nation, and, more recently, in those foreign countries which have adopted self-service. It has radically altered the course of packaging, refrigeration, store design, display, and the techniques of selling, which are today reflected not only in food retailing but in practically every field of retail distribution.»191

Lebensmittelverarbeitung im Zeitalter von Fliessband und Automaten

Die amerikanische Lebensmittelverarbeitung zeichnete sich seit den 1930er-Jahren durch einen hohen Grad an Standardisierung, Technisierung und Rationalisierung aus. Sie war effizient und produktiv genug, um während und nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die eigene Bevölkerung und die US-Streitkräfte, sondern in hohem Mass auch die westlichen Alliierten und später die besetzten westeuropäischen Gebiete mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Dieser hohen Produktivität zugrunde lagen die zu diesem Zeitpunkt längst in anderen Industriezweigen erprobten und weiterentwickelten Konzepte von Fredrick W. Taylor (1856–1915) und Henry Ford (1863–1947).

In Europa und der Schweiz wurden Taylor und Ford ebenfalls und bereits ab der Zwischenkriegszeit zu Leitfiguren der modernen Massenproduktion. Man rezipierte ihre Schriften und Konzepte,192 reiste in die USA, um sich die durchrationalisierten und auf Produktivität getrimmten Betriebe von Nahem anzusehen, und debattierte sowohl auf der Befürworter- als auch auf der Gegnerseite über die Umsetzbarkeit und Sozialverträglichkeit der amerikanischen Produktionsmethoden.193

Das grosse Interesse an amerikanischen Rationalisierungskonzepten stand im Kontext eines allgemeinen Bestrebens nach betrieblicher Reorganisation ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Rudolf Jaun definiert für die Schweiz zwischen 1870 und 1995 fünf Phasen betrieblicher Reorganisationsmassnahmen,194 wobei er insbesondere in der dritten Phase (1910–1960) amerikanische Einflüsse ausmacht. Innerhalb dieser dritten Phase kann die Rezeption amerikanischer Rationalisierungsmethoden als ein zweistufiger Prozess angesehen werden: In einem ersten Schritt von 1910 bis zum Zweiten Weltkrieg wurden die Methoden des Scientific management populär, und es formierten sich europäische Rationalisierungsbewegungen. In einem zweiten Schritt ab 1945 setzten sich das Fliessband und die Fliessarbeit durch, und an die Stelle der Rationalisierungsbewegung trat die Produktivitätsbewegung. Zusammen mit der Weiterentwicklung der wissenschaftlichen Betriebsführung führte dies zu einer wesentlichen Steigerung der Produktivität und einer Erhöhung der Reallöhne, was letztlich die Basis für die moderne Konsum- und Wohlstandsgesellschaft bildete. In den 1960er-Jahren schliesslich erfuhr das Konzept der Fliessarbeit eine entscheidende Weiterentwicklung, bei der die Produktionsabläufe zunehmend auf vollautomatischer und computergestützter Technik basierten. Diese Phase (1960–1980) läutete auch das Ende des autonomen, qualifizierten Industriearbeiters ein.195

Weil die entscheidenden Neuerungen der industriellen Produktion der Nachkriegszeit in hohem Mass auf der Rezeption und der Umsetzung der Arbeits- und Produktivitätskonzepte von Taylor und Ford beruhen, sollen kurz einige zentrale Momente der Rezeptionsgeschichte dieser amerikanischen Rationalisierungsmassnahmen herausgestrichen werden, bevor anschliessend exemplarisch aufgezeigt werden soll, wie die amerikanischen Konzepte nach 1945 bewertet wurden und wie sich Schweizer Familienunternehmen wie Zweifel Pomy-Chips und die Hafermühle Lützelflüh am US-Markt zu orientieren begannen.

