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Was sind amerikanische Essgewohnheiten?

Was sind überhaupt amerikanische Essgewohnheiten, und wodurch zeichnet sich ein amerikanischer Ernährungsstil aus? Diese Fragen sind zentral, wenn man über die Amerikanisierung der Essgewohnheiten in der Schweiz schreibt. Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass die Beantwortung von der Perspektive abhängt, die man einnimmt. Die Amerikanerinnen und Amerikaner beschreiben womöglich ganz andere Aspekte ihrer Ernährung als «amerikanisch», als wir dies aus einer europäischen Perspektive tun. Möglicherweise hat sich auch das Bild im Lauf der Zeit verändert. Was verstehen die Menschen im Jahr 1948 unter «amerikanischer Kost», was wird 1960 als typisch amerikanisch empfunden, und wie äussern sich die amerikanischen Besonderheiten heute? Schliesslich ist es bei der Analyse amerikanischer Essgewohnheiten auch wichtig, sich ins Bewusstsein zu rufen, dass es «amerikanisch» an und für sich gar nicht gibt, sondern dass sich diese Eigenschaft aus unterschiedlichen regionalen, kulturellen, ethnischen Gewohnheiten und Besonderheiten zusammensetzt. Das Einwanderungsland USA zeichnet sich gerade in Bezug auf die Ernährung mitunter durch seine multikulturellen Einflüsse aus, die jedoch – und das ist faszinierend – auf irgendeine Art und Weise amerikanisiert und damit popularisiert und standardisiert werden. Ganz im Sinn von Peter Burkes Theorie der Transkulturation141 werden nach dem Motto «von allem das Beste» aus allen möglichen Herkunftsländern Gerichte und Zubereitungsarten aufgenommen, neu interpretiert und den eigenen Bedürfnissen angepasst. Albert Wirz erklärt diese Adaption anhand von Beispielen: «Aus den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer wird der Hamburger, aus der Pizza, einer kargen süditalienischen Armenspeise, die fetttriefende, amerikanische Pizza mit Tomaten, Wurst und fadenziehendem Käse – je mehr, desto besser –, und aus dem Pariser Croissant wird ein üppiges, fettes Sandwich.»142


Abb. 5: «Weshalb es Hamburger heisst? Wahrscheinlich weil diese Spezialität in einem alten Meerhafen erfunden worden ist, wo man ja gern rassige Sachen hat», spekuliert ein Inserat der Thomi & Frank AG von 1955. Tatsächlich stammt der Hamburger von den Rindfleischbrätlingen jüdischer Einwanderer ab und ist damit Sinnbild für eine ganze Reihe von amerikanischen Gerichten, die nach dem Prinzip «Von allem das Beste» die kulinarischen Einflüsse der verschiedenen Einwanderergruppen widerspiegeln.

Die Vereinheitlichung und Assimilation der Esskultur setzte, wie oben gezeigt, nach der Jahrhundertwende ein, angetrieben durch die aufstrebende Nahrungsmittelindustrie sowie durch das Aufkommen von Restaurant- und Ladenketten. Dieser Prozess wurde mitunter auch als «Druck» empfunden. Denn obwohl sich die USA als stolze Multikulti-Nation geben, so ist gleichzeitig zu beobachten, wie wichtig es ist, sich möglichst nicht von den anderen zu unterscheiden und sich möglichst rasch ins amerikanische Konzept einzufügen. Die amerikanischen Essgewohnheiten sind daher nicht als eine einheitliche, nationale Ernährungskultur zu sehen, sondern vielmehr als Schmelztiegel unterschiedlichster, von Kultur, Geschlecht, Alter, Klasse, Schicht und Lebensstilen abhängiger Gewohnheiten, die sich irgendwo zu einem gemeinsamen Nenner finden. Albert Wirz plädiert für den Begriff «salad bowl». Das Bild vom Schmelztiegel habe für die amerikanische Gesellschaft ausgedient, argumentiert er. Geht man jedoch, wie hier, von der Vorstellung aus, dass all jene ethnisch-kulturellen und regionalen Besonderheiten auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, sprich neu interpretiert, an die eigenen Bedürfnisse angepasst und damit amerikanisiert werden, so passt die Metapher des Schmelztiegels recht gut.143 Und diesen gemeinsamen Nenner gilt es herauszukristallisieren, denn er wird von aussen – und möglicherweise auch von innen – als «amerikanisch» interpretiert. Wir dürfen dabei aber nicht vergessen, dass solche gemeinsamen Nenner oft auf Stereotypen beruhen, auf kollektiven, generalisierten und vereinfachten Vorstellungen, deren man sich bedient, um komplexe Sachverhalte oder Eigenschaften zu erklären und zu verstehen.144 Die vorliegende Studie interessiert sich für ebensolche Stereotype. Sie hat nicht zum Ziel, die «wahren» amerikanischen Essgewohnheiten zu untersuchen, sondern das Bild, das man sich in der Schweiz und auf dem europäischen Kontinent von der amerikanischen Esskultur machte. Denn diese kollektiven Vorstellungen bilden den Orientierungs- und Interpretationshorizont, an den sich die Menschen in der Nachkriegszeit hielten, wenn sie auf ihren Studienreisen durch Amerika nach neuen Ideen suchten, wenn sie ihrem amerikanischen Konsumleitbild folgten oder auch wenn sie die Amerikanisierung der Kultur, der Lebensweise und der Essgewohnheiten kritisierten.

