Jugendsprache

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4.7 Jugendsprache als Phänomen des SprachbewusstseinsSprachbewusstsein

Diese Fragestellung wird von denjenigen Forschungsbeiträgen verfolgt, die SpracheinstellungenSpracheinstellungen von Jugendlichen untersuchen (v.a. WachauWachau, Susanne 1989, SasseSasse, Ines 1998, Wuppertaler DFG-Projekt 2003ff.). Dabei ergibt sich als interessanter Effekt, dass Jugendsprache für die befragten Jugendlichen selbst ein prägnanter Bestandteil ihres SprachbewusstseinsSprachbewusstsein ist. Und zwar gilt dies für Jugendliche verschiedener Altersgruppen und vor allem verschiedener BildungsgängeBildungsgang, wie die Ergebnisse der Wuppertaler DFG-StudieWuppertaler DFG-Studie zeigen (NeulandNeuland, Eva 2016). Die ca. 1200 befragten Jugendlichen geben Auskünfte über Typizitätsbeschreibungen und Gebrauchsbegründungen, Verwendungssituationen und Gebrauchseinschränkungen, die von einem deutlichen sprachlichen Selbstbewusstsein zeugen. Die in fast allen Fragen mögliche Antwortkategorie: Ich verwende keine Jugendsprache bzw. Jugendliche sprechen genauso wie Erwachsene nahm stets den letzten Rangplatz unter den möglichen Antworten ein. Als typische Merkmale der Jugendsprache nannten die befragten Jugendlichen: lockerer als die Erwachsenensprache, Verwendung von Ausdrücken aus dem Englischen, rascher WandelWandel, Verwendung von provokativen Ausdrucksweisen und von AbkürzungenAbkürzungen und unvollständigen Sätzen sowie Spiel mit Sprache (Neuland/SchubertNeuland, Eva/Schubert, Daniel 2005, S. 241ff.). Die Auswertung offener Antwortkategorien, die die Jugendlichen selbst formulieren konnten, unterstützen diesen Eindruck deutlich:1

Jugendliche versuchen Wörter zu vereinfachen, kürzen umständliche Sätze, um ihre Meinung schneller zum Ausdruck zu bringen

[17-jährige Berufsschülerin aus Chemnitz]

Unsere Sprache ist die Zukunft und da kann keiner etwas dran ändern, denn jede Generation hat ihren Teil zur deutschen Sprache beigetragen

[19-jähriger Berufsschüler aus Gießen]

Weil sie für mich die Jugend und Phantasien unserer heutigen Generation aus- drückt

[15-jährige Gymnasiastin aus Rostock]

Weil Jugendsprache fetter ist als das Gelaber von Erwachsenen

[18-jähriger Berufsschüler aus Wuppertal]

(Zit. in Originalorthographie n. Neuland 2016, S. 137 ff.)

5 Zwischenbilanz zum aktuellen Forschungsstand

Im Hinblick auf die Gegenstandskonstitution lassen sich die bisherigen Forschungsschwerpunkte der Jugendsprachforschung wie folgt zusammenfassen: Jugendsprache wird heute überwiegend, aber durchaus nicht ausschließlich, als ein mündlich konstituiertes, von Jugendlichen in bestimmten Situationen verwendetes Medium der GruppenkommunikationGruppenkommunikation definiert und durch die wesentlichen Merkmale der gesprochenen Sprachegesprochene Sprache, der GruppenspracheGruppensprache und der kommunikativen Interaktion gekennzeichnet. Allmählich finden auch Aspekte der SchriftspracheSchriftsprache und der schriftbasierten Kommunikationschriftbasierte Kommunikation mit Neuen MedienNeue Medien Berücksichtigung.

