Seltene Erde

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Es gibt Gründe, irritiert zu sein.

Man könnte sich der Irritation hingeben. Überlegen, was aus der Irritation werden könnte. Eine Verstörung. Eine Gelegenheit. Oder eben: ein Ausweg. Vergessen, dass man eigentlich in einer Situation ist, in der Entscheidungen getroffen werden wollen. Sich der Idee hingeben, einfach nicht zurückzukehren. Das Kind, verschollen in Russland. Tragisch ist das. Der einzige Weg ins Freie, der offensteht. Sich im Schaukeln des Überlandbusses auf dem zerschlissenen Sitz zurücklehnen und diese Person betrachten, über die man da gestolpert ist. Denken: Alles könnte anders sein.

Ein paar Tage später, kurz vor Thereses Abflug, ruft dann die Mutter an und sagt, die Großmutter sei gestorben. Tatsächlich sagt sie: Die Oma hat es geschafft.

Ist sie tot?

Hörbare Verunsicherung am anderen Ende. Der Verunsicherung mit Details begegnen. Die Mutter erzählt von der blau verfärbten Zunge der Großmutter. Eine Folge des Kontrastmittels. Das helle Dreieck um den Mund habe die Pflegerin schon am Abend bemerkt und gesagt, nun könne es nicht mehr lang dauern. Und dann in den frühen Morgenstunden. Dass das üblich sei oder statistisch gesehen die Regel. Die ganz Alten sterben oft in den frühen Morgenstunden.

(Was habe ich gestern in den frühen Morgenstunden gemacht.) Therese?

Woher weißt du das, warst du dabei?

Sie haben es mir erzählt. (Als nichts kommt:) Ach Therese. Wie stellst du dir das vor. Wir konnten doch nicht die ganze Zeit … Bist du noch dran –?

Die Mutter versucht es mit weiteren Einzelheiten, von der ordentlich hergerichteten Großmutter, eine Hand auf der anderen, aber nicht gefaltet, immerhin, in sehr glatter Bettwäsche. Therese denkt an die geschwollenen Fingerknöchel und den benoppten Hartgummiring, den die Großmutter vor dem Fernseher knetete. Die Mutter weiter: dass sie keine Schmerzen hatte. Friedlich aussah zum Schluss.

Hat sie noch etwas gesagt?

Nein, sie hat gar nicht mehr gesprochen. Aber ihren Schokopudding hat sie mir geschenkt am Abend vorher.

Da kann Therese endlich heulen. Sie will ihren Flug umbuchen, aber Kind, das bringt doch nichts, sagt die Mutter, du kannst hier doch nichts machen, wir sehen uns am Donnerstag, ich hole dich ab. Zwei Tage später stehen sie voreinander an der Schiebetür in der Ankunftshalle und jede zuckt einmal kurz nach vorn und beide bemerken es gleichzeitig und geben sich dann gleichzeitig diesen Ruck, den man sich gibt manchmal, und umarmen sich.

Als Therese zurück nach Deutschland kommt, ist das Zimmer im Pflegeheim längst ausgeräumt. Das Heim war eines der besseren, mit Gedächtnistraining an den Abenden, Hauskonzerten, zweimal im Jahr einem Geriatrieclown. Trotzdem hing in irgendeiner Ecke immer der Geruch von Pisse und einer der Alten war immer ungekämmt oder hatte noch das Stückchen Ei vom letzten Frühstück auf der Strickjacke. Die Haare der Großmutter auf einer Seite plattgedrückt. Ihr Blick: Kann ich nicht wieder zu euch?

Die Großmutter hatte bei ihrem Auszug aus dem Haus darauf bestanden, zumindest den Sekretär mitzunehmen. Jetzt lagert er zusammen mit dem spärlichen Rest des Mobiliars unter einer Plastikplane vor der elterlichen Garage und tatsächlich ist er das einzige Teil, das sich auf die Schnelle problemlos verkaufen lässt. So ein schönes Stück. Der Selbstabholer streicht über das Holz, kratzt in den Gängen der Holzwürmer und sagt, das könne man alles machen lassen. So eine Qualität gibt’s ja heute gar nicht mehr. Und das da – er fährt mit dem Zeigefinger über die fünf eingeritzten Buchstaben im Seitenfach: MERDE –, das lässt sich abschleifen. Oder ich lasse es so. Er lächelt.