Weil Stereotype immer auch an einen zeitlichen Kontext gebunden sind, werden zeitgenössische Stimmen in die Analyse einbezogen. Aus heutiger Sicht assoziieren wir mit amerikanischen Essgewohnheiten sofort Produkte wie Coca-Cola, Pepsi-Cola, aber auch die Burger mit ihren dazugehörigen Fastfood-Ketten von McDonalds bis Burger King sowie deren Drive-thru- beziehungsweise Drive-in-Varianten. Neuerdings prägen auch Starbucks und der Coffee to go in seinen zahlreichen Variationen unser Bild amerikanischer Essgewohnheiten. Amerikanisch sind für uns aber auch die riesigen, kalorienreichen Portionen mit ihren Mengenbezeichnungen large, extra large und venti sowie die daraus resultierenden Kleider- und Körpergrössen – so zumindest unsere Assoziationskette. Doch dies umschreibt bereits ein «Post-Nachkriegszeit-Amerikanisch»: McDonalds kommt in den 1970er-Jahren nach Europa, in den späten 1970er-Jahren in die Schweiz, Burger King folgt wenig später. Starbucks schliesslich markiert den Übergang zum neuen Jahrtausend. Gegründet 1971 in Seattle, öffnet das Unternehmen 2001 seine erste kontinentaleuropäische Filiale am Zürcher Central.145

Wer heute den amerikanischen Westen, insbesondere Kalifornien, oder den Nordosten bereist, entdeckt bald ein ganz anderes Amerika beziehungsweise ein ganz anderes «Amerikanisch» als jenes des Fastfoods, der Wegwerfmentalität und der ungesunden Portionen und Gewohnheiten. Die erwähnten Landesteile geben sich ökologisch, natürlich, nachhaltig, verantwortungsbewusst, und diese Attitüde manifestiert sich in Unternehmen wie Whole Foods, einer Ladenkette, die sich auf biologische und natürliche Produkte spezialisiert hat. Gleichzeitig achten die Menschen hier darauf, sich körperlich fit zu halten und sich nach ständig wechselnden Theorien und Anleitungen «gesund» zu ernähren. Bereist man hingegen südliche und zentrale Bundesstaaten, so finden wir uns viel schneller in den gängigen Klischees über das Land des Überflusses und der unbeschränkten Möglichkeiten bestätigt. Viele Leute sind nicht nur übergewichtig, sie sind riesig – sowohl in der Höhe als auch in der Breite. Läden wie Whole Foods findet man kaum, dafür jede Menge Fastfood-Restaurants.

