"... damit eure Freude vollkommen wird!"

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jugend(liche) in der Kirche:

Bestandsaufnahmen

„Die Jugendlichen in der Welt von heute“

Marco Kühnlein

„Die Jugendlichen in der Welt von heute“1: So lautet in deutscher Übersetzung die Überschrift des ersten Hauptabschnitts des Vorbereitungsdokuments zur Synode „Die Jugendlichen, der Glaube, die Berufungsentscheidung“. Bereits in dieser Überschrift kristallisieren sich die drei Schlagworte des Themen- und Fragenhorizontes heraus, die den Rahmen der Erstellung einer Bestandsaufnahme in diesem Studienband vorgeben: Jugendliche, Welt, Heute.

Das Vorbereitungsdokument merkt eher beiläufig an, „[…] dass die Jugend nicht in erster Linie eine bestimmte Kategorie von Menschen identifiziert, sondern vielmehr eine Phase des Lebens ist, welche durch jede Generation in einer einzigartigen und unwiederholbaren Weise geprägt wird.“2 Mit dieser Aussage ist aber ein wesentlicher Punkt markiert: Die Verhältnisbestimmung „der Jugend“ zum Glauben ist unmöglich, weil es „die Jugend nicht mehr gibt“3. Ein adäquater Sprachgebrauch ist es daher, von „den Jugendlichen“ zu sprechen, um der real existierenden Komplexität und Diversität dieser Altersgruppe gerecht zu werden.

Gewiss wurde „die Jugend“ im 20. Jahrhundert als eine feste Größe nicht nur innerhalb des Milieukatholizismus betrachtet. Doch dies hat sich durch allerlei Verschiebungen, zusammengefasst unter dem Stichwort „Globalisierung“, geändert. Jugendliche erleben sich nicht mehr als passive Empfänger, sondern als aktive Gestalter ihres eigenen Umfeldes. Sie werden unmittelbarer als früher zu „Subjekten des Wandels und fähig, neue Möglichkeiten zu schaffen“4. Diese individuelle Gestaltungsfreiheit Jugendlicher erstreckt sich zweifelsohne auch auf den Bereich des Religiösen und erfordert angemessene Beachtung.

Daraus darf man schließen: Es gibt eine Welt, aber in ihr viele einzelne und sich immer neu justierende Lebenswelten. Durch das veränderte, digitale Kommunikationsgeschehen sowie durch erhöhte Mobilität sind diese Lebenswelten enger miteinander vernetzt, kommen in Berührung und prallen gelegentlich auch aufeinander, wie sich am Beispiel von Flucht und Migration ablesen lässt. Die Folge ist eine Pluralisierung des öffentlichen Lebens bei gleichzeitiger Individualisierung der eigenen Lebenswelt. Das schafft insbesondere bei Jugendlichen ein Bewusstsein dafür, als Individuum Teil einer Masse zu sein, und befördert damit eine dynamische Dialektik von Individualisierung und Homogenisierung, die sich auf das Verhältnis zwischen Lebenswelt und Welt auswirkt.

Um darauf flexibel reagieren zu können, sind die Bezugspunkte der heutigen Lebenswelten nicht Strukturen eines geschlossenen Systems, das Masse und Individuum in ein festes Verhältnis setzt, sondern glaubwürdige Personen. Dies manifestiert sich nicht zuletzt in einer großen Skepsis Jugendlicher gegenüber der Institution Kirche bei gleichzeitiger Aufgeschlossenheit gegenüber religiösen Fragen. Insofern legt sich nahe, die zwei Fragenbereiche nach der Religiosität oder dem Glauben Jugendlicher einerseits und ihrer (Nicht-)Beziehung zur Kirche andererseits zu trennen, um differenzierte Antworten zu finden.

Das Heute ist treffend charakterisiert mit dem Phänomen der Beschleunigung. Der Abstand zu den Lebenswelten von Menschen anderer Generationen wächst schneller, was sich nicht zuletzt in der Gleichgültigkeit gegenüber überkommener (religiöser) Sprache zeigt. Dabei stehen der Wille und die Freiheit zur aktiven Zukunftsgestaltung Jugendlicher nicht selten in Spannung oder gar im Widerspruch zu einer Zukunftsangst. Sie bewirkt eine „Situation der Verletzlichkeit und Unsicherheit“5 sowie eine Orientierungslosigkeit und Vereinsamung.

