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Das Eulenhaus

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»Und Sie?« klang es endlich gebrochen von ihren Lippen.

»Ich bin auf dem Wege, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen, Klaudine. Sie wissen selbst, hoffe ich, daß es von der Herzogin unnötig war, die Wahrheit zu fordern. Ich habe immer offen gehandelt während meines ganzen Lebens, nur einmal beging ich eine Täuschung, weil ich aus Zartgefühl nicht den Mut hatte, zu sprechen, weil ich glaubte, ein einmal gegebenes Wort einlösen zu müssen, und sollte es auf Kosten meines Lebensglückes geschehen. Lassen wir das, es ist begraben. Niemals haben mich seitdem irgendwelche Rücksichten gehindert, der vollsten Überzeugung gemäß zu handeln. Ich werde Ihrer Hoheit kurz erklären, daß —«

Ein leiser Schrei unterbrach ihn, flehend streckte Klaudine ihm die Hand entgegen, und ihre Augen starrten angstvoll in die seinen.

»Schweigen Sie, ich bin nicht die Herzogin!« stammelte sie.

Er hielt inne vor diesem verzweifelten Gebaren. Das Mädchen sprang empor und flüchtete nach der anderen Seite des Abteils.

In diesem Augenblick huschten Lichter vor dem Fenster vorüber, der Zug fuhr langsamer. In der trüben Dämmerung des Schneemorgens erkannte der Baron den Bahnhof der Residenz. Über der Stadt erhob sich grau die alte herzogliche Feste.

Klaudine war ausgestiegen, ehe er hinzuspringen konnte, um ihr behilflich zu sein. Ein fürstlicher Diener erwartete sie und ein Hofwagen. Als sie eilig hineinschlüpfte, stand Lothar am Schlag. In dem grauen, kalten Morgenlicht sah sein Gesicht ganz anders aus als vorher, es schien Klaudine, als wäre er seit den paar Monaten um Jahre gealtert.

»Ich bitte, Cousine, nennen Sie mir die Stunde für eine Unterredung«, forderte er mit höflicher Bestimmtheit.

»Morgen«, erwiderte sie.

»Morgen erst?«

»Ja!« entschied sie kurz.

Er trat, sich verbeugend, zurück, nahm wenige Minuten später in einem Gasthauswagen Platz und fuhr mit dem schwerfälligen Omnibus durch das Südertor, welches eben der fürstliche Wagen mit Klaudine in Windeseile passiert hatte.

»Wie«, dachte er, durch ihr sonderbares Benehmen geängstigt, »wenn die Herzogin dennoch recht hätte, wenn sie den Herzog wirklich liebte? Wenn ich selbst ihr gleichgültig wäre, wirklich gleichgültig?«

Sie war indes den steilen Schloßberg hinaufgefahren und stieg an dem Tor des Flügels ab, den die Herzogin-Mutter bewohnte. Die aufgehende Sonne tauchte eben die verschneiten spitzen Giebeldächer, die Türmchen und Mauern in Purpurglut, und in demselben Augenblick entrollte sich das herzogliche Banner auf dem Hauptturm der Stadt, die unten noch in grauer Dämmerung lag, ein Zeichen, daß die Herrin heimkehre, ja – heimkehre, um zu sterben.

Klaudine fand im zweiten Stockwerk ein paar gemütliche Zimmer zu ihrer Verfügung und ward noch im Laufe des Vormittags zur alten Hoheit beschieden. Die freundliche Dame hatte verweinte Augen, sie saß an dem bekannten Erkerfenster und blickte über die Dächer ihrer guten Stadt hinweg, weit in das verschneite Land hinein. Oh, wie oft hatte Klaudine hier vor ihr gesessen, in dem lauschigen Zimmer mit den steifen kostbaren Möbeln und den vielen Bildern an den Wänden, und hatte sich mit ihrer Gebieterin der herrlichen Aussicht gefreut. In der gegenwärtigen Stunde hatten sie beide kein Auge für diese Schönheiten. Sie sahen dort hinaus, wo der Schienenstrang aus dem Walde hervortrat, auf dem der Zug daherkommen sollte, der die arme Kranke brachte.

