Tod in Winterthur

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8

Um fünf war auch dieses Gespräch vorüber. Mein Mandant war nicht wirklich glücklich über meinen Vorschlag, sich in einer Betrugssache schuldig zu bekennen. Immerhin hatte er eingesehen, dass es sich lohnte. Unter dem Strich würde er so besser wegkommen. Ich musste ihm nur noch beibringen, sich reumütig zu zeigen. Zumindest vor Gericht. Ich erledigte Papierkram, packte meine Tasche und brachte leere Gläser und Tassen in die Küche. Dann setzte ich mich hin und griff zum Telefon. Bevor ich das Büro endgültig verliess und Norah gegenübertrat, wollte ich versuchen, etwas mehr in Erfahrung zu bringen. Ich wählte Béjarts Nummer.

Er schien auf meinen Anruf gewartet zu haben. «Moira», sagte er. «Guter Abgang, den du heute Morgen hingelegt hast.»

Was sollte ich dazu sagen? Ich schwieg.

«Meinst du, das war klug? Becker scheint dich sowieso schon nicht zu mögen, weiss der Teufel wieso.»

Ich hatte das Gefühl, er mache sich über mich lustig. «Wenn ich klug wäre, würde ich ein anderes Leben führen», blaffte ich ihn an. «Ich bin nicht auf der Welt, um klug oder glücklich zu sein.»

«Nein? Wofür bist du dann auf der Welt?», fragte Béjart plötzlich sanft.

Tja, wofür eigentlich? Mir fiel spontan keine Antwort ein. «Becker interessiert mich nicht. Der hat nichts zu sagen.» Ich unterbrach mich. «Sag mal, welcher Staatsanwalt ist eigentlich in der Sache zuständig?»

«Staatsanwältin, nicht Staatsanwalt. Die Kummer.»

«Staatsanwältin Kummer», wiederholte ich. Ein Schauder lief über meinen Rücken.

«Alles in Ordnung, van der Meer?» Béjarts Stimme klang rau und zärtlich zugleich. Er wusste um meinen letzten Fall mit Staatsanwältin Kummer. Ein Fall, der mir nahe gegangen war. Ihm übrigens auch. Ein Fall, der mich in meinen Träumen noch ab und zu verfolgte. Staatsanwältin Kummer war für mich gleichbedeutend mit diesem Fall. Béjart wusste auch darum. Ich war dankbar für sein Feingefühl. Aber weshalb er mich in diffizilen Situationen immer bei meinem Nachnamen nannte, war mir schleierhaft.

«Mit Staatsanwältin Kummer komme ich klar», sagte ich gespielt forsch. Wobei es der Wahrheit entsprach. Abgesehen vom Umstand, dass unser letzter gemeinsamer Fall tragisch geendet hatte, waren Kummer und ich ziemlich auf einer Wellenlänge.

«Und sonst?», fragte ich.

«Was willst du wissen?»

«Alles.»

«Es gibt nichts Offizielles.»

«Und Inoffizielles?»

«Auch nichts.» Béjart lachte.

Sehr witzig. Ich liess Béjart meine Missbilligung durch die Telefonleitung spüren.

«Ehrlich.» Béjart war das Lachen vergangen. «Es gibt nichts. Projektile, Spuren, Fingerabdrücke, das muss alles erst ausgewertet werden.»

Da hatte er natürlich Recht. Trotzdem war ich enttäuscht.

«Und die Raubmord-Theorie?»

«Die hat absolute Priorität.»

Ich überlegte, ob ich Béjart nach Paul Petersen fragen sollte, entschied mich aber dagegen. Erst einmal musste ich mit Norah reden.

«Moira, willst du einen Rat von mir?», unterbrach Béjart meine Gedanken.

Eigentlich nicht. Eigentlich wollte ich ganz andere Dinge von Guido Béjart, aber die war er mir bislang nicht gewillt zu geben.

Er wartete meine Antwort nicht ab. «Nimm Kontakt zu deinen Hehlern auf. Du kennst doch einige ziemlich grosse Fische.»

Ich hörte ein Geräusch, das sich nach einem unterdrückten Lachen anhörte. Ha, ha. Moira van der Meer, Anwältin der lokalen und regionalen Unterwelt. So sah er mich wohl.