Durch den von Unsicherheit geprägten, sich ungewiss verändernden Horizont der eigenen Lebenswelt im Jetzt wird folglich das Durchringen zu letztgültigen Entscheidungen, die auf die Zukunft hin festlegen, erschwert. Daher gehen Jugendliche bei der „Ausbildung einer Identität immer mehr einen ‚reflexiven Weg‘“6, der je neu veränderbare Optionen als bindende Festlegungen bereithält.7

Diese im Vorbereitungsdokument aufgeführten Themen werden in den nachfolgenden Beiträgen auf je eigene Weise aufgegriffen: Aus historischer Perspektive stellt Florian Bock Veränderungen und Umbrüche beim Verhältnis „der Jugend“ zum deutschen Katholizismus des 20. Jahrhunderts bis ins Heute dar. Eva Willebrand fokussiert mithilfe aktueller empirischer Befunde die Religiosität und den Glauben Jugendlicher in Deutschland mit ersten Schlussfolgerungen. Extrem im Umbruch befindliche Lebens- und Glaubenswelten zeigt Joachim Braun auf, indem er die Situation von nach Deutschland geflüchteten, jugendlichen Christen beschreibt und diese selbst zu Wort kommen lässt. Die derzeitig komplexe Lage wird von Jan Loffeld (pastoral-)theologisch im Gespräch mit sozialwissenschaftlichen Theorien ausgedeutet mit dem Impuls, Jugendseelsorge als „Berufungspastoral“ zu verstehen.

Wenngleich durch die Beiträge kein Anspruch auf ein allumfassendes Bild erhoben werden kann, gelingt doch eine vielgestaltige Bestandsaufnahme, die den Blick auf das Subjekt und zugleich Objekt des Fragens richtet, nämlich Jugendliche und ihre Berufung in der Welt von heute.

1 Vorbereitungsdokument zur XV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode „Die Jugendlichen, der Glaube, die Berufungsentscheidung“ vom 13.1.2017: http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2017/01/13/0021/00050.html [Zugriff am 26. Februar 2018].

2 Ebd.

3 Vgl. den Titel des Beitrags von Jan Loffeld in diesem Band, S. 79.

4 Vorbereitungsdokument zur XV. Ordentlichen Generalversammlung (wie Anm. 1).

5 Ebd.

6 Ebd.

7 Das Zutreffen dieser These für Deutschland zeigt das Antwortschreiben der Deutschen Bischofskonferenz anlässlich der XV. Ordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode „Jugend, Glaube und Berufungsunterscheidung “ (= Pressemitteilungen der DBK 184a) vom 3.11.2017.

Zwischen Wandervogel und Weltjugendtag

Das 20. Jahrhundert oder wie die Katholiken die Jugend entdeckten

Florian Bock

Eine zentrale These des vorliegenden Sammelbandes lautet: „Man ‚ist‘ nicht einfach Christ, sondern ‚wird‘ es immer wieder neu.“ Dieser Denkfigur kann sich die Kirchengeschichte als theologische Disziplin, die sich mit dem historischen Gewordensein des christlichen Glaubens beschäftigt, ohne weiteres anschließen. Während die Pädagogik und die allgemeine Geschichtswissenschaft das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert des Kindes diskutieren1, entdeckten die Katholiken die Jugend vor allem im 20. Jahrhundert. Die innerkirchlichen Ursachen dafür, stets eingebettet in gesamtgesellschaftliche Transformationen, werden auf den nächsten Seiten entfaltet. Insofern ist der Beitrag auch als Momentaufnahme innerhalb eines offenen Prozesses zu verstehen, der keineswegs schon beendet, sondern vielmehr im stetigen Fluss ist.