Die Jugendsprachforschung hat in ihrer kurzen Entwicklungszeit einen lebhaften Aufschwung genommen und eine Kontinuität des wissenschaftlichen Austauschs gewährleistet, was insbesondere durch die bisherigen internationalen Fachkonferenzen dokumentiert wird, deren Stationen zugleich die Forschungsentwicklung charakterisieren:

 die von HeinemannHeinemann, Margot 1992 ausgerichtete Leipziger Tagung „Jugendsprache – theoretische Standpunkte und methodische Zugriffe“, die die Entwicklungsansätze in Ost- und Westdeutschland vor allem mit denen aus dem osteuropäischen Raum verknüpfte,

 das von Mattheier und RadtkeRadtke, IngulfHoltus, Günter/Radtke, Edgar im Rahmen des Graduiertenkollegs „Dynamik von SubstandardSubstandard-VarietätenVarietät“ 1997 ausgerichtete und von Androutsopolous und ScholzAndroutsopoulos, Jannis/Scholz, Arnim 1998 veröffentlichte internationale Heidelberger Kolloquium „Soziolinguistische und linguistische Aspekte von Jugendsprache“, das die Ausdifferenzierung von theoretischen und methodischen Ansätzen der Jugendsprachforschung in Europa dokumentiert,

 die von SchlobinskiSchlobinski, Peter als gemeinsames Projekt der Universität Hannover und des Ratsgymnasiums Osnabrück 1998 veranstaltete Osnabrücker Fachkonferenz „Jugendsprache(n) – JugendkulturenJugendkultur – Wertsysteme“. Die von Schlobinski/HeinsHeins unter dem Titel „Jugendliche und „ihre“ Sprache“ veröffentlichten Beiträge hatten das Untersuchungsfeld um jugendkulturelle Kontexte, z.B. von Graffiti und Musik, nochmals deutlich erweitert,

 die von Neuland und Mitarbeitern 2001 ausgerichtete Wuppertaler Fachkonferenz „Jugendsprachen – Spiegel der Zeit“, deren Erträge 2003 publiziert wurden. In vier Sektionen um die Themenschwerpunkte: SprachwandelSprachwandel, kontrastivekontrastiv Vergleiche, Freizeit und Medien sowie Schule und Sprachunterricht veranschaulichte eine Vielzahl von Beiträgen aus aller Welt, dass Jugendsprachen Ausdrucksformen soziokultureller Lebensstile in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten darstellen.

 die von DürscheidDürscheid, Christa veranstaltete fünfte internationale Fachtagung: „Perspektiven der Jugendsprachforschung“ fand 2005 in Zürich statt. Die Publikation von Dürscheid/SpitzmüllerSpitzmüller, Jürgen präsentiert ausgewählte Ergebnisse zu den drei Schwerpunkten: Sprachgebrauch und Sprachkompetenz, Sprachgebrauch und IdentitätIdentität und Jugendsprachen global und lokal, in denen mündlicher und schriftlicher Sprachgebrauch von Jugendlichen unter verschiedenen Aspekten analysiert wurden.

 Die folgende internationale Konferenz von 2008 fand erstmals außerhalb des deutschen Sprachraums unter der Leitung von JørgensenJørgensen, Normann in Kopenhagen statt. Abermals konnten eine Erweiterung des Gegenstandsfeldes und eine weitere Internationalisierung der Forschung dokumentiert werden. Die Tagungsbeiträge wurden 2009 veröffentlicht.

 2011 veranstalteten KotthoffKotthoff, Helga und Mertzlufft in Freiburg unter dem Titel: „Dynamiken und kulturelle Kontexte“ die 7. Jugendsprachkonferenz. Forschungsbeiträge zum Sprachgebrauch Jugendlicher als Mittel kultureller Stilisierungen und sozialer Zugehörigkeiten wie Selbstdarstellungen standen im Mittelpunkt.

 Die 8. Jugendsprachkonferenz wurde von Gysin, Spreckels und Spiegel 2014 mit dem Themenschwerpunkt: „Jugendsprache und Schule“ an der PH Karlsruhe veranstaltet. Dabei wurde verstärkt auch das Schreiben Jugendlicher in der Schule wie in neuen Medien in Betracht gezogen und Vorschläge zum Umgang mit dem Thema im Unterricht vorgestellt.