Die Vorstellung von dem, was «amerikanisch» sei, war um 1950 eindeutig anders, wobei es durchaus auch Gemeinsamkeiten zu heutigen Stereotypen gibt. Die Annabelle zeigte sich zu dieser Zeit im Allgemeinen sehr Amerika-interessiert. Wechselnde Korrespondentinnen berichteten regelmässig über den American way of life, wie sie ihn bei ihrem Aufenthalt in den USA erlebten. Sie vergleichen Schweizer Frauen mit den Amerikanerinnen, erzählen von deren Problemen, berichten aus dem Büroalltag und nicht zuletzt auch über die amerikanischen Essgewohnheiten. Im Mai 1949 schildert eine von ihnen ihre Erlebnisse mit der amerikanischen Küche und verrät die Rezepte der Speisen und Getränke eines umfangreichen Menüs, wie sie es «hie und dort habe erfahren dürfen». Einleitend heisst es:

«Nun habe ich die Amerikaner wieder von einer anderen Seite kennen gelernt, von der kulinarischen. Und sie schneidet gar nicht so schlecht ab, auch wenn sie selbst die europäische Küche als ‹super› betrachtet. Was mich am meisten erstaunte, war die Art, in der sie Süsses und Gesalzenes miteinander servieren. Zum Beispiel gebratenen Schinken und Apfelpüree, oder Speck und Eier und dazu (nicht etwa nacheinander) Toast mit einem Haufen Konfitüre darauf. Aber man gewöhnt sich schnell daran.»146

Das Zitat verrät den Lesern, dass die Korrespondentin überrascht war von der amerikanischen Küche. Sie zeigt sich erstaunt darüber, dass ihr die ungewohnte Küche schmeckt. Zudem äussert sie sich überrascht über die Kombination von Süssem und Salzigem und verrät uns damit gleichzeitig einen typischen amerikanischen Ernährungsstil, nämlich ebendiese Kombination von süssen und salzigen Speisen. Zudem schwingt in ihrer Beschreibung eine besondere Vorliebe für viel Süsses mit.

In den USA weit verbreitete Süss-Salzig-Kombinationen sind auch Erdnussbutter und Konfitüre oder Hamburger, kombiniert mit Milchshake. Was von uns Europäern womöglich als eine «komische» Kombination empfunden wird, ist für die Amerikaner alltäglich. Überhaupt scheinen die amerikanische Küche und die Essgewohnheiten aus zahlreichen eigentümlichen Kombinationen, aus einem Mischmasch unterschiedlichster Stilrichtungen zu bestehen, die das Potpourri der verschiedenen Ethnien und Kulturen verkörpern. Jedes Essen sei eine «symbolische Weltreise, die ganze Welt ein Küchenschrank», hält Wirz fest, und alles werde mit Käse zusammen- und überbacken147 – als ob mit Käse auch noch die letzten ethnischen und regionalen Besonderheiten zu einer Einheit verklebt werden müssten.

Als typisch amerikanisch und gleichzeitig als unsittlich empfand man in der Schweiz in der Nachkriegszeit auch das Essen beziehungsweise das Kauen auf offener Strasse. Zum ersten Mal kamen die Schweizerinnen und Schweizer damit in Berührung, als sich nach Kriegsende rund 3500 kaugummikauende amerikanische GIs in der Schweiz zur Erholung aufhielten. Wie Regula Bochsler in ihrem Aufsatz «Kaugummi und Swing» aufzeigt, brach ob dem Kaugummi eine eigentliche Debatte über Sitten und Unsitten aus, die sich über weit mehr erstreckte als die Essgewohnheiten. Der Kaugummi wurde zu einem Symbol für den Kampf zwischen den Generationen, aber auch für die ambivalente Einstellung zur modernen Konsumkultur und zum American way of life. Das Kauen von Kaugummi überall und jederzeit habe ungute Gefühle geweckt, schreibt Bochsler, denn Essen auf der Strasse sei verpönt gewesen.148 Zwar ist die Verköstigung auf der Strasse seit der Antike bekannt, doch sie war Reisenden und ärmeren Schichten vorbehalten. Wenn möglich assen bürgerliche Schichten und Bessergestellte zu Hause.149

 

Wolfgang König und Albert Wirz stellen fest, die Amerikaner ässen «an allen möglichen Orten und zu allen möglichen Zeiten»150 – «wo immer man hinschaut, sieht man essende und trinkende Menschen, bei der Arbeit, auf der Strasse, im Kino, am Skilift. […] Selbst zwischen den übermannshohen Regalwänden im Supermarkt brauchen viele von Zeit zu Zeit einen Mundvoll.»151