«Die gestohlene Ware», fuhr Béjart fort. «Irgendwo wird sie wieder auftauchen. Du findest da vielleicht schneller etwas raus als wir.»

Kein schlechter Hinweis. Ich würde der Sache nachgehen. Aber nicht jetzt. Nicht heute. «Danke», sagte ich. Ich meinte es so. Ich war ihm dankbar. Für alles.

«Wenn du mehr weisst …», fing ich an, vollendete den Satz aber nicht.

«Dann was?»

«Dann ruf mich an.»

«Ich werde dich vorher anrufen, Moira.» Béjarts Stimme war tief und verführerisch.

Ich schluckte. «In Ordnung», sagte ich.

«Bis bald, van der Meer», sagte er. Seine Stimme war nur mehr ein Flüstern. Er legte auf.

«Bis bald, Guido», antwortete ich.

Er hörte es nicht mehr.

9

Als ich nach Hause kam, war niemand in meiner Wohnung, das Bett war leer. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. Norah war aufgewacht, und Willy hatte sie mit zu sich genommen. Ich war schon auf dem Weg nach unten, da überlegte ich es mir anders. Ob ich zehn Minuten früher oder später zu den beiden stiess, dürfte keine Rolle spielen. Norah war bei Willy gut aufgehoben; er kannte sich aus mit verzweifelten Frauen. Ich schlüpfte aus meinen verschwitzten Kleidern, stellte mich unter die Dusche und wusch den Schweiss des Tages ab. Danach wickelte ich mich in ein Badetuch, goss mir ein Glas kühlen Weissweins ein und setzte mich auf die Fensterbank. An meinem Wein nippend genoss ich den Ausblick über die Stadt. Ich sah auf die Uhr. Halb sieben. So langsam sollte ich nach unten zu Willy gehen. Rebecca würde in Bälde eintreffen, um Norah abzuholen, und vorher musste ich sie noch ein paar Dinge fragen. Ich hatte bis jetzt keine Gelegenheit dazu gehabt. Ich schlüpfte in eine weite Baumwollhose und ein T-Shirt und machte mich auf den Weg.

Norah sass an Willys Küchentisch, während er sich am Herd zu schaffen machte. Norah sah noch immer blass und elend aus, die Augen waren geschwollen und rot geädert. Sie versuchte sich an einem schwachen Lächeln. «Moira», sagte sie.

Mein Magen krampfte sich zusammen. Mit dem Schmerz anderer klarkommen ist nicht einfach.

Willy drehte sich zu mir um. «Moira», sagte auch er. «Sie kommen genau richtig. Ich wollte soeben die Hühnersuppe servieren.» Er nahm einen weiteren Suppenteller aus dem Schrank. «Sie essen doch mit, nicht wahr?» Es war keine Frage, mehr eine Feststellung. Trotzdem nickte ich.

«Hühnersuppe ist ein Allerheilmittel, Sie werden sehen, Norah», wagte Willy zu Norah und berührte mitfühlend ihre Schulter. «Sie hilft auch gegen Kummer.»

Norah antwortete nicht, aber ich konnte sehen, wie sie wieder mit den Tränen kämpfte. Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand in meine Hände. «Wie geht es dir, Norah?» fragte ich.

Sie zuckte die Achseln. War auch ein bescheuerte Frage, zwölf Stunden nachdem man den eigenen Mann tot aufgefunden hatte. Aber irgendwie musste ich anfangen.

Ich beugte mich vor. «Norah, wir müssen reden», sagte ich.

In dem Moment stellte Willy dampfende Teller vor uns hin. «Sie können reden, Moria. Aber erst nach dem Essen», sagte er bestimmt. Die schöne, unglückliche Norah weckte seinen Beschützerinstinkt.

Ich verzichtete darauf, Widerstand zu leisten. Wenn Willy sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war man gut beraten nachzugeben. Ausserdem hatte ich Hunger. Schweigend löffelten wir die Suppe mit Hühnerbrust, Koriander und Karotten. Dazu reichte Willy eine aufgebackene Baguette. Es schmeckte herrlich. Ich schlug mir trotz der traurigen Umstände den Bauch voll und schämte mich etwas dafür.