Der Selbstabholer bezahlt, ohne zu handeln, und zurrt den Sekretär auf einem Anhänger fest. Therese ist schon auf dem Weg zurück ins Haus der Eltern, als er ruft, hier, das wollen Sie doch bestimmt behalten, und ihr das Foto entgegenstreckt. In eines der seitlichen Regalbretter muss es gepinnt gewesen sein, dort, wo die Taschenkalender mit den Plastikeinbänden gestanden haben. Über Jahrzehnte das beinah gleiche Modell. Nur wenn man die ersten und letzten Exemplare aneinanderhielt, ließ sich eine veränderte Aufmachung feststellen, zwischen benachbarten Jahrgängen nur Nuancen. Ab einem gewissen Punkt, hatte die Großmutter gesagt, hatte alles seine Ordnung in meinem Leben. Das Bild ist ein Schnappschuss, offenbar vor dem Kirchgang. Therese kennt es nicht, hat überhaupt nie jemals ein Bild von der Schwester gesehen. Ist doch alles verbrannt, hatte die Großmutter gesagt. Im Hintergrund ein Dorfplatz, die Kirche. Nicht ganz scharf. Beide mit Rock und Bluse, links eindeutig die Großmutter, die Stirn, die Augenpartie, in die Kamera lächelnd. Daneben mit Baskenmütze, eingehakt, die andere. Sie trägt den Pelzmantel offen und lacht, man sieht ihre Zähne. Das Foto ist abgegriffen und in der linken Bildhälfte ein schmaler Streifen von der Sonne gebleicht. Zwischen den Köpfen der beiden die Einstiche von Reißzwecken.

Danke, hab ich vergessen, sagt Therese zu dem Selbstabholer, der vor ihr steht, als erwartete er eine Erklärung. Oder meine Mutter hat es vergessen. Die hat den Sekretär ausgeräumt.

Im Hausflur dreht Therese das Foto um. Meiner geliebten Schwester, steht dort geschnörkelt auf der Rückseite, im herzlichen Angedenken an unsere schöne Jugendzeit. Von deinem Darling Lene.

Die Beerdigung findet erst eine Woche nach Thereses Rückkehr statt, weil um diese Jahreszeit viele sterben. Exakt eine halbe Stunde dauert die Zeremonie, ohne dass ein Blick des Pfarrers auf die Uhr aufgefallen wäre. Die Mutter hält ein Taschentuch zwischen den gefalteten Händen. Dasitzen und nicht weinen können. Als sie sich später von den Bänken erheben und den vier Männern zum Seiteneingang folgen, die den Sarg aus der Halle tragen, betritt durch die Eingangspforte schon die nächste Trauergemeinde den Raum. Therese dreht sich an der Tür um, man nickt sich zu. Dann ist auch das vorbei.

Wenige Monate später ist der bürokratische Teil erledigt und Therese hat den glatten Betrag von zweitausend Euro auf dem Konto. Sie gibt ihre Embryonalstellung auf dem Bett im Wohnheim auf, läuft einen Nachmittag ohne besonderes Ziel durch die Stadt, sucht am Abend aus ihrem Kalender den Zettel heraus mit der erstaunlich kleinen Handschrift und schreibt der Frau aus Russland. Schreibt: Ich komme mit. Lenka antwortet: Was ist passiert? Und als nichts zurückkommt: Ich weiß es nicht, aber das freut mich sehr, Therese, sehr.