1. Katholische Jugendbewegung um 1900 oder: back to the roots

Der Begriff der Jugend ist, trotz biblischer Hinweise (Gen 8,21), relativ neu und umfasst – soziologisch ausgedrückt – den Übergang ins Erwachsenenalter.2 Katholischerseits drückte sich dieses liminale Ritual zuvor lange Zeit in der Erstkommunion aus, die den Übergang von Kindheit ins Erwachsensein definierte. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein war mit der Erstkommunion (inklusive Kommunionanzug und -uhr) auch die Schulzeit beendet, am Tag darauf begann das nun vollwertige Kirchenmitglied seine Lehre.3 Dies änderte sich spätestens ab den 1830er-Jahren. Durch Urbanisierung, verbesserte Ernährung und differenziertere medizinische Versorgung kam es in ganz Europa zu einer wahren Bevölkerungsexplosion, wovon auch die jüngere Generation betroffen war. Das Lebensstadium der Kindheit wurde nun auf eine längere Ausbildungszeit ausgedehnt und rief spätestens ab der Jahrhundertwende u. a. so genannte Reformpädagogen auf den Plan, die sich nun verstärkt mit den ‚Jugendlichen‘ befassten. Was den Anhängern jener Lebensreform, die Schülern höherer Lehranstalten mit der Bewegung Wandervogel4 ein Forum bot, vorschwebte, war neben Zivilisationskritik und Landflucht eine Abkehr von jedweder politischen Aktivität: „Die Jugendbewegung kann sich an programmatisch fixierte Staatsbegriffe nicht innerlich gebunden fühlen, weder an Republik noch an Monarchie. Sie trägt ein Wesensbild vom organisch gegliederten Volksstaate in sich. Weder Bismarcksche noch Weimarer Verfassung wie wir sie bisher kennen lernten, deckt sich mit ihm. Und es kann gar nicht entschieden werden, ob eine Republik oder eine […] Monarchie jenes Wesensbild verwirklichen, verkörpern kann. Die Jugendbewegung kann sich hier nicht festlegen.“5 Ihre Kernidee war die Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige in einer Gruppe auf gemeinsamen Wanderfahrten und Naturerlebnissen „nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit“, wie es die sogenannte Meißnerformel von 1913 formulierte6, – und zwar nicht nur durch Alkohol- und Nikotinfreiheit, sondern in völliger Abkehr von dem materialistischen ‚Moloch‘ Großstadt und der damit einhergehenden Lebensform des Profitdenkens.7 Die bekannte Lagerfeuer-Romantik hat hier ihren Ursprung, ebenso neue Vergemeinschaftungsformen wie Gruppenspiele, die spätestens ab 1933 die Nationalsozialisten ungeniert für Hitler-Jugend (HJ) und Bund Deutscher Mädel (BDM) übernehmen werden.8

 

Solche Transformationsprozesse gingen selbstverständlich nicht unberührt an der gesellschaftlichen Großgruppe der Katholiken vorüber.9 Der Milieukatholizismus, also jenes für den Kulturkampf und die erste Hälfte des 20. Jahrhundert so dichte Netzwerk an Vereinen und Verbänden, entdeckte die Jugend. Doch statt einer Mitgliedschaft in Kolpingvereinen für unverheiratete Gesellen oder in frommen Kongregationen versuchten vor allem jüngere Kapläne katholische Jugendliche für Jugendvereine wie den 1909 gegründeten Quickborn zu gewinnen. Ein erfolgreich rekrutierter Zeitzeuge erinnert sich: „Der Sonntagnachmittag war nicht nur durch Christenlehre und Andacht, sondern durch Versammlungen im Jugendheim – oder während der Sommermonate – durch Ausflüge und Fahrten bestimmt.“10 Hier verbinden sich Einflüsse der Lebensreform mit einer christozentrischen Frömmigkeit, die man sich im wahrsten Sinne des Wortes auf die Fahnen geschrieben hatte. Blieb der Quickborn allein schon zahlenmäßig ein kleiner elitärer Kreis, so konnte der Bund Neudeutschland (ND), gegründet 1919, mehr in die katholische Masse hineinwirken. Die Ideale der Reformpädagogik konnten auch hier Raum gewinnen, obwohl der ND ursprünglich vom Kölner Erzbischof von Hartmann (1851-1919) gegründet wurde, um nicht zu reformieren, sondern zu restaurieren: Die katholischen Jugendlichen sollten vor den Unruhen nach der Revolution 1918/19 geschützt werden. Zur rechten Unterweisung in allen religiös-sittlichen Fragen wurde ein Geistlicher in die Gruppe hineingewählt.11 Umrahmt von einem festgefügten liturgischen Kalender, waren Messe, Predigt, Beichte, Kommunion und auch Jugendarbeit existentielle Teil des eigenen Lebens. Wandern mit dem ND gehörte dazu ebenso wie die alljährliche Marienandacht im Mai oder der fleischlose Freitag.12