Norah ass nur zwei, drei Bissen und rührte ansonsten in der Suppe herum.

Nach dem Essen setzten Norah und ich uns ins Wohnzimmer.

Willy machte sich derweil in der Küche zu schaffen. Er kam noch einmal kurz herein und stellte zwei Gläser vor uns auf den Beistelltisch. Sie waren zu einem Drittel gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit.

«Das beruhigt und tröstet», sagte er zu Norah.

Sie sah ihn dankbar an und nahm einen Schluck. Ich tat es ihr gleich. Der Whiskey brannte in meiner Kehle, und mir wurde warm ums Herz. Willy hatte nicht immer Recht. Aber oft.

«Norah, die Staatsanwältin würde dich morgen gerne ausführlich befragen. Bist du dazu in der Lage? Ich werde dabei sein», fügte ich schnell hinzu, als ich ihren erschrockenen Gesichtsausdruck wahrnahm. Die Kummer hatte mich angerufen, als ich das Büro bereits verlassen hatte. Sie drängte auf eine schnelle Einvernahme, was nachvollziehbar war. Die ersten Tage nach einer Tat sind immens wichtig für eine erfolgreiche Untersuchung. Kummer war sehr freundlich gewesen am Telefon, beinahe schon freundschaftlich. Norah schien definitiv nicht auf der Liste der möglichen Verdächtigen zu stehen.

Norah gab keine Antwort, sondern trank erneut von ihrem Whiskey. Dann sah sie mich an. Ich konnte den Ausdruck ihrer Augen nicht deuten.

«Jan hat dich immer geliebt.»

Der Themenwechsel irritierte mich, und ich war um eine Antwort verlegen.

«Er hat es nicht gesagt. Aber ich habe es gespürt. Er hat dich geliebt. Sogar als du nur noch ein Abbild deiner selbst warst, hat er dich geliebt.» Sie klang spöttisch und verletzt zugleich. Mit einer Hand warf sie ihr langes blondes Haar über die Schultern zurück. Eine trotzige Geste.

«Du irrst dich», sagte ich heiser. «Das mit uns war lange vorbei.»

«Für dich vielleicht.» Norah trank einen Schluck. Ihr Glas war schon beinahe leer. «Es spielt keine Rolle. Mich hat er auch geliebt. Auf eine andere Art. Das mit dir, das war», sie suchte nach Worten, «das war … Keine Ahnung, was das war.» Heftig stellte sie ihr Glas zurück auf den Glastisch. Ihre Stimmung hatte plötzlich umgeschlagen, sie schien nun wütend.

«Es tut mir leid», sagte ich. Dabei wusste ich nicht einmal, was mir leid tun sollte. Ich war mir keiner Schuld bewusst.

«Was wolltest du mich fragen?» Norah beendete das Thema abrupt. «Ach ja, die Befragung. Ich weiss nicht. Was meinst du? Du bist die Anwältin.»

«Es wäre gut, wir könnten der Aufforderung der Staatsanwältin Folge leisten. Je schneller die Polizei alle Informationen hat, desto schneller werden sie den … den Täter finden.» Ich hatte Mörder sagen wollen, aber das klang mir zu brutal. So endgültig. «Natürlich nur, wenn du meinst, du schaffst das», fügte ich an.

 

Norah nickte. Ihr Gesicht, das vorher vom Whiskey leicht gerötet gewesen war, war nun noch blasser als zuvor. «Es wird schon gehen», sagte sie leise.

«Gut.»

Wir schwiegen eine Weile. Norah schien in ihre eigene Welt abzudriften, sie starrte blicklos vor sich hin.

Ich räusperte mich. «Ich sollte vor der Einvernahme über ein paar Dinge Bescheid wissen», nahm ich vorsichtig den Faden wieder auf. «In Ordnung?»

Keine Reaktion.

Also fing ich an. «Norah, wo hast du die Nacht verbracht?»

Sie sah mich lange an, ohne etwas zu sagen.

Ich schlug unruhig ein Bein über das andere, nippte an meinem Whiskey. Ich fragte mich, ob ihre Gedankenversunkenheit dem Temesta zuzuschreiben war oder dem Schock.