Als sie beschließt, in Lenka einen Ausweg zu sehen, ist es nüchtern betrachtet nicht mehr als ein Nachmittag auf einer Bank am Finnischen Meerbusen, ein Tagesausflug zu einem Stadtjubiläum und ein Gang über einen Vorstadtfriedhof, was die beiden verbindet. Außerdem stand Lenka dabei, als Therese in St. Petersburg in das Taxi stieg, das sie zum Flughafen brachte. Viel ist es also nicht, noch dazu endete die Begegnung mit einer Irritation, eventuell sogar mehreren. Therese war schon auf dem Weg nach unten gewesen, als die Gastmutter sie noch einmal zurückgerufen hatte. Etwas unbeholfen hielt sie ihr auf halber Treppe ein Buch hin, eingeschlagen in schwarzes Kunstleder. Unter goldgeprägter hebräischer Schrift stand am unteren Rand: Holy Bible. Vielleicht wegen der Großmutter. Kaum eine Woche vergangen und ein zweites Mal so etwas wie Rührung. Spassibo, sagte Therese und küsste der Gastmutter ungewollt feucht auf die Wange, rannte die Treppe hinunter, den Rucksack über der Schulter, die Reisetasche in der Hand, die Bibel unter den Arm geklemmt. Sie trat aus der Tür, fiel fast über den Taxifahrer und da stand neben dem Auto Lenka. Irritation, vor allem aber Erleichterung. Sehen wir uns also doch noch einmal.

Hey, sagte Therese, weil ihr nichts Besseres einfiel.

Hey.

Wie verabschiedet man sich in einer solchen Situation? Die Felixe und ein paar der anderen aus dem Sprachkurs hatten ihr Kraft gewünscht und sie umarmt. Wahrscheinlich hätte Therese das an ihrer Stelle auch getan. Lenka aber wünschte ihr keine Kraft, auch kein starkes Herz. Sie umarmte sie auch nicht. Lenka stand vor Therese und legte ihr zum Abschied die Hand in den Nacken und weil sie nicht besonders dicht voreinander standen, bekam auch der seitliche Teil ihres Halses ein Stück von Lenkas kaltem Handballen ab. Gute Reise, sagte Lenka: Schastlivogo putí, und Therese spürte den Druck von fünf einzelnen Fingern. In diesem Moment öffnete der Taxifahrer den Kofferraum. Als würde etwas den Mechanismus blockieren und jetzt mit einem Kreischen nachgeben. Der Taxifahrer hob entschuldigend die Hände. Aber davon abgesehen, das sagte sein Blick: Können wir?

Hier, für dich. Sie hielt Lenka das Buch hin, es war ein Reflex, mehr nicht.

Lenka betrachtete den Einband und hatte eventuell für einen Moment ihr Gesicht nicht unter Kontrolle. Eventuell stellte sie auch einiges der letzten Tage infrage. Was sollte sie dazu sagen? Lenka entschied sich für: Danke.

Danke, sagte Lenka und ließ Thereses Nacken los.

Aber für eine Erklärung war keine Zeit. Therese blickte in Lenkas Gesicht, hörte die Fingerspitzen des Taxifahrers auf der Kofferraumklappe tippeln und sagte deshalb nur ihrerseits schastlivogo putí, so wie sie es neulich gelernt hatte, sie sagte es sehr leise und absolut korrekt und es war nicht ganz klar, wen sie meinte. Danach noch: Bis bald. Aber das eher aus Gewohnheit.

Ankommen II.

Bevor sie zwischen den Abgasen der ankommenden, abfahrenden, wartenden Reisebusse wieder voreinander stehen, fährt Therese durch die ewigen Weidegründe der Pampa und spielt mit den Mitfahrern über die Bordentertainmentanlage Bingo, ist aber zu langsam, um die ausgerufenen Zahlen auf ihrem Bingobogen zu finden. So viel zu vier Jahren freiwilligem Spanischunterricht am Nachmittag, Mutter. Den Tinto gewinnt eine Muttersprachlerin, die daraufhin im Mittelgang eine kurze Dankesrede hält. Die restliche Fahrt döst Therese im Gefechtslärm eines Historiendramas, nur selten nickt ihr Kopf nach vorne ins Leere.