Im Kontext des Überall-und-jederzeit-Essens sowie der damit einhergehenden Auflösung festgelegter Essenszeiten stehen auch die zahlreichen Take-away-Angebote und das Fastfood. Typisch dafür sind die rund um die Uhr geöffneten Restaurants und Supermärkte mit Imbissecken. Doch auch in Parks, an den Highways und Strassen – überall sind Essstände zu finden. Diese Art der Verköstigung hatte ihren Ursprung eigentlich in europäischen und insbesondere auch deutschen Imbissbuden des frühen 19. Jahrhunderts, wo Fleckkocherinnen die Arbeiter versorgten.152 In den USA wurden sie zum Ausdruck des rationalisierten Essens, bei dem «Zeit […] alles und Geschmack […] nichts [ist]».153 Entstanden ist der Begriff des Fastfoods in den USA in den 1950er-Jahren mit dem Aufkommen der amerikanischen Burgerketten, doch auch hier könnten bereits im 19. Jahrhundert erste Anzeichen des «schnellen Essens» gefunden werden, als die Mahlzeit zunehmend zu einer Unterbrechung der Bewegung, der Reise, der Arbeit wurde.154

1950 mag deshalb die Schnellküche in Europa noch nicht (als amerikanisch) wahrgenommen worden sein, doch in der Folge wurde sie in der Form des Fastfoods zu einem immer wichtigeren Attribut von «amerikanisch». Wirz ist sogar der Ansicht:

«Die beste und schnellste Einführung in die amerikanische Nachkriegskultur erhält jedenfalls noch immer, wer mit dem Auto bei einem Drive-thru-Restaurant vorfährt – ob morgens oder mittags, ob tags oder nachts spielt keine Rolle – und einen Cheesburger mit Pommes frittes und einem Süssgetränk ordert, ein Milchschake vielleicht, das nach Erdbeeraroma schmeckt.»155

Auch wenn die Menschen der 1950er- und 1960er-Jahre womöglich (noch) nicht diesem Bild der amerikanischen Essgewohnheiten und des American way of life folgten, so werden daran aber Aspekte des amerikanischen Ernährungsstils deutlich, die sich bereits in der Mitte des Jahrhunderts herausbildeten: erstens die Vorliebe für kalorienreiche Menüs mit viel Fleisch, Fett und Zucker. Der Eiweissverbrauch blieb zwar konstant hoch, jedoch assen die Amerikaner am Ende der 1960er-Jahre fast 30 Prozent mehr Fett als ihre Grosseltern und reichlich Zucker.156

Zweitens das Phänomen der Restaurantketten mit ihren immer gleichen, simplen Menüs und dem Versprechen der gleichbleibenden Qualität. Diese Restaurantketten trugen nicht nur zur Vereinheitlichung und zur Herausbildung einer amerikanischen Küche bei, sie sorgen mit ihren identischen Speisekarten, den immer gleichen Einrichtungen und Dienstleistungen auch dafür, dass sich die Amerikanerinnen und Amerikaner überall, wo sie in ihrem riesigen Land hinkommen, zu Hause fühlen – egal wie verschieden das Klima, die Topografie, die Menschen sind. Darüber hinaus steht das Kettenprinzip, ähnlich wie die Schnellküche, für einen hohen Grad an Rationalisierung, die in der Standardisierung des Angebots sowie in der Selbstbedienung zum Ausdruck kommt. Anders als vielleicht bei den frühen Formen des Fastfoods wurden in Europa Restaurationsformen mit Selbstbedienung als typisch amerikanisch wahrgenommen und übernommen.157

Sehr amerikanisch ist drittens auch die im Zitat von Wirz beschriebene Beziehung zwischen Massenmotorisierung und Ernährung. Bereits in der Zwischenkriegszeit setzt sich in den USA das Auto als Massenverkehrsmittel durch. 1923 besass schon jede zweite Familie ein Auto, beim Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es bereits eine beträchtliche Anzahl Familien, die über zwei oder drei Autos verfügten, sodass rein statistisch von einer Vollmotorisierung gesprochen werden kann.158 Diese rasante Entwicklung übertrug sich auch auf die Mahlzeit-Gewohnheiten. Zunächst entstanden Restaurants, die das Essen statt an einen Tisch ans Auto servierten oder bei denen man direkt mit dem Auto zur Essensausgabe fahren konnte, sogenannte Drive-ins. Später entwickelten sich daraus die Drive-thrus, die das Fastfood durchs Autofenster servieren. Dine and Drive nennt sich dieses Prinzip. Heute werde bereits jedes sechste Essen im Auto verzehrt, schreibt König.159