 Die vorerst letzte internationale Konferenz fand 2016 unter der Leitung von ZieglerZiegler, Evelyn in Graz statt. Viele Beiträge demonstrierten den weiteren Internationalisierungsschub der Jugendsprachforschung, zeigten aber auch Entgrenzungen der Jugendsprache in Richtung auf multilinguale Straßen- und Stadtsprachen auf.

 Eine zukünftige Konferenz soll 2019 in den Niederlanden stattfinden.

Sowohl die internationalen Fachkonferenzen als auch die zwischenzeitlich präsentierte Forschungsliteratur veranschaulichen die theoretische und methodische Bandbreite der aktuellen Jugendsprachforschung ebenso wie das breite Spektrum ihrer Gegenstandsfelder. Zwei Grundzüge seinen im Folgenden skizziert und kommentiert.

5.1 Erweiterung des Gegenstandsfelds

Trotz vieler noch offener Fragen kann man im Rahmen der Forschungsentwicklung eine Ausdehnung des Gegenstandsfelds feststellen.

Das linguistische Untersuchungsspektrum, das seinen Ausgangspunkt von lexikologischenlexikologisch und lexikographischenlexikographisch Betrachtungen nahm und sich auf einen Sonderwortschatz von Jugendlichen konzentrierte, erweiterte sich zunächst phraseologisch und phraseographisch durch die Untersuchung von Redewendungen und Sprüchen Jugendlicher. Pragmalinguistische Aspekte wie: Begrüßungs- und AnredeformenAnredeformen, GesprächspartikelnGesprächspartikel, InterjektionenInterjektionen und IntensiviererIntensivierer traten hinzu, sodann StilmerkmaleStilmerkmal wie die Verwendung von HyperbolikHyperbolik, hyperbolisch, bildlichen Ausdrucksweisen und von Zitaten. Gruppenbezogene SprachspieleSprachspiele und Handlungsmuster wie FrotzeleienFrotzelei, frotzeln, LästernLästern und auch spezifische Gesprächsregeln und Gesprächsfunktionen rückten in den Mittelpunkt von GesprächslinguistikGesprächslinguistik und InteraktionsforschungInteraktionsforschung. Unter textlinguistischerTextlinguistik, textlinguistisch Perspektive wurden schließlich auch medial geprägte schriftliche Äußerungen z.B. in jugendlichen SzeneSzene-Zeitschriften untersucht, ebenso wie Äußerungsformen Jugendlicher im Kontext Neuer MedienNeue Medien.

Neben dieser eindrucksvollen Differenzierung des linguistischen Gegenstandsfelds ist die Erweiterung des sozialen Gegenstandfeldes im Hinblick auf die Jugend bzw. die Jugendlichen bemerkenswert. Die anfängliche Homogenitätsannahme der Jugend schlechthin (HenneHenne, Helmut: Die Sprache der Jugend, 1986; HeinemannHeinemann, Margot: Kleines Wörterbuch der Jugendsprache, 1989) hatte sich alsbald in ihr radikales Gegenteil verkehrt: die Rede von der HeterogenitätHeterogenität der Jugendsprachen bildet mittlerweile einen Gemeinplatz der Jugendsprachforschung.