Rudolf Jaun hat in seiner 1986 veröffentlichten Dissertation die Rezeption des Taylorismus und Fordismus in der Schweiz aus der Perspektive von Arbeiterbewegung und Klassenkampf untersucht. Er zeigt darin einerseits, wie nach dem Generalstreik von 1918 eine schweizerische Rationalisierungsbewegung entstand, die sich am amerikanischen Efficiency Movement orientierte und anhand der amerikanischen Betriebsführungsmethoden und der dazugehörigen Sozialtheorien versuchte, zwischen den Klassen zu vermitteln und die Arbeiterschaft zurück ins Boot des individualistisch-kapitalistischen Systems zu holen.196 Andererseits zeigt Jaun, wie sich in der Zwischenkriegszeit verschiedene Gesellschaften und Vereine bildeten, die sich explizit zum Ziel gesetzt hatten, die amerikanischen Produktionsmethoden in der Schweiz zu verbreiten: Die zunächst lose organisierte Gruppierung der «Schweizer Freunde Amerikas», die sich auf die Organisation von Studienreisen (Swiss Missions of Economic Studies) spezialisierte, sowie die Swiss Friends of United States of America (SFUSA), die einen eigentlichen Verein bildeten. Hinzu kam wenig später die Gründung einer Schweizer Sektion des internationalen Rotary Clubs. Alle drei Vereinigungen gingen von der Prämisse aus, dass die amerikanische Gesellschaft und ihre Produktionsmethoden die Lösung für die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme in Europa darstellten, wobei man die eigene Wirtschaft und Gesellschaft gleichsam als kranken Patienten ansah, der durch die amerikanische «Medizin» geheilt werden könne. Gleichzeitig war man sich aber auch bewusst, dass es für die Implementierung der rationalisierten Produktionsmethoden in der Schweiz gewisse Anpassungen und vor allem auch Zeit brauchte. Ab 1925 machte sich die SFUSA daran, der Schweizer Industrie in Rationalisierungskursen und Vortragsreihen die amerikanischen Konzepte näherzubringen.197

Nach dem Zweiten Weltkrieg war es die sogenannte Produktivitätsbewegung, die – unterstützt von den Amerikanern – eine Welle von Rationalisierungsmassnahmen auslöste. Sie war im Gegensatz zur Rationalisierungswelle während der Weltkriege stärker fordistisch geprägt. Die betriebswirtschaftlichen Rationalisierungsanstrengungen stellten nun nicht mehr bloss ein Leitbild dar, sondern wurden flächendeckend umgesetzt.198 Die Prosperität und die steigende Nachfrage, aber auch die knappen Arbeitskraftressourcen spielten eine wichtige Rolle beim Strukturwandel in der Produktion – lieferte die hohe Nachfrage auf der Konsumentenseite doch überhaupt erst den Grund, die Produktion auszuweiten und Investitionen in neue Methoden und Maschinen zu tätigen. Umgekehrt waren die hohen Wachstumsraten der 1950er- und 1960er-Jahre aber auch abhängig von Rationalisierungsmassnahmen und der damit verbundenen Produktivitätssteigerung.199 Nicht zuletzt trugen die nun knapper und teurer gewordenen Arbeitskräfte dazu bei, dass die Unternehmen vermehrt in die aufkommenden halb- und vollautomatischen Maschinen investierten, die auf dem Prinzip des fliessenden Arbeitsablaufs und des Fliessbands basierten und oft ganze Produktionsprozesse übernahmen.

 