 

Später sitzt sie über Stunden im Café des Bahnhofs und wartet auf den Bus aus der Provinzhauptstadt. Wartet sehr lang, wandert umher zwischen den Läden in der Bahnhofshalle, setzt sich, wandert umher. Vielleicht hat sie sich Lenkas Ankunftszeit doch falsch notiert. Jetzt rächt es sich, dass sie sich den Kram nicht ausgedruckt hat. Die beiden WLAN-Netze, die sie findet, sind verschlüsselt und im Café lächelt die Bedienung nur mitleidig, als sie nach einem Internetzugang fragt. Warten. Über Stunden. Auf dem Klo an der Stirnseite des Bahnhofs liegt ein totes Tier in der Ecke, von dem nicht mehr viel zu erkennen ist. Ein riesiger Gecko oder eine halb verrottete Ratte. Um die sirrende Neonröhre schwirren Motten. Draußen ist es schon dunkel und nicht viel los um diese Uhrzeit, nur die älteren Herrschaften mit ihren karierten Plastiktaschen und immer mal einer der Ladenbesitzer zum Rauchen. Im kleinen Radius um den Rucksack und das Handgepäck, die sie auf der Bank vor den Haltebuchten abgelegt hat. Weiter als bis zur Anzeigetafel kommt Therese nicht mit den paar getigerten Metern, die sie das Gepäck im Auge behalten lassen, aber die Anzeige ist offenbar ohnehin schon am Nachmittag des Vortags hängen geblieben. Ob der und der Bus Verspätung habe, fragt Therese einen der Bahnhofsmitarbeiter, der die Mülleimer leert, und der setzt erst an zu erklären, er habe mit den Fahrplänen nichts zu tun, winkt dann aber beruhigend ab: Bis jetzt sind sie noch immer alle gekommen.

Und irgendwann, da ist es schon spät, behält er recht. Als sich die Tür des Reisebusses zur Seite schiebt und Lenka die Treppe herunterstakst, wirkt sie noch magerer als beim letzten Mal. Sie zieht ihr Gepäck aus der Ladeklappe und blickt sich mit ihren schlechten Augen in der Gegend um, bis Therese es nicht mehr aushält und winkt, einmal ihren Namen ruft, husten muss in der Abgasluft, und dann ist Lenka schon bei ihr. Sie umarmt sie unbeholfen und auch hier, in der schwülen Nacht: ihre kalten Hände. Die Hitze staut sich unter dem Plexiglasdach.

Nachts liegen sie am Bahnhof um die Armlehnen der Wartebänke gekrümmt, an Schlaf ist kaum zu denken. Wie dick können die Nähte einer Jeans sein? Therese setzt sich auf und reibt sich die Oberschenkel. Draußen verrichtet ein Presslufthammer sein Werk und irgendwo kreischt eine Säge, vermutlich weil niemand hier um diese Uhrzeit vermutet wird. Lenka liegt regungslos, was erstaunlich genug ist. Es bleibt ein Rätsel, wie Menschen veranlagt sein müssen, um mehrere Stunden am Stück die Ruhe für Schlaf zu finden. Therese ist im Grunde immer müde und schläft trotzdem schlecht. Das ist nichts Neues. Sie sollten sich weniger Sorgen machen. Dieser Ansicht war der Arzt zu Hause gewesen, nachdem er ein großes Blutbild angefertigt und ihr erklärt hatte, es sei, wie ich bereits vermutete, so gut wie ausgeschlossen, dass ihre Müdigkeit etwas mit dem Wachstum zu tun haben könnte. Nicht in dem Alter. Mit Anfang zwanzig. Auch einen Eisenmangel könne er nicht feststellen. Machen Sie sich nicht so viele Sorgen, das würde vielleicht schon helfen. Oder Yoga.

Danke, ich komme zurecht, sagte Therese.

In Berlin saß sie morgens bisweilen ratlos vor dem Kaffee: Wie soll man in diesem Zustand den Tag herumbringen. Sie stand in ihrem Zimmer im Wohnheim, gerade noch auf dem Weg zu einer Erledigung, wollte etwas holen, suchen, nachsehen, schon konnte sie sich nicht mehr erinnern, was es eigentlich gewesen war. Nach einer Weile fiel es ihr wieder ein, doch kurz darauf stand sie wieder in der Zimmermitte. Mit Anfang zwanzig vergesslicher als die achtzigjährige Großmutter. Nachts atmete Therese bewusst einauseinaus, verfolgte jeden Atemzug gedanklich nach, sie stand auf und las, zählte in der Dunkelheit, atmete wieder bewusst, atmete einauseinaus, erklärte sich die düsteren Gedanken mit einem erhöhten Melatoninspiegel, aber es half nichts. Lange schlaflose Nächte.