«In einem Hotel», meinte sie dann leise.

«In einem Hotel? Wo? Kann das jemand bestätigen?» Es fiel mir schwer, meine Ungeduld im Zaum zu halten. Norahs Lethargie schien meinen Aktivismus zu steigern.

Norah starrte wieder stumm vor sich hin.

«Norah.» Ich versuchte, sie zu erreichen. Wider Erwarten gelang es mir.

Auf jeden Fall begann Norah zu sprechen. «Vor ein paar Wochen wollte ich spontan mit einer Bekannten essen gehen», sagte sie. «Im ‹Sotto Voce›, kennst du das? Hinter dem Bahnhof.»

Ich nickte. Ich fragte mich, worauf sie hinauswollte.

«Jan hatte ein Geschäftsessen. Hatte er mir zumindest gesagt. Es würde lange dauern. Meine Bekannte und ich haben das ‹Sotto Voce› betreten. Ich habe Jan entdeckt. Mit einer Frau. Mit einer anderen Frau.» Sie schien das Erlebte im Geist Revue passieren zu lassen. «Das ist schon mal vorgekommen. Es war nichts etwas Ernstes. Er ist zu mir zurückgekommen. Aber diesmal. Er hat diese Frau angeschaut mit einem Blick … Mit einem Blick, den er sonst nur hatte, wenn er von dir gesprochen hat.» Sie sah mich an.

Das war definitiv keine Antwort auf die Frage, die ich ihr gestellt hatte. Ich konnte den roten Faden in Norahs Schilderung nicht sehen. Wohin wollte sie mich führen? Ich bezwang meine Ungeduld und beschloss zu warten.

«Ich habe zum ersten Mal befürchtet, Jan könnte mich verlassen. Das ging nicht. Ich hätte es nicht ertragen. Es … ». Ihre Stimme brach. «Es ging einfach nicht. Wir haben keine Kinder. Jan ist alles für mich. Er ist mein Leben.»

Norah sprach in der Gegenwart von Jan. Sie wusste mit dem Verstand, dass Jan tot war. Aber sie hatte das Ausmass ihres Verlustes noch nicht vollends begriffen.

Norah barg für einen Moment das Gesicht in den Händen. Dann sammelte sie sich und griff nach ihrem Glas. Es war leer, trotzdem führte sie es zum Mund.

«Was hast du getan?», fragte ich. Ich wollte diese Befragung möglichst schnell hinter mich bringen. Ich sehnte mich nach einem weiteren Glas Wein und einer Zigarette. Ich sehnte mich danach, meine Ruhe zu haben, nicht gestört zu werden durch Norahs Schmerz.

«Nichts.» Norah öffnete die Hände weit, als wolle sie mir zeigen, dass sie leer waren. «Ich habe nichts getan. Was hätte ich tun sollen?» Sie lächelte ein merkwürdiges, kleines, trauriges Lächeln. «Ich habe mein Leben weitergelebt. Ich habe Jan bei der Arbeit unterstützt, ich habe versucht …»

«Du hast Jan bei seiner Arbeit geholfen?» Das war mir neu.

Wieder lächelte sie dieses Lächeln. «Ich habe Recherchen angestellt. Und natürlich repräsentative Aufgaben übernommen. Klienten ausgeführt und so. Das passt zu mir, nicht? Ich meine, schau mich an. Dafür bin ich wie geschaffen.» Jetzt hatte ihre Stimme einen harten ironischen Unterton, aber ihre Augen schwammen in Tränen.

Ich beschloss, da nicht weiter nachzuhaken. «Du hast dein Leben weitergelebt, Jan bei der Arbeit geholfen und was hast du noch? Ich habe dich vorhin unterbrochen», versuchte ich, sie auf den Weg zurückzuführen.

Norah zuckte mit den Schultern. «Und sonst nicht viel.»

Irgendwie hatte ich sie verloren. Ich hätte sie einfach reden lassen sollen.

Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Glas. «Kann ich noch einen haben?«

Ich nickte und ging mit dem leeren Glas zu Willy in die Küche. Als ich zurückkam sass Norah in das Polster zurückgelehnt und starrte in die Ferne. Ihre Finger arbeiteten unablässig und kneteten den Saum ihres Oberteils.