2. „Die Kirche erwacht in den Seelen“ – Liturgie und Gemeinschaftserfahrung

Gleichzeitig setzte im katholischen Raum eine Symbiose zwischen Jugendbewegung einer- und Liturgischer Bewegung andererseits ein. Als paradigmatisch kann vielleicht die Äußerung des wenig später kurzfristig exkommunizierten Priesters Joseph Wittig (1879-1949)13 gelten, der im „Hochland“ zu Beginn der 1920er-Jahre konstatierte: „Ich habe mich aber nicht weihen lassen, für soziale, sondern für priesterliche Tätigkeit.“14 Damit ging Wittig dezidiert auf Distanz zu den Aktivitäten des politischen bzw. Sozialkatholizismus mit seinem Netzwerk an Vereinen und Verbänden für alle möglichen Lebensbereiche, die liturgiebewegten Anhängern als subjektivistische und liberalistische Irrläufer authentischer Katholizität galten. Die Euphorie einer jüngeren, intellektuellen Generation für die Liturgie als eine ersehnte, überzeitlich und unabhängig vom jeweiligen Ich geltende Form geistlichen Lebens brachte demgegenüber vor allem Romano Guardini (1885-1968) auf den Punkt, indem er 1922 festhielt: „Ein religiöser Vorgang von unabsehbarer Tragweite hat eingesetzt: Die Kirche erwacht in den Seelen. […]. Es gibt religiöse Gemeinschaft. Und ist keine Ansammlung in sich beschlossener Einzelwesen, sondern die Einzelnen übergreifende Wirklichkeit: Kirche. Sie erfaßt das Volk; sie erfaßt die Menschheit.“15 Auf der unterfränkischen Burg Rothenfels und anderswo wurden neuen Formen der Liturgie wie die participatio actuosa (dt. „tätige Teilnahme“) zelebriert16 und über die gemeinsame gottesdienstliche Teilnahme an heiligen Zeichen und Handlungen Kirche als Gemeinschaft des Corpus Christi Mysticum erfahren. Jugend- und Liturgiebewegung eint also trotz mancherlei Unterschiede die gemeinschaftliche Erneuerung des kirchlichen Lebens, konkret der einzelnen Pfarrgemeinde. Durch ein solches, zunehmend territoriales Verständnis kann man auch von einer Verkirchlichung der Jugendarbeit sprechen.17 Dabei ließ Kritik einer älteren Generation freilich nicht lange auf sich warten. Während der spätere Münsteraner Bischof Clemens August Graf von Galen (1878-1946) den Liturgiebewegten anfänglich eine Tendenz zur Selbsterlösung unterstellte18, erkannte der Freiburger Erzbischof Conrad Gröber (1872-1948) in ihrem Treiben eine schleichende Protestantisierung. Gröber musste seine Proteste später quasi auf Geheiß von oben einstellen, als Pius XII. mit seiner Enzyklika Mystici Corporis (1943) dem liturgiebewegten Kirchenverständnis des geheimnisvollen Leibes Christi entgegenkam. Als höchst aufschlussreich für die Fragestellungen dieses Sammelbandes erweist sich insbesondere die Tatsache, dass in den Hochburgen der Liturgischen Bewegung – den urbanen Gemeinden des Ruhrgebiets – gleichzeitig mit deren ‚Wende nach innen‘ die Zahl des Priesternachwuchses deutlich zunahm.19 Ein durch die Liturgiebewegung forciertes Angebot der spirituellen Verdichtung einer- und persönliche Sinnfindung andererseits legten sich für viele damalige Priesteramtskandidaten in besonderer Weise übereinander. Mit der Liturgiereform des Zweiten Vatikanums (1962-65) dann erfuhr die Liturgiebewegung eine nachträgliche Stärkung ihres Anliegens, auch wenn sie nach der großen Zäsur 1945, soviel sei bereits vorweggenommen, nicht mehr reüssieren konnte.

3. Dienst an der nationalsozialistischen Kriegsfront – die Suche nach dem Heiligen Gral?

Die Frage nach dem Verhalten der Jugendbewegung zum aufkommenden Nationalsozialismus ist äußerst komplex. Man muss bei der heutigen Lektüre der Quellen sehr genau unterscheiden zwischen sprachlichen Anleihen bei einem vaterländischen Nationalismus auf der einen Seite und antisemitischen, das Hitler-Regime stützenden Elemente auf der anderen Seite, die sich in Visionen eines katholischen Germaniens ausdrücken konnten. Der Bochumer Kirchenhistoriker Wilhelm Damberg hat mehrfach auf den posthum, aus Briefen und Tagebuchblättern publizierten „Weg“ des Jungsoldaten Johannes Niermann aufmerksam gemacht20, dessen Vita vielleicht als exemplarisch für eine ganze Generation von katholischen Jugendlichen anzusehen ist. Warum? Der Jugendbewegte bejahte, nach einer kurzen Internierungshaft durch die Nationalsozialisten, seinen Militärdienst, ja mehr noch: Niermann, der katholischer Priester werden wollte, aber nur ein Jahr nach seiner Einberufung im französischen Doncourt-sur-Meuse im Jahr 1940 verstarb, sah seinen Dienst an der Front in Kontinuität zu den Wanderfahrten, die er einst in der Jugendbewegung unternahm. In Identifikation mit der Suche nach dem Heiligen Gral, bekannt aus dem mittelalterlichen Parzival-Mythos, verstand auch Niermann seinen Kriegsdienst als Einsatz eines miles christiani für das Gute und Wahre; als Chance, den Glauben einzuüben und vorzuleben. Die Überzeugungskraft einer solchen Kriegserfahrung sollte freilich rasch nachlassen.