Als amerikanisch interpretiert wurde schliesslich bereits in der Nachkriegszeit auch eine ganze Reihe von Nahrungsmitteln und Marken – allen voran Coca-Cola, das während und nach dem Zweiten Weltkrieg durch die GIs in Europa Verbreitung fand und zum eigentlichen Symbol der modernen Lebensweise und der amerikanischen Kultur und Macht auf dem ganzen Globus avancierte. Doch auch die Ketchup-Firma Heinz, Kellogg mit seinen Cornflakes, Schokoladenriegel wie Mars, Snickers und Milky Way wurden im Verlauf der 1950er- und 1960er-Jahre zu Symbolen für den American way of life. Typischerweise wurden auch jene Nahrungsmittel als amerikanisch angesehen, die sich in den USA einfach schneller durchgesetzt hatten.

Tiefkühl- und Büchsennahrung fiel anfänglich in diese Kategorie.160 In einem «Brief aus Amerika an meine Mutter» beschreibt Paul Rothenhäusler in der Annabelle, wie die Amerikaner verschiedene Nahrungsmittel in einem «Deep-freezer» monatelang lagerten: «Du weisst, dass man heute in Amerika neben einem Kühlschrank noch einen ‹Deep-freezer› hat. In ihm ruht der Fleisch- und Fettvorrat, sowie tiefgekühlte Früchte und Gemüse für Monate, alles steinhart gefroren. […] Bevor man Früchte essen will (ca. 24 Stunden vorher), legt man sie vom ‹Deep-freezer› in den Kühlschrank, damit der ‹Stein› sanft wird.»161

Auch was die Mahlzeiten anbelangt, entstand nach dem Zweiten Weltkrieg eine kollektive Vorstellung davon, wie sich die Amerikanerinnen und Amerikaner ernähren würden. Diese Vorstellung entsprang hauptsächlich der Berichterstattung in den Medien. In der Annabelle wird beispielsweise ein Mittagessen einer jungen, berufstätigen Frau beschrieben:

«Ihr Mittagessen nimmt sie im nächsten ‹drugstore› ein – auf einem Schemel am langen Tisch hockend. Es besteht unweigerlich aus einer Tasse Kaffee – dazu ein dünnes Sandwich, eventuell ein Stück Kuchen – oder ein Eiscream oder ein Orangensaft. Gesamtpreis: 25 bis 50 cents. Figur und Portemonnaie gestatten keine grösseren Extravaganzen.»162

Das Abendessen – so wird es an einer anderen Stelle beschrieben – besteht aus Tomatensaft, einem Steak oder Chops, Salat, einem Gemüse und einem Dessert. Dazu wird ein grosses Glas frische Milch getrunken.163

Wie sah nun aber das eingangs erwähnte amerikanische Menü aus, das die Annabelle-Korrespondentin «hie und dort» erleben durfte? Zur Vorspeise gab es einen Shrimp Porcupine (einen mit Crevetten gespickten Kabiskopf), dazu einen Old Fashioned, einen Cocktail aus Whisky, Angostura, Zitronen- und Orangenscheiben sowie einer Menge Eis. Anschliessend wurde Veal Casserole serviert, bei dem Kalbsplätzli mit verschiedenen Gemüsezutaten und Bechamelsauce so lange im Ofen gebacken werden, bis «das Fleisch auseinanderfällt». Dazu gab es Carroting, das dem Rezept nach einem Karotten-Soufflé ähnelt, sowie «Fruitsalat» [sic]. Die Korrespondentin bemerkt dazu: «Wird nicht als Dessert, sondern zum Hauptgang serviert.» Begleitet wird dieser Hauptgang zudem von Biskuits, die anstelle von Brot zu «jede[r] gute[n] Mahlzeit im Westen» gehörten. Serviert werden die Biskuits heiss, und gegessen werden sie, in dem sie halbiert, mit viel Butter und je nach Geschmack auch mit Konfitüre bestrichen und wieder zusammengeklappt werden. Zum Dessert schliesslich werden Butterscotch Cream und Peanutbutter Cookies gereicht. «Und nun viel Vergnügen und guten Appetit.»164