Ich reichte ihr den Whiskey. «Erzähl mir von gestern Abend. Erzähl mir, was du gemacht hast.»

Norah trank einen Schluck. «Ich war an einem Klassentreffen in Zürich. Zwanzig Jahre Matura.» Sie lächelte wehmütig. «Die Zeit vergeht schnell.»

«In Zürich? Aber du warst doch hier auf dem Gymnasium.»

Norah schüttelte den Kopf. «Ich habe gewechselt, nachdem deine Schwester verschwunden war. Ich weiss nicht, es war nicht mehr das gleiche. Ich habe es nicht ausgehalten, wollte weg von den ganzen bekannten Gesichtern. Also haben meine Eltern mich an einem privatem Gymnasium in Zürich angemeldet.»

Ich nickte schweigend und nippte ebenfalls an meinem Whiskey. Ich spürte den Alkohol schon ganz schön. Nicht nur ich hatte unter Marias Verschwinden gelitten. Es hatte auch andere getroffen, das vergass ich immer.

«Denkst du oft an Maria?»

«Was?» Norahs Frage traf mich unerwartet.

«Tut mir leid», sagte sie. «Das geht mich natürlich nichts an.» Sie sah mich an. «Es ist nur … ich denke ziemlich oft an sie. Ich frage mich, was damals passiert ist. Wieso sie nie gefunden worden ist.» Sie schüttelte den Kopf. «Tut mir leid», wiederholte sie. Sie spielte nervös mit ihrem Glas.

«Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Maria denke», sagte ich. Unsere Blicke trafen sich. Ich wandte die Augen als Erste wieder ab. «Zurück zu gestern Abend.»

«Ich war also in Zürich, in der Nähe des Helvetiaplatzes. Es war spät geworden. Den Nachtzug wollte ich nicht nehmen, ich … irgendwie mag ich das Volk da in der Nacht nicht, die ganzen Betrunkenen. Also bin ich in ein Hotel gegangen.»

«Ein Taxi war keine Option?», warf ich ein.

Norah schüttelte den Kopf. «Ein Hotelzimmer ist nicht viel teurer als eine Taxifahrt von Zürich nach Winterthur. Aber das war nicht der Grund. Die Stimmung zwischen Jan und mir war angespannt. Ich habe dir ja gesagt, diese Frau und alles. Wir haben eine schwierige Zeit durchgemacht. Ich dachte, etwas Abstand ab und zu sei vielleicht ganz gut, deswegen bin ich nicht ungern in Zürich geblieben.» Sie umarmte sich selbst, als wäre ihr kalt. «Ich dachte, es sei ganz gut, mich etwas rar zu machen, seine Eifersucht zu schüren, indem ich über Nacht wegbleibe. Aber jetzt denke ich … wenn ich nur nach Hause gegangen wäre, dann …» Ihre Stimme brach. Sie griff nach ihrem Glas.

«Dann wärst du jetzt vielleicht auch tot, Norah.»

«Immer noch besser als das hier.» Norah klang traurig. Und bitter. Sie leerte den Rest des Glases in einem Zug. Dann begann sie erneut, den Saum ihres Oberteils zu kneten und starrte in die Ferne. Sie war offensichtlich an einem ganz anderen Ort.

Sie tat mir leid. Ich beugte mich vor, legte ihr sanft die Hand auf das Knie. «Norah. Du musst bald alle informieren. Freunde, Familie, Bekannte. Schaffst du das?»

Sie nickte, aber ich war mir nicht sicher, ob sie verstanden hatte, was ich gesagt hatte.

«Die Beerdigung muss warten bis die Staatsanwaltschaft dir grünes Licht gibt. Verstehst du?»

Wieder nickte sie. «Er wird jetzt also aufgeschnitten.» Ihre Stimme war tonlos. Dann krümmte sie sich zusammen und weinte laut.

10

Kurz darauf traf Rebecca ein. Sie war klein und rundlich mit wilden Locken. Ich liess Willy und Norah alleine, nahm Rebecca mit zu mir hoch und erzählte ihr noch einmal – diesmal etwas ausführlicher als am Telefon –, was geschehen war. Rebecca war verstört und wütend.