Die systematische Missachtung des Reichskonkordates vom Juli 1933 durch die Nationalsozialisten höhlte in der Folge jedwede Jugendarbeit, Katechese oder auch den Religionsunterricht aus. Die katholische Jugend war durch die Entkonfessionalisierung des öffentlichen Lebens auf ein so genanntes ‚Sakristeichristentum‘ zurückgeworfen – der Fokus lag nur bei wenigen katholischen Jugendgruppen auf Widerstandsarbeit gegenüber dem Regime, eher besann man sich stärker auf die liturgische Zelebration in der Pfarrei, die von Zeitgenossen als ‚Oase‘ beschrieben wurde. Insbesondere die Kriegsjahre verschärften diesen Prozess noch. Unter systemisch ähnlichen, wenn auch freilich politisch gänzlich anderen Vorzeichen ließen sich die Lebensbedingungen katholischer Jugendliche in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) bzw. der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) beschreiben.21 Diesen Diktaturerfahrungen und katholischen Reaktionsweisen darauf sei an dieser Stelle zugunsten von Demokratieerfahrungen in Westdeutschland nicht weiter nachgegangen.

4. ‚Stunde Null‘ und Rechristianisierung

Aus den noch rauchenden Trümmern des Zweiten Weltkriegs stieg die katholische Kirche als Siegerin mit einer zunächst ungebrochenen Autorität hervor. Dieses Ansehen galt es zu nutzen. Vor allem die Bischöfe strebten in der unmittelbaren Nachkriegszeit enorme Rechristianisierungsmaßnahmen an, wurde doch der Nationalsozialismus von ihnen nach Mustern des Alten Testaments als Glaubensabfall von Gott interpretiert.22 Zu den Erneuerungsmaßnahmen gehörte nicht zuletzt ein Einheitsbund der katholischen Jugend, wenn auch für die katholische Jugendarbeit nicht von einer ‚Stunde Null‘23 im eigentlichen Sinne gesprochen werden kann. Denn die Verbände knüpfen zunächst am Alten an und wollten – auf bischöflichen Wunsch – die bündische Jugendarbeit wiederbeleben. Die Erlebnis- und Erfahrungswelt junger Menschen wollte man zunächst mit dem Ausbau altbewährter Strukturen einfangen. Prominente Stimmen des ND wie der spätere Münsteraner Professor für Kirchengeschichte Erwin Iserloh (1915-1996) lehnten gar eine Konzentration auf die Jugendarbeit in der Pfarrei dezidiert ab, da dort gegenüber der bündischen Eigenständigkeit die Organisation wieder auf ein Führerprinzip durch Vorsitzende hinauslaufe.24 Doch ob bündisch oder innerhalb der Pfarrgemeinde: Die Kriegserfahrungen, der komplette Zusammenbruch eines politischen Systems, an das die Mehrheit der Deutschen ja ‚geglaubt‘ hatte, veränderte, wie wir noch sehen werden, auch die im Nationalsozialismus aufgewachsenen Jugendlichen25, ja noch die ihnen nachfolgenden Generationen. Ein top-down vorgegebener Einheitsimperativ, wie ihn der ‚General‘ der katholischen Jugendbewegung Ludwig Wolker (1887-1955) prononcierte26, erwies sich als zunehmend schwierig.

Eine der wenigen wirklichen Neugründungen neben den etablierten Vereinen und Verbänden machte die 1947 in Deutschland gegründete Christliche Arbeiterjugend (CAJ) aus, wobei es sich streng genommen um keine wirkliche Neugründung, sondern eine Auskopplung aus der französischen Arbeitspriesterschaft handelte.27 Kernanliegen war es, jungen Arbeitern ihre Würde als Geschöpfe Gottes zurückzugeben. In kleinen Zellen sollten engagierte junge Arbeiter von einem Priester begleitet werden, aber nicht dessen direkter Leitungsgewalt unterstehen. Die Umsetzung dieser Idee ging nicht konfliktfrei über die Bühne, dabei spielte auch das Konkurrenzempfinden etablierter Vereine und Verbände eine Rolle. Insgesamt aber kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sich ‚moderne‘ Jugendarbeit nach 1945 deutlich weniger der freien Initiative der Jugendlichen selbst verdankte, sondern der Seelsorge vor Ort.