Teil II
Vorbild Amerika

« Die Leichtigkeit, mit der amerikanischen [sic] Technik, Direktinvestitionen, Finanzierungspraktiken, ‹know-how›, Unternehmensführungsmethoden und Produkten [sic] in Europa Fuss fassen, gibt zur Befürchtung Anlass, die europäische Industrie könnte von der amerikanischen beherrscht werden. Diese Befürchtung ist um so begründeter, als die amerikanischen Grossunternehmen in Europa grosse Massenfabrikationsstätten errichten, wobei sie sich nicht nur auf ihre hochmodernen Produktions- und Managementmethoden, sondern ebenfalls auf ihren internationalen Vermarktungsapparat sowie auf unzählige ihren Erzeugnissen bereits offenstehende Märkte in aller Welt stützen können.165 »

Push- und Pullfaktoren der Amerikanisierung

Die Vereinigten Staaten avancierten im 20. Jahrhundert zu einem Vorreiter der modernen Konsumgesellschaft und wurden zu einem eigentlichen kulturellen und wirtschaftlichen Leitbild. Oft verwendete Ausdrücke wie American way of life oder American way of manufacturing verweisen auf diese Überlegenheit – beziehungsweise auf die Wahrnehmung einer solchen Dominanz. Die amerikanische Historikerin Victoria de Grazia attestiert den USA in diesem Zusammenhang eine «bemerkenswerte Fähigkeit, auch für andere souveräne Staaten neue Konsumgewohnheiten zu definieren»: Die Amerikaner hätten dies über zwischenstaatliche Kanäle auf Regierungsebene sowie über die Vermittlung des American way of life durch Direktinvestitionen und Geschäftsabschlüsse privater Unternehmen, durch die freie Marktwirtschaft und den Export von Konsum- und Kulturgütern bewusst gesteuert.166 Auch Richard Pells macht auf die Vielschichtigkeit des amerikanischen Einflusses aufmerksam: «American corporate and advertising executives, as well as the heads of the Hollywood studios, were selling not only their products but also America’s culture and values, the secrets of its success, to the rest of the world.»167

Damit ist ein zentraler Punkt angesprochen: Die USA waren stets daran interessiert, nicht nur Güter zu exportieren, sondern ganz bewusst auch ihre Denk- und Lebensweise.

Die Übernahme amerikanischer Praktiken, Lebensweisen und Konsumgüter ist in Europa während rund 50 Jahren (1920–1970) feststellbar, wobei in der geschichtswissenschaftlichen Forschung von einem Höhepunkt in den 1950er- und 1960er-Jahren ausgegangen wird.168 Wesentlich ist, dass es sich bei dieser Beeinflussung sowohl um ein «Bringen» (Push) als auch um ein «Holen» (Pull) handelte. Keineswegs geschah die Amerikanisierung nur in eine Richtung. Kritiker werfen den Amerikanern gerne Kultur- und Wirtschaftsimperialismus vor, doch die Schweizerinnen und Schweizer zeigten sowohl als Konsumenten wie auch als Produzenten mindestens ebenso viel Interesse am American way of life beziehungsweise am American way of manufacturing, selling, marketing, wie die Amerikaner ihrerseits versuchten, die Europäer von ihren Werten und Handlungsweisen zu überzeugen.

Dieses Neben- und Miteinander von europäischem Nachahmungswillen und amerikanischem Sendungsbewusstsein war entscheidend für die erfolgreiche Adaption amerikanischer Ideen und Konzepte. Bis zum Zweiten Weltkrieg wurde Europa als das Zentrum der westlichen Welt wahrgenommen – wirtschaftlich, wissenschaftlich, politisch und kulturell. Zwar setzten die USA bereits ab der Zwischenkriegszeit mit ihren rationalisierten, standardisierten Massenproduktions- und Arbeitsorganisationskonzepten (Taylorismus und Fordismus) und der einsetzenden Konsumkultur auf Basis des New Deals einen Meilenstein für die zukünftige «Konsum-Moderne», doch politisch und wirtschaftlich blie ben die USA bewusst im Hintergrund.169 Dies änderte sich mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg – und vor allem nach dem Krieg: Die USA avancierten zur führenden Macht der westlichen Welt, zu einer «Chiffre für die Moderne»170 und zu einem Leit- und Vorbild für Konsum, Produktion und Lebensweise. Gleichzeitig versuchten die amerikanische Politik, die Wirtschaft und auch die Unterhaltungsindustrie gezielt, den europäischen Kontinent zu beeinflussen, ja gar zu «amerikanisieren».171 Die USA sahen sich als God’s own country, das sich für das Wohl der ganzen Welt einsetzen musste. Europa hingegen war aus Sicht der Amerikaner am Ende des Zweiten Weltkriegs ein zerstörter, hilfloser Kontinent, der trotz souveränen Staaten auf die wirtschaftliche, politische und kulturelle (Entwicklungs-)Hilfe der neuen Weltmacht angewiesen war. Mit geradezu missionarischem Eifer machten sich die USA nach Kriegsende daran, Europa auf politischen und staatlichen, aber auch auf privaten, wirtschaftlichen Kanälen mit amerikanischen Konzepten, Produktionsverfahren, Werten und Überzeugungen zu bekehren.172