Hier wird eine Fülle von Einzelbeobachtungen zusammengetragen, um nur einige Beispiele zu nennen: zur Beobachtungskommunikation Mannheimer Jugendlicher (SchwitallaSchwitalla, Johannes 1988), zu Mütter-Töchter-Dialogen (Augenstein 1998), zur GruppenkommunikationGruppenkommunikation von Mitgliedern einer katholischen Jugendgruppe (Schlobinski u.a. 1993), zu Radiointerviews mit Hip Hop-Fans (BernsBerns, Jan 2003), zur Kleingruppenkommunikation von Skatern (HartungHartung, Martin 2003), zu Ausdrucksweisen von Rappern und Techno-Fans in der Internetkommunikation (WatzlawikWatzlawik, Sonja 2001), zur Plattenkritik in Szene-FanzinesFanzines (Schubert /Martin Martin, Stephan/Schubert, Daniel/Watzlawik, Sonja 2002), zur Gästebuchkommunikation in online-Gemeinschaften (AndroutsopoulosAndroutsopoulos, Jannis 2003), zum normungebundenen Schreiben im Internet (KleinbergerKleinberger Günther, Ulla/Spiegel, Carmen Günther/Spiegel 2006) und in Schülerzetteln (ZieglerZiegler, Evelyn 2006), zur Kommunikation von Migranten-Jugendlichen (z.B. BierbachBierbach, Christine/Birken-Silverman/Birken-Silverman 2007, 2014), zur humoristisch-subversiven Medienaneignung (SpreckelsSpreckels, Janet 2014), zu virtuellen Inszenierungen in Mädchengruppen (Voigt 2014), zur grammatischen Normierung im Internet (Bahlo u.a. 2016).

 

5.2 Vielfalt der Methoden

Von daher erklärt sich aber auch die Methodenvielfalt als zweites Charakteristikum der Entwicklung der Jugendsprachforschung, deren unterschiedliche Gegenstandsfelder vielfältige Bearbeitungsmethoden geradezu zwingend erforderlich machen.

5.2.1 FragebogenmethodenFragebogenmethoden

So werden Wortschatzuntersuchungen1 zumeist mit Hilfe von FragebogenmethodenFragebogenmethoden durchgeführt, die von einer anfangs schlichten Auflistung zu detaillierten Fragemustern weiterentwickelt wurden. So kann zwischen onomasiologischen (z.B.: Was bedeutet/welche Bedeutung hat für Euch x?) und semasiologischen (z.B.: Wie sagt ihr zu/benennt ihr/welchen Ausdruck verwendet ihr für x?) Fragen unterschieden werden. Auch können Wortfeld- sowie Sachgruppen bezogene Gruppierungen vorgenommen werden (z.B. beliebte/unbeliebte Mitschüler/Mitschülerinnen, sympathische/unsympathische Lehrer/Lehrerinnen etc.). Mit Hilfe dieser Methoden können die LexikographieLexikographie (der Jugendsprache) sowie die lexikalische Semantiklexikalische Semantik der Jugendsprache präzisiert werden.2Lexikographie (der Jugendsprache)Schlobinski, Peter Dabei sind geschlossene Fragen mit vorgegebenen Antwortkategorien zwar effektiver und leichter auszuwerten, doch können offene Fragen oftmals neue und unerwartete Informationen und Beispielangaben liefern.

Als Beispiel sei ein ItemItem aus dem Fragebogen zum Wortgebrauch im Wuppertaler DFG-Projekt angeführt, der die Unterscheidung von Kenntnis und Gebrauch, eine Skalierung der Gebrauchshäufigkeit sowie die Angabe eines Beispiels im Situationskontext vorsieht3Neuland, Eva/Martin, Stephan/Watzlawik, Sonja:

Abb. II.5.1:

Beispiel-ItemItem aus dem Wuppertaler DFG-Projekt

5.2.2 InterviewsInterview und gelenkte Gespräche

Verschiedene Formen von InterviewsInterview und Fragebogenerhebungen werden eingesetzt, um vor allem Aufschluss über sprachbezogene Meinungen und Einstellungen von Jugendlichen zu erhalten (z.B. WachauWachau, Susanne 1989, SasseSasse, Ines 1998, Wuppertaler DFG-Projekte 2003ff.). Auch sprachbiographische Erinnerungen können so elizitiert werden (z.B.: Erinnern Sie sich noch, welche Ausdrücke Sie in Ihrer Jugendzeit für X verwendet haben?).1Watzlawik, Sonja Auch bei solchen aus der empirischen Sozialforschungempirische Sozialforschung übernommenen Verfahren ist bei der Konstruktion der spezifischen Fragestellungen und bei der Auswertung der Antworten in besonderer Weise auf die GütekriterienGütekriterien der Objektivität, Reliabilität und ValiditätValidität zu achten. Dabei kann man auch Gefahr laufen, Suggestivfragen zu stellen, z.B.: Gebrauchst Du witzige Gruß- bzw. AbschiedsformelnAbschiedsformeln?, so Wachau (1989, S. 94) im Schülerfragebogen und: Stört es Sie, wenn Ihre Kinder Klangwörter und Comicwörter benutzen, wie z.B.: ächtz, stöhn, würg, kotz? im Elternfragebogen (ebd., S. 95).

Gesprächsleitfäden mit ImpulsfragenImpulsfragen (z.B.: Gibt es hier im Ort besondere Jugendtreffs/Freizeitangebote?) bieten eine Strukturierungshilfe und stellen einen Mittelweg dar zwischen zu starker Lenkung durch die Frage- Antwort-MusterMuster von InterviewsInterview und der Eigendynamik – oder auch Flaute – von ungesteuerten Diskussionen. Auch erfordert die Auswertung von offenen Antworten besondere Sorgfalt im Hinblick auf die Bildung von Antwortkategorien, die durch Beurteilerübereinstimmungen abgesichert werden kann.

Beim Einsatz von InterviewInterview- und FragebogenmethodenFragebogenmethoden sind oftmals Vorstudien hilfreich, aus denen einerseits präzisere Formulierungsmöglichkeiten für Fragestellungen in der Hauptuntersuchung gewonnen und andererseits realitätsnahe Auswahlantworten für die Probanden formuliert und vorgegeben werden können.

5.2.3 Teilnehmende Beobachtung und KorpusanalysenKorpusanalysen

In der Vielzahl der Interaktionsstudien1 werden Gespräche von Jugendlichen mittels teilnehmender Beobachtungteilnehmende BeobachtungBeobachtungsmethoden erhoben. Dabei stellen sich die aus der empirischen SoziolinguistikSoziolinguistik bekannten Probleme des Beobachterparadoxons2Labov, William und des Einflusses metakommunikativer Aufmerksamkeit auf die Interaktionslogik. Nur in wenigen Fällen sind verdeckte Aufnahmen oder unbeobachtete Selbstaufnahmen durch die Jugendlichen erfolgt, so in dem bekannten Beispiel von SchlobinskiSchlobinski, Peter 1989.3

Die Einzelfallstudien ermöglichen eine detaillierte KorpusanalyseKorpusanalysen einzelner GesprächspartikelnGesprächspartikel bis hin zu Sprachhandlungsmustern und deren Abfolgen, allerdings mit dem Vorbehalt begrenzter Vergleichbarkeit und eingeschränkter Verallgemeinerbarkeit. Dies gilt auch für die Analyse von Internetkommunikation, wobei zusätzlich das Validitätsproblem der Nicht-Identifizierbarkeit der Interaktanten hinzutritt: Kommunizieren wirklich oder nur vorgeblich Jugendliche miteinander?

Eine besondere Schwierigkeit der KorpusanalysenKorpusanalysen allgemein liegt in der induktiven Vorgehensweise und der Auswahl von für die Fragestellung relevanten Analysekriterien. Bei konstruktivistischen Ansätzen sind die theoretischen Vorannahmen und Deutungspotentiale am Material genauer zu prüfen. Schließlich sind AuftretensfrequenzenAuftretensfrequenz und MusterhaftigkeitMusterhaftigkeit der sprachlichen Merkmale nicht außer Acht zu lassen.