«Ich hoffe, sie finden den Kerl», sagte sie zornig. «Ich hoffe, sie erschiessen ihn, machen kurzen Prozess mit ihm.» Ihre Reaktion schien mir übertrieben und nicht ganz echt. Aber sie war gewillt und in der Lage, in der nächsten Zeit auf Norah aufzupassen, und darauf kam es an.

Wir holten Norah bei Willy ab und ich begleitete sie zum Auto. Norah war etwas wackelig auf den Beinen, also stützten wir sie den ganzen Weg durch den Garten.

«Bis morgen», verabschiedete ich mich.

Norah sah mich fragend an.

«Die Einvernahme», erinnerte ich sie.

Sie nickte vage.

Ich seufzte. Die Chancen standen gut, dass sie den Termin in einer Stunde bereits wieder vergessen hatte. Nachdem die beiden losgefahren waren, ging ich wieder nach oben. Eigentlich stand mir der Sinn nur noch nach meinen eigenen vier Wänden. Ich musste mich aber noch bei Willy bedanken. Seine Hilfe war nicht selbstverständlich.

Willy sass in seinem Sessel und hörte sich eine seiner geliebten Jazzplatten an, diesmal war es John Coltrane. Dank Willy kenne ich mich mittlerweile etwas aus.

«Moira, kommen Sie, setzen Sie sich zu mir.» Willy winkte mich heran. «Auch noch einen?» Er hielt sein Whiskeyglas hoch.

Ich zögerte. Oben wartete eine geöffnete Flasche Wein auf mich. Zudem hatte ich mir vorgenommen, meinen Alkoholkonsum im Zaum zu halten. Vor ein paar Monaten – anlässlich des Falles Maria Okeke – war ich mehr betrunken als nüchtern gewesen. Es war nicht annähernd so ausgeartet wie früher, während und nach meinem Studium, aber trotzdem besorgniserregend. Seitdem versuchte ich, wieder massvoll zu trinken. Doch: Der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach.

«Einen kleinen», antwortete ich.

Willy sah mich erstaunt an, enthielt sich aber eines Kommentars und stellte einen kleinen Whiskey vor mich hin.

Ich nickte dankend und hob mein Glas.

Willy tat es mir nach und schweigend prosteten wir einander zu. Eine Weile sassen wir einfach da und hingen unseren Gedanken nach.

«Danke», brach ich schliesslich das Schweigen.

«Gerne», sagte Willy. Es sah aus, als wolle er noch etwas sagen.

Ich sah ihn fragend an.

Er schüttelte leicht den Kopf. «Es ist nichts. Ich habe nur gerade an meine Frau gedacht.» Willy erwähnte seine Frau selten. Ich wusste, dass er sie geliebt hatte. Aber sie war schon lange tot, und Willy hatte gelernt, alleine zu leben. Er schien den Verlust überwunden zu haben. Was wohl nicht hiess, dass er sie nicht ab und zu vermisste. «Ich hoffe, Norah kommt darüber hinweg», sagte Willy.

«Sie ist noch jung» erwiderte ich.

«Das heisst gar nichts», meinte Willy. «Sie kann trotzdem daran zerbrechen. Das ist keine Frage des Alters. Es ist eine Frage des Gemüts. Und Norah scheint mir sehr fragil zu sein.»

Ich gab keine Antwort. Ehrlich gesagt hatte ich mir genug den Kopf zerbrochen über Norah. Ich wollte für heute damit abschliessen.

Willy schien das zu spüren. Er kam auf etwas ganz anderes zu sprechen. Leider wählte er keinen unverfänglichen, leichten Gesprächsstoff wie beispielsweise das Wetter. Oder das Fernsehprogramm. Nein, er musste Celina ins Spiel bringen. Meine Mutter Celina. «Ich habe Celina zum Essen eingeladen», informierte mich Willy.

Ich lächelte höflich. Schön für ihn.

«Es wäre nett, wenn Sie auch dabei wären.» Willy sah mich auffordernd an.