 

Um die europäische Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wieder in Schwung zu bringen und den Aussenhandel zu stimulieren, riefen die USA das European Recovery Program (ERP), besser bekannt unter dem Begriff «Marshallplan», ins Leben.173 Das ERP war die erste und bedeutendste von insgesamt vier «Missionen», die das amerikanische Engagement in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg umfasste. Neben der Wirtschaftshilfe und dem Kulturexport diente das amerikanische Engagement im anbrechenden Kalten Krieg im Wesentlichen aber auch dazu, die Attraktivität des kommunistischen Gedankenguts in Europa zu schmälern und im Gegenzug die Vorzüge des Kapitalismus aufzuzeigen.174

Die Marshallhilfe dauerte vom Frühling 1948 bis zum Sommer 1952. Obwohl die Schweiz keine amerikanischen Hilfsgelder benötigte, beteiligte sie sich am Marshallplan.175 In dem Zusammenhang wurde die Schweiz auch Mitglied bei der Organization for European Economic Cooperation (OEEC), die als Organisations- und Verteilungsorgan der Marshallhilfe gegründet worden war und deren Mitgliedschaft Bedingung für die Beteiligung am Marshallplan war. In der OEEC hatte die Schweiz bekanntlich jedoch einen Sonderstatus, der in der sogenannten «Schweizer Klausel» geregelt war (Art. 14 der OEEC-Vereinbarung). Die Klausel ermöglichte, dass die Schweiz der OEEC trotz Neutralität und bilateralen Wirtschaftsbeziehungen nach Ost und West beitreten konnte. Art. 14 ermöglichte der Schweiz, Entscheide der OEEC zurückzuweisen, ohne dass dabei das Prinzip der Einstimmigkeit verletzt worden wäre. Die Motivation zur Teilnahme war denn auch in erster Linie handelspolitischer Natur. In der Schweiz zeichnete sich bereits 1947 ein Wirtschaftsboom ab, und der Schweizer Franken gehörte zu den stabilsten Währungen der Welt. Im Gegensatz zu den anderen europäischen Ländern verfügte die Schweizer Nationalbank zudem über reichlich US-Dollars. Trotzdem hatte der Marshallplan für sie grosse Bedeutung: Als europäisches Binnenland mit beschränkten Ressourcen war die Schweiz vom Aussenhandel abhängig. Mit der Teilnahme an den Marshallplan-Aktivitäten wollte sie deshalb einer wirtschaftlichen Isolation und Diskriminierung entgegenwirken, ohne dabei in eine europäische Zollunion integriert zu werden, wie dies die USA vorsahen. Zu wichtig waren ihr die bestehenden bilateralen Handelsabkommen, die ihr ein hohes Aussenhandelsvolumen sicherten.176


Abb. 6: Werbeplakat für das European Recovery Program (ERP), 1950. Obwohl sich die Schweiz nicht aktiv daran beteiligte, erscheint sie an prominenter Stelle.