Die aufkommende Popularität des «laufenden Bands», wie das Fliessband genannt wurde, und die Faszination der hochproduktiven amerikanischen Industriebetriebe dokumentiert eine mehrteilige Serie in der NZZ, die im Januar und Februar 1949 unter dem Titel «Amerikanische Wirtschaftsskizzen» erschien. In langen, ausführlichen Artikeln berichtet der Pariser Wirtschaftskorrespondent Salomon Wolff von den Eindrücken seiner zweimonatigen Recherchereise durch die USA, auf der er von New York und Washington DC über Pittsburgh, Cleveland, Detroit und Chicago nach Iowa, Kalifornien und Texas reiste und so nicht nur die wichtigsten Industriezentren, sondern auch die Hochburg der Landwirtschaft und die neuen Wachstumsgebiete im Westen und Süden des Landes besuchte. Im Einleitungsartikel schildert Wolff, mit welcher Offenheit und Freundlichkeit die Amerikaner ihm begegnet seinen und wie breitwillig sie ihm Auskunft gegeben und ihm alles gezeigt hätten.200 Im Teil VII vom 19. Januar 1949 widmet sich der Korrespondent schliesslich der amerikanischen Massenproduktion. Diese beruhe, erklärt er, auf dem Prinzip des «break up», also der «Aufteilung des Produktionsvorganges in eine Reihe möglichst einfacher Handlungen», sowie der Montage am «laufenden Band». «Auf diese Weise», so heisst es weiter, «werden nicht nur Zeit und Geld gespart, sondern die Industrie wird in ihrer Entwicklung auch nicht mehr durch die unzureichende Anzahl von gelernten Arbeitern gehemmt und kann ihre Produktion gegebenenfalls unerhört schnell steigern.» Wolff weist die Leser zudem darauf hin, dass das «laufende Band» eigentlich keine Erfindung von Henry Ford sei, sondern zuerst in den Schlachthäusern von Chicago zur Anwendung gekommen sei.201

Aber auch andere Zeitungen informierten über amerikanische Methoden. Die Lebensmittelindustrie in den USA lege grossen Wert auf Rationalisierung und Mechanisierung und verwende deshalb Warenheber, Laufbänder, Ladeeinrichtungen auf Camions und die sogenannten Palettenladungen mit 30 bis 50 Kisten. Zudem führe sie die Zähl- und Kontrollarbeiten nach Möglichkeit mit elektronischen Methoden durch. So paraphrasiert der Bund einen gewissen Dr. W. Gabler aus New York und Washington, der von der Schweizerischen Zentralstelle der Nahrungs- und Genussmittelwirtschaft in die Schweiz eingeladen worden war. Fazit des Bundes: «In der Schweiz sollte man diesen modernen Hilfsgeräten vermehrt Beachtung schenken.»202

Tatsächlich wurden nach dem Zweiten Weltkrieg denn auch vermehrt Produktionsanalagen und Technologien aus Amerika importiert, weil sich die amerikanischen Maschinenbauer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen beachtlichen Vorsprung gegenüber den Europäern erarbeitet hatten. Sie setzten viel früher auf Standardisierung und Serienproduktion. Der amerikanische Maschinenbau reagierte damit auf die Anforderungen, die die Massenproduktion mit sich brachte, und wurde dabei selbst zu einem Produkt davon. Die Maschinen amerikanischer Herkunft waren hochgradig standardisiert und in ihrer Anwendung so stark vereinfacht, dass sie ohne grosse Fachkenntnisse zu bedienen waren. Ihre Vorteile lagen insbesondere darin, dass sie problemlos umgewandelt und angepasst werden konnten, indem man einer baugleichen Maschine Teile entnehmen und dort einbauen konnte, wo sie benötigt wurden. Europäische Maschinen hingegen waren in der Regel aufwendige Spezialanfertigungen, die sich zwar zur Massenproduktion eigneten, jedoch sofort erfahrener Mechaniker bedurften, wenn die Produktionspalette angepasst werden sollte.203

Am Beispiel der Firmen Hafermühle Lützelflüh (heute Kentaur Switzerland) und Zweifel Pomy-Chips lässt sich aufzeigen, welche Bedeutung amerikanische Maschinen und Produktionsmethoden nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz erlangten.204 Beide Firmen stiegen in den 1950er-Jahren in die Herstellung von amerikanischem Convenience food ein: Zweifel mit Chips, die Hafermühle Lützelflüh mit Cornflakes.