Interessanterweise blieben ländliche Regionen lange von all diesen im Vorangehenden präsentierten Diskussionen unberührt.28 Von ‚moderner‘ Jugendarbeit konnte dort nicht die Rede sein.29 Dies änderte sich ebenfalls erst in der Nachkriegszeit, hier war die oft zitierte Chiffre für den Neubeginn, 1945, eine wirkliche ‚Stunde Null‘. Die Landjugendbewegung war, zusammen mit der bereits erwähnten CAJ, vielleicht die einzige katholische Jugendgemeinschaft, die neu gegründet wurde. Die Gründe dafür sind in einem immer rascher werdenden Strukturwandel, eine Art Globalisierung avant la lettre zu finden. Der Münsteraner Bischof Michael Keller (1896-1961) beschrieb diese Transformationsprozesse 1948 in einem Hirtenbrief mit folgenden Worten: „Ob wir es wollen oder nicht: Die Welt geht in rasendem Tempo einer Neugestaltung entgegen. […]. Und kein Land, keine Stadt, kein Dorf, sei es auch noch das entlegenste, kann sich der unwiderstehlichen Gewalt dieser Umformung entziehen. Das Land hat aufgehört für sich zu sein. Räumlich und geistig! Die modernen Verkehrsmöglichkeiten holen die entlegenste Bauernschaft hinein in die Unruhe der großen Welt. Der Rundfunk verbindet das kleinste Dorf unmittelbar mit dem Geschehen in der weiten Welt und allen geistigen Strömungen der Gegenwart. Das Kino trägt in die letzte Bauernkate hinein die Unsitten und Lebensunarten der entchristlichten Großstadt.“30 Entchristlichung sahen auch die Jugendseelsorger seines Bistums am Werk, wenn sie in einer Konferenz aus dem Jahr 1959 festhielten: „Die große Sorge stellen jetzt die 14-17jährigen dar. Nach den Angaben der Jugendseelsorger scheint es z.Zt. äußerst schwierig zu sein, diese Altersschicht zu fassen und ihnen das notwendige Rüstzeug mitzugeben. […] Ein weiteres beunruhigendes Symptom kam zur Sprache. Bei einer Jugendwoche […] waren etwa 500 Jugendliche an der Kommunionbank. Am Tage vorher hatten jedoch nur etwa 60 Jugendliche das hl. Sakrament der Beichte empfangen. Auch eine Umfrage in den umliegenden Orten ergab keine größere Zahl derer, die gebeichtet hatten.“31 Während Bischof Keller und sein Klerus ganz eindeutig eine Gefahr in dem Anbruch der neuen Zeit sahen, begegnete man alldem seitens der Landbevölkerung mit großer Nüchternheit.32 Einer falschen Romantik, einem Vergangenheitsideal, sei dezidiert abzuschwören – früher sei nicht alles besser gewesen, ganz im Gegenteil. Technisierung, Rationalisierung, das Durchbrechen einer monokonfessionellen katholischen Dorfkultur, all dies stelle für viele Landbewohner nichts Bedrohliches dar, ebenso wenig wie der in Zukunft durchaus zu erwartende Verzicht auf den sonntäglichen Kirchgang, das gemeinsame Gebet, das religiöse Brauchtum. Diesem hier für Westfalen beschriebenen, aber überall in Deutschland anzutreffenden Prozess sollte mit der Gründung der Katholischen Landjugendbewegung (KLJB) entgegengewirkt werden. Offiziell durch die Bistumsleitung unterstützt, ging es darum, (1) die religiöse Tradition nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, (2) allgemeine Bildungsinhalte in christlicher Perspektive zu vermitteln sowie (3) den Vollzug konkreter sozialer und politischer Aktionen im dörflichen Raum zu gewährleisten. Wenn schon die Erosion traditionaler Lebensformen des Christentums auch auf dem Land nicht mehr aufzuhalten war, dann wollte man sie durch den Ausbau einer „christlichen Bildungs- und Aktionsgemeinschaft“ ersetzen.33 Aus zeithistorischem Blickwinkel betrachtet, finden wir hier sicherlich noch Elemente der Katholischen Aktion, der Ausbildung religiöser Laien, die dann ihrerseits als Multiplikatoren in die Gesellschaft hineinwirken sollen34, ebenso wieder wie möglicherweise eine vorweggenommene Reaktion auf das 1965 diagnostizierte „Katholische Bildungsdefizit“, das der Jesuit Karl Erlinghagen (1913-2003) u. a. aus dem Fortbestehen des ‚Lieblingskindes‘ der deutschen Bischöfe, der Konfessionsschule, ableiten wird. Der mit dieser Schulform einhergehende altersverschiedene gemeinsame Unterricht war aufgrund zu schwacher konfessioneller Prägung in vielen Regionen für die meisten Eltern nicht mehr tragbar, da er zulasten der Ausbildung der Kinder gehen würde.35