Doch irgendwann ist jede Nacht vorbei. Sie setzt sich auf. Muss doch geschlafen haben. Steifer Nacken, Erschöpfung. Wenn sie sich wenigstens das Gesicht waschen könnte, aber in der Halle ist so früh am Morgen noch alles verschlossen. Lenka ist schon wach und blättert in einem abgegriffenen Heft mit grünem Kunstledereinband. Kyrillische Zeichen, soweit es sich erkennen lässt, ein paar griechische. Schräg gegenüber die wenigen anderen Fahrgäste, ein Backpackerpärchen in Pluderhosen, ein älterer Herr hinter zusammengebundenen Weidenkörben, ein Kräftiger mit Vollbart und zwei Kindern. Ständig blickt einer hoch zur Bahnhofsuhr: immer noch zwanzig Minuten. Sich weiter im Raum umsehen, ein bisschen im Reiseführer blättern. Eine überdachte Einkaufsstraße. Das kann man ja mal vorlesen. Lenka schaut nur kurz auf, hm, macht sie, dann beugt sie sich wieder über ihr Notizbuch. Schließlich ein Knacken in der Lautsprecheranlage. Der Zug fährt ein.

Vom nördlichen Stadtrand aus schlängelt er sich zweimal in der Woche hinauf in die Berge. Selten genug, um die Pflanzen nicht daran zu hindern, den Gleisen entgegenzuwachsen. Äste quietschen über halb blinde Scheiben. Sobald sie die Stadtgrenze verlassen haben, lichtet sich das Dickicht und der Blick wird weiter. In der Ferne tauchen einzelne Hügel auf, vorne ziehen die Felder vorbei. Zwischen brennendem Feldabfall stehen Kinder und werfen Steine auf die Waggons. Kleinere auf dem Arm ihrer Mütter winken. Richtung Norden nimmt die Zahl der Hunde zu, der Kakteen, der Grillen, deren unablässiges Schnarren selbst über den Lärm des Zuges hinweg durch die Fensterschlitze dringt. Es ist stickig, die Fenster lassen sich nicht weiter öffnen. Die Wärme abgestandener Luft und fremder Körper. Es riecht nach ungeputzten Zähnen und ein bisschen nach Furz. Eines der Kinder hackt mit den Stiefelfersen auf den Sitz ein und hört nicht auf zu maulen. Von der alten Frau, die sich mit einem Korb unter dem Arm den Weg durch den Gang bahnt, kauft Therese eine fleckige Papiertüte mit Fettgebackenem. Das Kleingeld hat sich das Mütterchen mangels Taschen in zwei ordentlichen Stapeln in beide Ohrmuscheln geschichtet. Therese reicht ihr einen Schein, winkt dann hastig ab, als das Mütterchen Anstalten macht, nach den Münzen zu greifen. Danke, danke, es stimmt so, es stimmt so! Sie dreht sich wieder zum Fenster. Lenka sitzt mit dem Gesicht dicht an der Scheibe, ein pulsierender Nebelfleck am Glas.

Auf dem Acker.

Vom Feldweg blickt einer über den Acker. Rehe, Krähen, tief stehende Sonne. Was macht diese dürre Gestalt dort hinten? Selbst von hier aus lässt sich erkennen, dass ihr der Mantel zu groß ist, aber heute, er schaut an sich herunter, passt kaum je irgendwem ein Kleidungsstück. Sucht sie etwa Kohlrüben? Längst ist alles eingeholt, was einzuholen war. Er ist den Acker selbst ein ums andere Mal abgelaufen, da ist nichts mehr. Wohl eine der Streunerinnen, die vom Hunger aufs offene Feld getrieben werden. Er nimmt einen Schluck aus dem Kältetröster, verzieht das Gesicht. Elender Kartoffelsprit.