Die Hafermühle Lützelflüh interessierte sich bereits in den ausgehenden 1940er-Jahren für die amerikanischen Produktionsmethoden und Maschinen, die zur Herstellung von Getreideflocken und ähnlichen Erzeugnissen entwickelt wurden. Hans Bichsel, Mitbesitzer der Hafer mühle, nahm deshalb während seines einjährigen Aufenthalts in den USA Kontakt mit verschiedenen Maschinenbauern auf. In seiner Anfrage an die Allis-Chalmers Manufacturing Company in Milwaukee (Wisconsin) schreibt Bichsel: «My mill in Switzerland is interested in plant equipment and machinery used for the making of these products [Cornflakes and other breakfast cereals as well as the manufacturing of SOYA BEAN products], and I should appreciate it very much if you would please advise me at your earliest convenience, if your factory turns out such equipment and machinery.»205 Ähnliche und gleiche Anfragen schickte er an zahlreiche weitere amerikanische Firmen, von denen er glaubte, dass sie Equipment für die Produktion von Haferflocken, Cerealien und Sojaprodukten herstellten. Auch Abfüll- und Verpackungsanlagen interessierten ihn. Die Schreiben waren sehr kurz und allgemein gehalten. Es ging ihm in erster Linie darum, herauszufinden, was auf dem Markt zu welchen Bedingungen erhältlich war. Auf seiner zweiten Reise im Jahr 1954, die er gemeinsam mit seinem Bruder Albert unternahm, kamen differenziertere Anfragen hinzu. Jetzt fragte Bichsel etwa direkt nach «Metall-Detektoren» für die Abfüllanlage, Packmaschinen und Klebemaschinen.206 Mit einigen der angeschriebenen Firmen fanden daraufhin Treffen statt, wie verschiedene Korrespondenzen und Aktennotizen in Zusammenhang mit den Studienreisen 1947 und 1954 zeigen. Andere sandten Kataloge und Broschüren, die Fotografien und Kurzbeschreibungen ihrer Maschinen und Produktionsanlagen enthielten. Alleine die Durchsicht dieser Kataloge zeigt, was oben geschildert wurde: Selbst die Maschinen und komplexen Produktionsanlagen waren zu einem standardisierten Massenprodukt mit immer neuen, verbesserten Modellen und Designs geworden.207

Für die zweite Reise im Jahr 1954 stellten die Brüder Hans und Albert Bichsel eine Liste mit «Food processors, which we would like to visit»208 zusammen. Diese Liste schickten sie vor ihrer Reise an verschiedene Geschäftspartner in der Schweiz und in den USA und baten um Empfehlungsschreiben, die ihnen die Kontaktaufnahme mit einflussreichen Unternehmen wie Kellogg Co., Generals Mills, National Biscuits und Quaker Oats erleichtern sollten. Zu den besuchten Firmen und Produktionsanlagen legten die Brüder Notizen an. Besonders interessiert waren Hans und Albert Bichsel am Produktionsequipment. In allen Berichten sind Informationen über die verwendeten Maschinen und Technologien sowie den Gerätefabrikanten mit Adresse aufgeführt.209 Über den Besuch von General Mills in Chicago zum Beispiel heisst es: «Gleicher Betrieb wie in Buffalo, daher nicht viel Neues. Ueber das ‹Processing› ziemlich zurückhaltend, während über ‹Packaging› jegliche Auskunft gegeben wurde. Hier einige Adressen von Maschinen-Lieferanten für Packmaschinen […].»210

Als sich nach der Rückkehr in die Schweiz der Einstieg in die Cornflakes-Produktion tatsächlich abzeichnete, bat man die Maschinenfabrik Allis-Chalmers zum wiederholten Mal um eine Offerte für eine Cornflakes-Produktionsanlage.211 Auch nachdem die Hafermühe Lützelflüh die Produktion von Cornflakes aufgenommen hatte, blieb sie mit verschiede nen amerikanischen Maschinenbauern in Kontakt.212 Ob sie jedoch tatsächlich Maschinen aus den USA importierte, ist nicht dokumentiert.