 

Zum Teil mehrmonatige Kurse, zu absolvieren auf so genannten Landesvolkshochschulen, sollten die enge Verzahnung der Religion mit anderen Lebensbereichen wie Politik und Beruf klarmachen: Neben theologischen Basiskursen („Das Neue Testament“) finden sich ebenso Einheiten aus der Politikwissenschaft („Der Bundestag“). Mit diesem sich immer mehr professionalisierenden Modell geriet man bis weit in die 1950er-Jahre hinein in Konkurrenz nicht nur zum ebenfalls neubegründeten Bauernverband, der sich dezidiert überkonfessionell bzw. konfessionsneutral aufstellen wollte, sondern auch zum Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), der in der Landjugend eine für viele ländliche Regionen attraktive konkurrierende Alternative sah. Schließlich gelang der KJLB eine etappenweise Ausgliederung aus dem BDKJ und der Titel eines völlig selbstständigen Verbandes.36 Der BDKJ indes entwickelte sich als bischöflich gesetzter Träger der kirchlichen Jugendarbeit, wenn auch er in den letzten Jahrzehnten eine rapide Schrumpfung seines Mitgliederanteils hinnehmen musste. Nicht nur die Partizipation an kirchlicher Jugendarbeit erodierte, auch der Priesternachwuchs und (insbesondere der weibliche) Ordensnachwuchs ging im Laufe der 1950er-Jahre unaufhaltsam zurück – ungefähr zeitgleich mit dem paradigmatischen Motto des konziliaren aggiornamento wurde spätestens um 1968 der Versuch aufgegeben, katholische Jugendarbeit als kirchliche acies ordinata zu definieren. Doch der Reihe nach.

5. Es gärt. Katholische Jugend zwischen Vergangenheitsbewältigung und Milieuerosion

Das Schwinden institutionalisierter Religiosität, wie sie für den BDKJ, aber auch andere kirchliche Strukturen beobachtet werden kann, ist kein isoliert zu betrachtendes Phänomen. Vielmehr gärt es innerhalb des Katholizismus in der noch jungen Bundesrepublik an nahezu allen Ecken und Enden, die Erosion der katholischen Lebenswelt beschleunigte sich massiv und war nicht mehr nur, wie oben beschrieben, von einigen sensiblen Zeitgenossen wahrnehmbar.37

Schon bei Fragen nach der Wiederbewaffnung der Bundeswehr war erkennbar, dass der BDKJ mit der Verabschiedung seiner berühmten „Elmsteiner Erklärung“ (1952) das subjektive ethische Empfinden höher bewertete als die Adenauer-Generation: Entgegen der nationalen Verantwortung, die die Älteren als Argumente für die Wiederbewaffnung beschwörten, konnte nach Meinung der Jüngeren ein Kriegsdienst auch verweigert werden.38 Durch einen „Hochland“-Aufsatz des jungen Juristen Ernst-Wolfgang Böckenförde (*1930)39 und das Theaterstück „Der Stellvertreter“ des nahezu gleichaltrigen Dramatikers Rolf Hochhuth (*1931)40 wurden die beginnenden 1960er-Jahre schließlich zur Wendemarke der katholischen Vergangenheitsbewältigung. Eine jüngere Generation von Katholiken befragte nun die Altvorderen, sensibilisiert durch das Jerusalemer Eichmann-Verfahren (1961/62) und den ersten Frankfurter Auschwitzprozess (1963-1965)41 nach ihrem Verhalten im so genannten Dritten Reich. Ihre Anfragen lauteten exemplarisch wie folgt: Hätte nicht der katholische Glauben per se als Bollwerk gegen den Nationalsozialismus dienen müssen? Warum haben Bischöfe und Papst nicht stärker Widerstand geleistet? Es waren bis in die Nachkriegszeit wirkende Mentalitätsmerkmale wie eine kleinbürgerlich-bäuerliche Enge und damit einhergehenden Sekundärtugenden (Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit), die der Publizist Carl Amery in seinem ebenfalls 1963 erschienenen Buch „Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute“42 für das Verhalten der katholischen Kirche in den Jahren 1933ff. verantwortlich machte und damit jüngeren Katholiken eine Art Negativfolie an die Hand gab, von der sie sich absetzen wollten. Ähnlich auch die von Eugen Kogon und Walter Dirks herausgegebenen „Frankfurter Hefte“, die mit Themen wie dem Aufbau der Bundesrepublik, dem Grundgesetz, Mitbestimmung etc. zu einer Kompassnadel für viele katholische Jugendliche wurden – hier fanden sie die Fragen, die sie selbst bewegten, wieder.43