Die USA investierten insgesamt rund 12,5 Milliarden Dollar in den Wiederaufbau Westeuropas.177 Dadurch erhielten sie einerseits enormen wirtschaftlichen Einfluss auf die Empfängerstaaten. Denn die Marshallgelder waren an verschiedene Bedingungen geknüpft, darunter die regelmässige Berichterstattung über die inländische Wirtschafts-, Produktions- sowie Handelssituation. Andererseits war insbesondere die psychologische Beeinflussung von grosser Bedeutung: Die Amerikaner bedienten sich modernster Werbe- und Marketingmittel, um die Europäer vom Marshallplan und den amerikanischen Werten, Überzeugungen und Lebensstilen zu überzeugen. Mal offensichtlicher, mal unterschwelliger wurde den Westeuropäern mittels Plakaten, Comics, Fotoausstellungen, Radiosendungen und mobilen Puppentheatern gezeigt, wie sich ihre Situation durch die amerikanischen Hilfsgelder und -güter, aber auch durch die Übernahme der überlegenen amerikanischen Konzepte sowie den freien Handel verbessern würde.178 Ein Beispiel eines solchen Werbeplakats für den Marshallplan zeigt Abbildung 6. Die Botschaft ist offensichtlich: Das Schiff «Europa» kommt dank ERP mit vollen Segeln voran. Interessant ist an dieser Darstellung aber noch ein weiterer Punkt: Obwohl die Schweiz innerhalb der OEEC einen Sonderstatus erwirkt hatte und nur partiell am Marshallplan teilnahm, ist das Schweizerkreuz bei der Anordnung der Landesfahnen auffallend prominent dargestellt, während andere Voll-Teilnehmerländer wie Irland, Luxemburg oder Portugal kaum erkenntlich sind. Gab es für diese Anordnung einen besonderen Grund, oder steckten dahinter bloss ästhetische Überlegungen? Eine eindeutige Antwort auf diese Frage lässt sich aus heutiger Perspektive schwer finden. Fest steht jedoch, dass die Schweizer Teilnahme am Marshallplan gerade wegen des Beitritts zur OEEC innenpolitisch umstritten war.179 Die Darstellung jedoch suggeriert, dass die Schweiz innerhalb des ERP ein zentrales Element ist. War es also Propaganda an die Adresse der Schweizer Öffentlichkeit?

Eine jener amerikanischen Eigenschaften, die die Europäer von den Amerikanern übernehmen sollten, war eine effiziente Produktion. Hierfür wurde ein kleines, relativ unabhängiges Teilprogramm zum Marshallplan geschaffen, die sogenannte US Technical Assistance and Productivity Mission (USTA&P) oder kurz Productivity Mission.180 Ziel der Aktivitäten der USTA&P war, die Produktivität der europäischen Industrie und Verwaltung zu steigern und dem Level ihrer amerikanischen Pendants anzugleichen.181 Als der Marshallplan im Juni 1952 offiziell auslief, wurde die Productivity Mission zu einem der wichtigsten amerikanischen Unterstützungsprogramme, die noch stärker als der Marshallplan zum Ziel hatten, in Europa amerikanische Werte, Techniken sowie Wissen und Verhaltensweisen zu etablieren.

Ein wichtiger Bestandteil der Productivity Mission war die Förderung von Studienreisen, wie sie zu jener Zeit auch in der Schweiz in vielen Wirtschaftsbranchen äussert beliebt waren. Im Rahmen des Austauschprogramms der Productivity Mission erfolgten Studienreisen in beide Richtungen. Zum einen wurden amerikanische Geschäftsleute, Gewerkschaftsvertreter und Professoren nach Europa geschickt, damit sie ihre europäischen Pendants über amerikanische Organisationen, Methoden, Theorien informieren konnten, zum anderen bekamen auch zahlreiche europäische Entscheidungsträger aus den unterschiedlichsten Bereichen die Gelegenheit, an einer Reise in die USA teilzunehmen, um von den Amerikanern zu lernen.182

Vorgelebt und vermittelt wurde der American way of life den Europäern nach 1945 auf vielfältige Weise: Durch die GIs, in amerikanischen Kinofilmen und zunehmend auch in Fernsehserien, in der Werbung sowie in Zeitschriften und den Nachrichten durch Beiträge und Bilder. Richard Pells hält fest:

«The ubiquitous GI was often the first American most people in Britain, France, Italy, or Germany had ever met, the first American whose behavior they were able to observe at close range. […] As they swaggered down the street, brimming with health and confidence, looking larger than life and certainly more robust than the local population, the soldiers seemed the embodiments of a vulgar, flamboyant, mythological America.»183