Der Schweizer Pommes-Chips-Hersteller Zweifel Pomy-Chips setzte ab 1960 auf amerikanische Technologie. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden Chips in der Schweiz mittels Handfritteusen in kleinen Portionen frittiert und manuell in Tüten abgepackt. 1960 entschloss sich die Firma dazu, eine vollautomatische Fritteuse aus den USA zu importieren. Im November wurde die 20 Meter lange und mehrere Tonnen schwere Ferry 3 der Firma J. D. Ferry Co. in der Produktionshalle in Zürich-Höngg in Betrieb genommen. Das noch junge Chips-Unternehmen setzte fortan voll auf die serielle Massenproduktion nach amerikanischem Vorbild. Die Maschine übernahm das Waschen, Schneiden und Frittieren der Kartoffeln und produzierte rund 180 Kilogramm Chips pro Stunde.213 Allerdings stellte die Investition in die amerikanische Produktionsanlage auch ein erhebliches Risiko dar. Pommes-Chips waren bis Anfang der 1960er-Jahre ein Nischenprodukt, kaum bekannt und mit bescheidenem Absatz. In den ersten Monaten lief die Ferry deshalb nur gerade zwei Stunden pro Tag.214 Das änderte sich aber schon bald.

Firmengründer Hansheinrich Zweifel, der eben erst sein Studium als Agronom mit agrotechnologischer Ausrichtung an der ETH abgeschlossen hatte, reiste Ende der 1950er-Jahre in die USA, um sich dort mit der amerikanischen Chips-Verarbeitung vertraut zu machen. Er war von der amerikanischen Produktion beeindruckt. In einem Brief an seinen Vater soll er geschrieben haben:

«Was uns besonders aufgefallen ist: Im gegenwärtigen Zeitpunkt werden die Kartoffeln mit grossen Trucks direkt vom Feld zur Fabrik gebracht. An der tiefsten Stelle des Trucks befindet sich ein Transportband. Wenn der Truck zum Entladen bereit ist, wird ein kleiner Elektromotor darauf montiert und mit einem Keilriemen mit dem Transportbandantrieb verbunden. Die Kartoffeln fallen dann auf ein Transportband, das sie in das Innere des Fabrikgebäudes bringt. Die am Morgen geernteten Kartoffeln kommen so am Nachmittag schon in Form von Chips aus der Maschine!»215

Diese durchdachte und nahtlose Transport-Produktions-Kette, die hier beschrieben wird, mag Hansheinrich Zweifel damals noch beeindruckt und überrascht haben, bald schon ging es in seinem Unternehmen allerdings ähnlich rationalisiert und «fliessend» zu und her – die Ferry 3 bedeutete dabei nur den Anfang. 1964 musste die maschinelle Verarbeitung ausgeweitet werden. Die Ferry 3 wurde durch die Ferry 15 ersetzt, die bereits 800 Kilogramm Chips pro Stunde produzierte. Mitte der 1960er-Jahre zog das Produktionsvolumen weiter an, sodass 1966 mit einer Beteiligung des Verbands ostschweizerischer landwirtschaftlicher Genossenschaften (VOLG) und des Verbands landwirtschaftlicher Genossenschaften von Bern und benachbarter Kantone (VLG) die Zweifel Pomy-Chips AG gegründet wurde. Mit dieser Kooperation sollte dem gesteigerten Rohstoffbedürfnis Rechnung getragen werden. Das Ziel dieser Zusammenarbeit läge in der Steigerung der Leistungsfähigkeit bei der Veredelung und Absatzförderung einheimischer Kartoffelerzeugnisse, heisst es in einer Mitteilung an die Mitarbeitenden: «Durch diese Rationalisierungsgemeinschaft hoffen die Partner, ihre Dienstleistung gegenüber der Landwirtschaft, dem Handel und ganz besonders den Konsumenten weiter ausbauen zu können.»216 1970, als am neuen Standort Spreitenbach die neue Fabrik – «eine der grössten Europas»217 – errichtet wurde, wurde schliesslich bereits die dritte vollautomatische Pommes-Chips-Produktionsanlage aus den USA importiert. Diesmal eine der Marke Heat and Control, deren Produktionsleistung ganze zehnmal höher lag als die der Ferry 3218 – und die praktisch die ganze Chips-Herstellung übernahm. Die Schweizer Handels-Zeitung (SHZ) beschreibt den Produktionsvorgang der «modernsten Produktionsanlage Europas» folgendermassen:

«Eine Schnecke befördert die gesäuberten Kartoffeln vom Keller auf das Stockwerk der Produktion. Hier wäscht sie eine Anlage zum zweiten Mal. […] Die zubereiteten Kartoffeln kommen in die 36 m lange Chips-Maschine. […] Die gebackenen und noch warmen Chips werden nun gesalzen. Ein Förderband trägt sie dann zur Gewürzmaschine, die zugleich die Chipsmasse entsprechend dem Sortiment teilt und jeweilig würzt.»219 (Abbildung 7)


Abb. 7: Zweifel baut zu Beginn der 1970er-Jahre eine neue Produktionsanlage nach amerikanischem Vorbild. Die Schweizer Handelszeitung titelt: «Chips vom laufenden Band. In Spreitenbach entsteht Europas modernste Produktionsanlage.» Skizze des Produktionsablaufs, ca.1971.

Der Aufbau und die Anordnung der in der Schweizer Handelszeitung skizzierten Produktionsanlage entsprachen einem rationalisierten Konzept, bei dem darauf geachtet wurde, dass für keinen Produktionsschritt ein unnötiger Weg zurückgelegt werden musste.220

 

Die neue Produktionsanlage in Spreitenbach hatte sogar für die Verbandszeitschrift der international organisierten Pommes-Chips-Hersteller, den Potato Chipper, Nachrichtenwert. In der Januarausgabe von 1971 titelt sie «Zweifel Gets New Line»:

«A new 3200 lbs/hr chip line has been installed at Zweifel Pomy-Chips, Ltd. in Zurich, Switzerland by Heat and Control, Inc. The complete production line installed includes cookers, peelers, trim table, elevator, slicers, washer-conditioner [sic], heat exchanger, control panel and salter.»221

Mit dieser neuen Anlage entsprach die Produktion des Schweizer Unternehmens nun ganz dem amerikanischen Standard – mit einem Unterschied: Der Output für den kleinen Schweizer Markt erreichte wohl nicht annähernd ein mit den USA vergleichbares Volumen.

Die Firmen Zweifel und Kentaur mögen ihrer Produkte wegen eine besondere Affinität zu den USA gehabt haben, dennoch zeigen ihre Beispiele, welch grosse Ausstrahlung die standardisierte amerikanische Massenproduktion nach 1945 hatte und wie wichtig die dazugehörigen Instrumente und Technologien wurden. Die amerikanische Nahrungsmittelindustrie mit ihren ausgefeilten, rationalisierten Production lines wurde zum Orientierungshorizont. Dass die Firma Zweifel in den 1960er-Jahren damit begann, ihre Produktion auf Vollautomatik aufzurüsten, entsprach dem Geist der Zeit – und dem Geist der amerikanischen Nachkriegsbestrebungen in Europa. Die Meldung über Zweifels neue Anlage im Potato Chipper mag insbesondere deshalb einen Nachrichtenwert besessen haben, weil die Amerikaner darin eine Art Bestätigung für die Marshallpolitik gesehen haben mussten.

Die Entwicklung elektronischer Rechner hat zudem die Visionen einer weitreichenden Automatisierung gespeist, wie der deutsche Historiker Wolfgang König schreibt. Sie hätten die Möglichkeit eröffnet, die gesamte Produktion durch Computer zu steuern und den Informationsfluss in der Fabrik zusammenzufassen. Zusätzlichen Schub verliehen diesen Visionen die computergesteuerten Werkzeugmaschinen, die ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre auf den Markt kamen und eine Erweiterung der Automatisierung von der Massenproduktion auf die Kleinserien- und Einzelfertigungen darstellten.222 Die neuen, vollautomatischen Maschinen und Produktionsanlagen, die sich nach dem Krieg breitflächig auszubreiten begannen, sowie die Möglichkeiten, die die computergesteuerte Technologie in Aussicht stellte, führten dazu, dass mit Beginn der 1960er-Jahre ein breiter Diskurs über die Rationalisierung und Automatisierung einsetzte.223


Abb. 8: Die fortschreitende Automatisierung rief bei den Arbeitnehmern Ängste und Verunsicherung hervor. Man glaubte, bald durch Maschinen und Computer ersetzt zu werden. Die Satirezeitschrift Der Nebelspalter thematisierte dieses Misstrauen in einer Reihe von Karikaturen, Karikatur von 1960.