Auf dem Feld tritt Lenchen gegen die gefrorene Erde, die sich kaum lockern lässt. Von Steckrüben keine Spur. Du meinst wohl Kohlrüben. Erst hatte sich die Oberin Momente lang ahnungslos gestellt, dann war ein Lächeln über ihr verhärmtes Gesicht gezogen: Wir sagen hier Kohlrübe. Aber den freien Nachmittag, bitte schön, den könne Lenchen selbstverständlich verbringen, wie sie möchte, auch auf dem Feld.

Steckrüben, Kohlrüben, es lässt sich weder das eine noch das andere finden. Sie müsste graben, aber dazu ist es zu spät. Es friert seit Monaten. Lenchen tritt zu. Gelbrübe. Mit den nächsten Tritten: Runke, Pfotsche, Schlesische Ananas. Untererdkohlrabi. Schmalzrübe. Über die tauben Zehenspitzen setzen sich die Erschütterungen bis in die Unterschenkel fort. Kannenwruke. Eine reiche Sprache, hatte der Vater gesagt. In den südlichen Reichsgauen: Dotsche. Pommersche Südfrucht, hatte er gesagt und der Mutter um die Hüfte gegriffen. Eine reiche Sprache, ein reiches Land und jetzt sind nicht einmal Steckrüben übrig. Lenchen wendet gefrorene Erdbrocken, aber mehr als ein paar dürre gelbbraune Stängel ragen nicht heraus. Sie schleudert einen der Brocken vor sich auf den Acker, aber er macht nur ein dumpfes Geräusch, nicht einmal eine Kuhle bleibt zurück. Unversehrt liegt er da. Die Krähen hat die Bewegung aufgeschreckt. Als lose Wolke verschwinden sie über dem Waldstück hinter dem Säuglingsheim.

Außen herum der Birkenhain, Felder, die nichts mehr hergeben, die Straße und ein schmaler Weg, der in den Ort führt, in dem sich ein ganzes Sammelsurium an Flüchtlingen eingefunden hat. Leer und doch unübersichtlich, kaum einer kennt sich hier aus. Die Eltern und die Schwester sind an der Hauptstraße im ersten Stock in einem halb möblierten Zimmer untergekommen. Das Säuglingsheim liegt am Rand des Orts. Fahles Licht am Morgen, fahles Licht am Abend. In all der Zeit eine beinah unveränderte Kulisse und trotzdem kommt man kaum mit. Rasante Zeiten, niemals Ruhe. Eben sitzt auf dem Barackengelände neben dem Heim noch die Jugend singend an den Lagerfeuern und plötzlich nehmen in dem lang gezogenen Speisesaal russische Soldaten ihr Abendessen aus Blechkellen entgegen. Ein beinah fliegender Wechsel. Ohne Zaudern ist auch der Bretterzaun zwischen Heim und Baracke, der Generationen junger Landreisender eine sichtbare Grenze zum Lebensraum der Schwesternschülerinnen gewesen war, von einer Handvoll russischer Rekruten mit wenigen kräftigen Tritten eingerissen und in den Holzöfen ihrer Stuben verheizt worden. Nur ein paar spärliche Birken sind geblieben und in der warmen Jahreszeit zwischen ihren schrundigen Stämmen die über viele Sommer hinweg unermüdlich gedüngten Brennnesseln, aber beides nicht Hindernis genug, als dass die Schwesternschülerinnen sich nicht Nacht um Nacht in ihren Zimmern einschließen würden, auch wenn die Oberin gewissenhaft um achtzehn Uhr die Hauptpforte absperrt und den Schlüssel zweimal herumdreht. Heutzutage weiß man nie. Tagsüber staksen drei Hühner hinter dem Haus, nachts sperrt sie der Hausmeister in den Keller. Lieber jeden Tag ein Ei als einmal Hühnerbrühe. Am Ende gibt es Karottenbrei, einen Tag um den anderen. Das Brot ist mit Hafer, Wasser und unbekannten Zutaten zu einem feuchten Fladen gestreckt, der unter der dünnen Schicht Margarine wegbröckelt. So viel zur Ausbackquote. Und das bisschen Hunger? Ich bitte dich, hatte die Oberin gesagt, als eine maulte. Da sind wir doch ganz anderes gewohnt. Ja, spür den Hunger. Spürst du ihn? Spürst du, dass das das Leben ist, das gelebt werden will? Nun, du Glückliche. Du bist offenbar noch nicht tot. Sie grinste. Das kannst du dir merken: Es leidet nie das Volk. Es leidet immer nur der Einzelne. Und im wahrscheinlichsten Fall am eigenen Schicksal. Die andere hatte daraufhin nichts mehr gesagt.