Gleichzeitig blieben während dieser Transizione epocale die erwähnten Rechristianisierungsversuche der Ära Adenauer zweifelsohne weiter präsent. Ein Wiedererstarken christlich-bürgerlicher Leitbilder ließ sich aber nicht mehr langfristig durchsetzen. Etwa auf dem Feld des Eherechts machten die deutschen Bischöfen zwar Eingaben und erließen Hirtenbriefe, die eine staatlich angestrebte Reform des Familienrechtes (Anerkennung des Zerrüttungs- statt des Schuldprinzips bei Ehescheidungen; vollkommene, auch berufliche Gleichberechtigung von Mann und Frau) verhindern sollten, langfristig gelang es dem Episkopat und einem Teil des deutschen Katholizismus aber nicht, gesamtgesellschaftliche Reformen aufzuhalten.44 Jüngere Katholiken wollten sich die drei ‚Ks‘, nämlich Kinder, Küche, Kirche, nicht mehr vorschreiben lassen.45 Auch die so genannte Mischehe, seit den 1970ern konfessionsverschiedene Ehe genannt, war für junge Erwachsene katholischer Sozialisation z.B. nicht mehr länger „tiefschmerzliche Duldung“, wie sie die deutschen Bischöfe beklagten, sondern die Realität der eigenen Lebenswelt.46

Der frühere Generalsekretär des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) Friedrich Kronenberg (*1933) konnte so, ausgehend von der damaligen epochalen Umbruchszeit Ende der 1950er/Anfang der 1960er-Jahre, im Zweiten Vatikanischen Konzil wenig Neues erkennen: Das Weltereignis des Zweiten Vatikanums kam für ihn zu spät, die konziliaren Texte entsprachen vielmehr der Befindlichkeit „vieler junger Erwachsener, die wie ich aus der Jugendbewegung kamen, die das Konzil voll und ganz bejahten, für die das Konzil aber keine neue, sondern eine vertiefte Sicht auf Kirche und Welt brachte. Weltbild und Kirchenbild dieser Gruppe wurden durch das Konzil nicht revidiert, wohl aber tiefer begründet.“47

6. Postkonziliare Polarisierungen: aggiornamento – aber wie?

Obwohl das Zweite Vatikanische Konzil das theologische und kirchenpolitische Großereignis des 20. Jahrhunderts darstellt, sind weniger die vier Sitzungsperioden von 1962 bis 1965 für den vorliegenden Beitrag interessant, sondern die sich aus den Beschlüssen, getragen von aggiornamento und Dialog mit der Welt, ergebenden postkonziliaren Polarisierungen.48 Mit Blick auf die Jugend ließen sich die Konflikte im Kampf um die ‚richtige‘, d.h. authentische Auslegung des Konzils zwischen den verschiedenen Flügeln des westdeutschen Katholizismus, die nur ganz grob mit den Etiketten ‚konservativ‘ vs. ‚progressiv‘ umrissen werden können, auf ganz verschiedenen Feldern benennen. Die zunehmende Heterogenisierung des Katholischseins in Westdeutschland war dabei so gut wie immer auch ein Generationenkonflikt. In der Forschung wurde dies bereits exemplarisch am Beispiel des Essener Katholikentages im Jahr 1968 und der Ablehnung der Enzyklika Humanae vitae Papst Pauls VI. veranschaulicht.49 Ähnlich eindrücklich ließe sich die Rezeption des Zweiten Vatikanums aber auch am Umsetzungsprozess der Liturgiereform veranschaulichen.50