Einen Hinweis auf die schweizerische Ausprägung der Diskussion geben die zahlreichen Karikaturen in der Satirezeitschrift Der Nebelspalter. Das Gros der Beiträge zur Rationalisierung und Automatisierung ist Anfang der 1960er-Jahre zu finden, als sich die neuen Technologien immer mehr verbreiteten. In den meisten Fällen wurde kritisiert, dass die Menschen durch Maschinen und Roboter ersetzt würden. Die Vorstellung, dass mit der Automatisierung bald menschenleere Fabriken entstehen würden (Abbildung 8), löste bei vielen Menschen Zukunftsängste aus. Sie fürchteten hohe Arbeitslosenzahlen, wie sich dies in den USA bereits abzeichnete. Überspitzt ausgedrückt, erlebte die «Automation» unter diesen Bedingungen gar eine Neuinterpretation, wie die Bildunterschrift bei Abbildung 9 zeigt: Nicht mehr nur bedeutete sie eine «Übertragung von Funktionen des Produktionsprozesses […] vom Menschen auf künstliche Systeme»,224 sondern «die Ersetzung des Arbeitenden durch die Maschine».225

Allerdings gab gleichzeitig auch der hohe Bedienungs- und Kontrollaufwand Anlass zu satirischen Bemerkungen, wie es der Karikaturist E. Leuenberger zum Ausdruck bringt (Abbildung 10). Wie konnte es sein, dass für die Bedienung einer Maschine plötzlich mehr Arbeitskräfte notwendig waren, als die Maschine Arbeiter einsparte? Diese Karikatur verdeutlicht den Strukturwandel in der Industrie, bei dem sich auch die Funktion des Arbeiters veränderte: Nicht mehr die Handfertigkeit und die Muskelkraft waren gefragt, sondern die Fähigkeit, im richtigen Moment den richten Knopf oder Hebel zu betätigen.


Abb. 9: «Amerika hat 4,9 Millionen Arbeitslose. Als Ursache wird neben dem Import von Gütern zur Hauptsache die fortschreitende Automation, d.h. die Ersetzung des Arbeitenden durch die Maschinen genannt.», Karikatur von 1961.

Der historische Rückblick zeigt indes, dass die hier angedeuteten Befürchtungen um den Verlust von Arbeitsplätzen aufgrund der Automatisierung und Rationalisierung analog zu den USA zu diesem Zeitpunkt unbegründet waren – im Gegenteil: Noch nie hatte die Schweiz so tiefe Erwerbslosenquoten wie in den Wachstumsjahren der 1960er- und frühen 1970er-Jahre.226 Dabei reichten die einheimischen Arbeitskräfte bei Weitem nicht aus, um den Bedarf der boomenden Schweizer Wirtschaft zu decken. Zwar konnten ausländische Arbeitskräfte dieses Vakuum teilweise füllen, doch schuf dies – wie gezeigt – eben auch den Anreiz dafür, Umstrukturierungen in Form von Rationalisierung, Automatisierung und Technisierung analog zu den USA rasch umzusetzen. So konnten die Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben und – im Fall von Zweifel und der Hafermühle Lützelflüh – die bewusst stimulierte Nachfrage nach neuen «amerikanischen» Lebensmitteln decken.


Abb. 10: Mit dem Strukturwandel in der Industrie veränderte sich auch das Profil der gesuchten Arbeitskräfte: Nicht mehr Handfertigkeit und Muskelkraft waren gefragt, sondern fantasieloses Bedienen und Überwachen von Maschinen, Karikatur von 1961.

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