Mein Lächeln verblasste. Ich wünschte, ich hätte nicht noch bei Willy reingeschaut. Ich wünschte, ich wäre direkt nach oben gegangen.

Willy und Celina kannten sich aus Kindheits- beziehungsweise Jugendtagen. Sie waren in derselben Strasse gross geworden, in der Seidenstrasse. Willy war mehr als zehn Jahre älter als Celina, deswegen hatten sie sich aus den Augen verloren, als Willy mit Mitte zwanzig von zu Hause auszog. Vor Kurzem hatte Willy durch eine Verkettung von Zufällen ihre Bekanntschaft aber zu neuem Leben erweckt. Nicht gerade zu meiner Freude muss ich gestehen. Ich verstehe mich nicht besonders gut mit meiner Mutter. Nein, das ist eine schamlose Untertreibung. Eigentlich kann ich meine Mutter nicht ausstehen. Dass sie und Willy nun irgendwie freundschaftlich verbandelt waren, war, als dringe sie in mein Revier ein. Willy war mein Freund. «Eher nicht», antwortete ich.

Willy sah mich bittend an. «Moira. Irgendwann müssen Sie Frieden schliessen mit Ihrer Mutter. Die Vergangenheit hinter sich lassen. Je früher desto besser.»

Musste ich das? Nein. Ich kam ganz gut damit klar, meine Mutter zu verabscheuen. «Willy, glauben Sie mir, Sie möchten uns nicht beide gleichzeitig an Ihrem Tisch sitzen haben», sagte ich gespielt munter.

Willy öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ich kam ihm zuvor: «Sie meinen es gut, ich weiss. Aber bei meiner Mutter und mir ist Hopfen und Malz verloren.» Ich erhob mich, um einen visuellen Schlusspunkt unter dieses Gespräch zu setzen.

 

«Sie können es sich noch überlegen», sagte Willy.

Ich nickte: Die Hoffnung stirbt zuletzt. «Gute Nacht, Willy.» Ich legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Sie fühlte sich schmal und zerbrechlich an.

«Gute Nacht, Charlie.» Ich streichelte dem jungen Golden Retriever, der zusammengerollt zu meinen Füssen auf dem Boden lag, über den seidigen Kopf. Er gab im Schlaf einen kurzen glücklichen Seufzer von sich. Hund müsste man sein.

«Gute Nacht, Moira.»

Unter der Tür drehte ich mich nach Willy um. Er sah plötzlich alt aus, wie er in seinem Sessel sass – alt und irgendwie traurig. Wider Willen verspürte ich den Anflug eines schlechten Gewissens, verdrängte ihn aber. Ich hatte heute genug mitgemacht. Trotzdem blieb ein unguter Nachgeschmack zurück, als ich die Treppen hochging in mein Reich.

In meinem Schlafzimmer entledigte ich mich meiner Kleidung und schlüpfte in ein übergrosses T-Shirt, das mir als Nachthemd diente. Es war erst kurz nach neun, doch der Tag hatte mich geschafft, körperlich und emotional. Ich goss mir ein Glas Rotwein ein und setzte mich wieder auf die Fensterbank, meinen angestammten Platz für die Gute-Nacht-Zigarette. Ich trank meinen Schlummertrunk, rauchte und lauschte auf die Geräusche aus dem Garten. Grillen zirpten, ab und zu raschelte es im Dunkeln. Vom nahen Waldrand waren die Glocken der Kühe zu hören, die dort ihre Weide hatten. Idylle pur. Die Stadt schien weit weg.

Ich geriet ins Träumen, dachte an vergangene Sommer, frühere Leben. Ich war beinahe froh, als ein Bus die Rychenbergstrasse entlangfuhr. Ansonsten hätte ich noch angefangen an diesem lauen Sommerabend über Gott und die Welt nachzudenken, mit unabsehbaren Folgen. Eine Flasche Wein hätte ich dazu mindestens trinken müssen. Und irgendwann hätten mich die Erinnerungen an meine verschwundene Schwester eingeholt. So aber holte mich das Geräusch des Motors rechtzeitig auf den Boden zurück.

Ich ging ins Bad, putzte die Zähne und legte mich ins Bett. Bevor ich einschlief, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, Norah nach Paul Petersen zu fragen.