Die anfänglich kontrastivenkontrastiv, bald darauf eher komplementären Diskussionen um Methodenkonzepte von Fragebogenerhebungen und Kommunikationsanalysen, von korrelativen und kontextuellen Studien4Androutsopoulos, Jannis/Scholz, ArnimAndroutsopoulos, Jannis, von Sprachgebrauchs- und Spracheinstellungsuntersuchungen sind schon längst der Einsicht gewichen, dass es keine allgemein geeignete oder ungeeignete, sondern nur zweckentsprechende Methoden geben kann. In jedem Fall sind Reflexionen und vor allem Begründungen der Methodenwahl und Methodenkonstruktionen auch dann nötig, wenn sich die empirische Sprachforschung nicht auf Methoden der empirischen Sozialforschungempirische Sozialforschung stützt, sondern qualitative Methoden bevorzugt.5Schlobinski, Peter/Schmid, Katja A. Datentriangulationen können Vorteile einzelner Methoden nutzen und Nachteile ausgleichen und damit methodisch die ValiditätValidität der Befunde stärken.

5.3 Typizität in der HeterogenitätHeterogenität?

Als Zwischenbilanz des aktuellen Forschungsstandes lässt sich eine Vielfalt von Detailstudien zu wesentlichen Merkmalen und Funktionsweisen von Jugendsprachen resümieren. In AnspielungAnspielung auf die Preisfrage der Deutschen Akademie für Sprache und DichtungDeutsche Akademie für Sprache und Dichtung aus dem Jahr 1982 kann man formulieren, dass die Jugend tatsächlich eine andere Sprache spricht, genauer: dass die vielen Jugendlichen tatsächlich von sehr vielen unterschiedlichen Sprachverwendungsweisen Gebrauch machen.

Angesichts der Erweiterung des Gegenstandsfeldes ist aber auch kritisch zu fragen, ob das Gegenstandsfeld der Jugendsprache nicht gleichsam unter der Hand diffundiert1Dürscheid, Christa/Neuland, Eva und zunehmend unbestimmt wird. Die Vielzahl der Forschungsbeiträge führt zu einer Fülle von Einzelbeobachtungen zu spezifischen Szenesprachen von Jugendlichen, die fast kaum mehr durch bestimmte Parameter strukturiert und geordnet oder sogar verallgemeinernd beschrieben werden können. Entscheidende Fragen lauten:

 Ist „Jugendsprache“ denn wirklich nur noch GruppenspracheGruppensprache bzw. Szenesprache, Strassen- oder Stadtsprache oder MedienkommunikationMedienkommunikation?

 Ermöglicht die Vielzahl der Einzelfallstudien noch eine Vergleichbarkeit oder gar Verallgemeinerung der Befunde?

 Ist das Gegenstandsfeld der Jugendsprache nicht inzwischen so heterogen geworden, dass kaum mehr eine kategoriale und begriffliche Ordnung und Strukturierung möglich scheint?

 Welche Kenntnisse über jugendtypische Spezifika bzw. über „universelle Merkmale“ von Jugendsprachen können als wissenschaftlich gesichert und geteilt angesehen werden?

 Welche Typizität lässt sich also in der Heterogenität von Jugendsprachen feststellen?

Die künftigen Ziele der Jugendsprachforschung werden zweifellos auf diese Ordnung der Heterogenität im Hinblick auf kulturtypische Ausprägungsformen ausgerichtet sein müssen. ForschungsdesiderateForschungsdesiderate bestehen insbesondere im Hinblick auf die Auswirkung soziolinguistischer Faktoren wie AlterAlter, Geschlecht, BildungsgangBildungsgang, regionale Herkunftregionale Herkunft und MigrationMigration auf den Sprachgebrauch Jugendlicher.2

Einige offene Fragekomplexe und ForschungsdesiderateForschungsdesiderate seien an dieser Stelle noch angeführt. Dabei soll insbesondere die vergleichende Betrachtungsweise betont werden.3Neuland, Eva Oftmals werden erst durch Vergleiche mit dem Sprachgebrauch Jugendlicher zu anderen Zeiten, in anderen Ländern und Gesellschaftsformen, mit dem Sprachgebrauch anderer Generationen und nicht zuletzt der Standardsprache typische gemeinsame und unterscheidende jugendsprachliche Merkmale deutlich:

 Jugendsprache und Sprachgeschichte:Welche Rolle spielen die historischen Dimensionen für die aktuelle Jugendsprachforschung? Das Wissen über die Geschichte der Jugendsprachen, besonders der nicht akademischen Jugend ist immer noch sehr lückenhaft. Das auf die Synchronie ausgerichtete Forschungsinteresse dominiert derzeit eindeutig über das auf die Diachronie bezogene. Gerade auch aus dem historischen Vergleich lassen sich jedoch aufschlussreiche Erkenntnisse über jugendtypische Faktoren des Sprachgebrauchs erschließen.

 Jugendsprache und StandardspracheStandardsprache:Wie können die wechselseitigen Einflüsse differenziert und verlässlich beschrieben werden, welche präzisen Indikatoren können für eine mögliche Sprachwandelwirkung der Jugendsprache herangezogen werden? Die linguistische Jugendsprachforschung hat zwar – etwa im Unterschied zur Sondersprachforschung – zur Recht die Eigenständigkeit des Forschungsgegenstands Jugendsprache herausgestellt, doch ist darüber das Wechselverhältnis zwischen Jugendsprache und der Allgemeinsprache nahezu gänzlich aus dem Blick geraten.

 Jugendsprache und JugendkulturJugendkultur:Dies gilt in gewissem Ausmaß auch für den wichtigen Zusammenhang von Sprach- und Lebensstilen Jugendlicher.4 Welche Fortschritte sind zu verzeichnen für interdisziplinäre Zugänge zur Erforschung von Jugendsprache im semiotischen Kontext jugendkulturellen HabitusHabitus und anderer jugendkultureller Äußerungsformen? Welche internationalen Auswirkungen sind von der kulturellen GlobalisierungGlobalisierung für Jugendsprachen zu erwarten?

 Jugendsprache, Bildung und Öffentlichkeit:Welche Aufklärung kann die Jugendsprachforschung der Öffentlichkeit, vor allem aber der Schule und dem Bildungswesen über sprachliche und kommunikative KompetenzenKompetenz von Jugendlichen über den Gebrauch von Jugendsprache hinaus leisten? Welche Konsequenzen kann der Sprachunterricht daraus ziehen?

 

Die Bearbeitung dieser und weiterer Fragen bildet ein großes Arbeitsprogramm für die künftige Jugendsprachforschung, die bis heute unter einem besonderen öffentlichen Erwartungsdruck steht. Anfragen aus der sprachinteressierten Öffentlichkeit, der Eltern- und Lehrerschaft, vor allem aber auch der ergebnisorientierten Medienöffentlichkeit waren und sind bis heute auf kurzfristige und rasche Antworten auf unsere eingangs zitierte Fragestellung gerichtet. Damit ist zweifellos die Gefahr verbunden, dass nicht nur die Jugendsprache zum Modethema geworden ist, sondern dass auch die Jugendsprachforschung als eine Modeerscheinung von zweifelhafter tagespolitischer Aktualität angesehen werden könnte.

Der Reduktion der Perspektivenvielfalt entgegenzuwirken ist eine wichtige Aufgabe für die wissenschaftliche Forschung, aber auch die wissenschaftliche Öffentlichkeits- und Vermittlungsarbeit. Die Jugendsprachforschung kann und will weder bestehende Klischees der „Jugendsprache“ bedienen, noch die ständigen „In- und Out-Hitlisten“ der Jugendsprache beliefern und somit den Verdinglichungen des öffentlichen SprachbewusstseinsSprachbewusstsein zuarbeiten. Vielmehr werden für die Entwicklung und Durchführung umfangreicher und längerfristiger Forschungsprojekte größere Zeitspannen benötigt, um schließlich profundere Antworten auf Fragen wie die eben gestellten erarbeiten zu können.