Eine Steckrübe zumindest kann Lenchen auf dem Rückweg bei den Eltern und der Schwester im Ort abliefern. Eine kleine, die gerade dort, wo Lenchen auf das Feld getreten war, unberührt im Graben gelegen hatte. Im Frühherbst wohl von mittlerer Größe gewesen, dann in der Sonne geschrumpelt bis zum ersten Frost und auf die Gestalt, in der Lenchen sie findet und in den Beutel steckt. Den frühen Fund hatte sie als gutes Zeichen genommen. Jetzt sind die Zehen taub und die Finger steif. Sie merkt nicht einmal, dass ihre Nase läuft. Ein durchsichtiges Rinnsal in der Kuhle über der Lippe. Wenn sie tief einatmet, brennt es bis unter die Wangen. Sie schmeckt Salz und wischt sich mit der Hand über den Mund. Die Hand am Mantel ab. Heimweh, weil sie hier Kohlrübe sagen? Na, nu reiß dich mal bisschen zusammen.

Die Sonne hängt jetzt unmittelbar über der Ackerlinie. Trockene Hecken, die Rehe hinten am Waldrand, in der Ferne die feinen Rauchfahnen über dem Ort, geruchlos wie alles in dieser Gegend. Der Sommer ist lang her, das andere Feld, das Dorf. Der Blick auch dort auf die Erde, klaubend durch vertrocknete Pflanzenreste bis zum Spätnachmittag. Ein ständiges Ziehen vom Hintern bis in die Schulterblätter und abends über den Nacken hinauf bis hinter die Ohren. Kinder, was für eine Plackerei. Aber immerhin am Ende des Tages die Körbe voll. Die Kleineren waren zwischen den Kartoffelfeuern umhergesprungen, morgens hatten die Rauchschwaden über den Feldern gewabert. An langen Stecken die Tüfften direkt in die Flammen, außen waren sie immer verkohlt und innen immer hart gewesen. Schwelende Krautreste. Abends die Kleidung wie geräuchert. An Gerüche kann man sich nicht erinnern.

 

Es wird wohl noch Wochen weiterfrieren. Jahrhundertwinter, sagen sie schon jetzt, dabei ist ein Ende noch nicht abzusehen. Hungerwinter. Lange vorher die Kartoffelfeuer. Die Kartoffelkäfer. Perlenketten, die vom Himmel fielen. Wie schön es aussah, bis die Mutter sie wegriss. Eine vage Erinnerung, da war was. Was war da. So was kommt von so was, sagt die Oberin.

Auf dem kahlen Feld bedeutet all das nichts. Der Vater liegt in der Wohnung. Die Wunde suppt und riecht übel.

Lenchen steht auf dem eingefrorenen Acker und spürt die Erdbrocken, die sich durch die dünne Sohle der Schnürstiefel in die eisigen Füße drücken. Sie blickt noch einmal über die farblose Landschaft. Der untere Teil der Nachmittagssonne ist hinter dem Feldrand verschwunden. Im Heim wird die Oberin schon das Anheizen angeordnet haben. Vorher noch schnell zu den Eltern, zur Schwester, den frühen Fund abliefern. Die Augen wird Lenchen auf dem Weg offen halten, wer weiß. Ein letzter Tritt, aber nicht, weil sie noch irgendetwas erwarten würde von diesem Feld.

Hinten am Weg steht einer und blickt in ihre Richtung. Diese lächerlichen Hochwasserhosen. Er ruft ihr etwas zu, aber Lenchen kann ihn nicht verstehen. Er fuchtelt mit beiden Armen. Vielleicht der Bauer. Sie wollte ohnehin gerade los.