Die Herzogin hatte in Cannes einen neuen Blutsturz gehabt. Sie wollte nur noch eines – ihre Kinder wiedersehen und verschiedenes ordnen vor ihrem Sterben. Die kleinen Prinzen waren daheim geblieben, sie sollten der Mutter nicht zuviel Unruhe machen, der Arzt hatte es so gewünscht, obgleich sie dagegen gekämpft: »Herr Doktor, ich sterbe vor Sehnsucht!«

Die alte Hoheit schüttelte nur immer leise das greise Haupt, während sie dies alles erzählte: »Es ist hart, es ist besonders hart für Adalbert, denn sie hatten sich ganz und vollständig gefunden, sie waren auf dem besten Wege, ein glückliches Paar zu werden. Er schreibt so liebevoll von ihr, und nun?« Sie seufzte.

Die Herrschaften hatten sich jeden Empfang verbeten, aber die alte Hoheit wollte doch mit dem Erbprinzen hinunterfahren zum Bahnhof und befahl Klaudine, sie zu begleiten. Gegen zwei Uhr fuhren sie den Schloßberg hinab, ein trüber Novemberhimmel hing über der Stadt und sandte große, dicke Schneeflocken hernieder. Aber trotz des schlechten Wetters standen Hunderte von Menschen in der Straße, die zum Bahnhof führt.

Der Landauer der Herzogin hielt dicht vor der Rampe des fürstlichen Wartezimmers. Die Schutzleute bemühten sich, der Menge zu wehren, die sich stumm herzudrängte. Alle standen denn auch ruhig in weitem Bogen um die Kutschen. Auf dem Bahnsteig befanden sich einige Herren, der Schnellzug, der die herzogliche Familie bringen sollte, war bereits gemeldet. Endlich brausten die Wagen unter die Halle, es entwickelte sich plötzlich ein buntes Treiben auf dem Bahnsteig. Der Herzog war zuerst ausgestiegen, er küßte seiner Mutter die Hand, dann hob er selbst die leidende Gemahlin aus dem Wagen. Aller Augen waren auf ihr bleiches, schmales Gesicht gerichtet, dessen große Augen den Erbprinzen suchten. Sie umarmte die alte Herzogin und küßte ihr Kind mit einem traurigen Lächeln. »Da bin ich wieder«, flüsterte sie matt. Kaum vermochte sie die paar Schritte zum Wartezimmer zu gehen. Der Erbprinz und der Herzog stützten sie. Freundlich müde erwiderte sie die Grüße. Prinzeß Helene und ihre Hofdame, Frau von Katzenstein und die Kammerfrau, die Herren vom Gefolge, alle hasteten durcheinander.

Als sie Klaudine sah, zuckte es in ihrem Gesicht. Sie winkte mit der Hand und deutete auf den Wagen.

Das schöne Mädchen eilte hinüber. »Hoheit«, stammelte sie ergriffen und beugte sich über die Hand der Herzogin.

»Komm, Dina!« flüsterte diese, »fahr mit mir, und du, mein Herz«, wandte sie sich an den Erbprinzen. »Adalbert wird mit Mama fahren.« Während sie durch die schweigende Menge fuhr, sagte sie: »Grüße, mein Kind, grüße sehr freundlich! Die Leute wissen alle, wie krank ich bin.«

Sie selbst bog sich mit Anstrengung ein wenig vor und wehte matt mit dem weißen Tuche.

»Das letztemal! Das letztemal!« murmelte sie. Dann faßte sie des Mädchens Hand. »Wie gut, daß du da bist!« Oben am Schloßtor entließ sie die Freundin: »Wenn ich geruht habe, so lasse ich dich rufen, Dina.«

Klaudine suchte ihr stilles Zimmer auf und schaute in den winterlichen Schloßhof hinab. Kutschen fuhren ab und zu, die Wache zog auf und die großen Gepäckwagen kamen langsam den Berg herauf. Dort unten läuteten die Glocken der Marienkirche, hier und da blitzten schon Lichter auf, trotz der frühen Nachmittagsstunden, und es schneite, schneite immerzu.

Stunden vergingen. Man brachte Klaudine den Tee in ihr Zimmer. Sie dachte an Lothar und wie er ihr seine Einsamkeit und Sehnsucht auf dem verlassenen Schlosse in Sachsen geschildert. O ja, es ist schwer, allein zu sein mit den marternden Gedanken, der schrecklichen Ungewißheit. Ungewißheit? Sie war fast zornig auf sich, ach Gott, sie wußte es ja nur zu gewiß!

Prinzessin Helene hatte gut ausgesehen, ihr Gesicht hatte einen etwas anderen Ausdruck gezeigt. Das Leidenschaftliche, Unruhige war von ihr gewichen, sie hatte wohl Hoffnung, begründete Hoffnung!

Was wollte nur die Herzogin von ihr selbst? Ach, es war ja klar! Sie würde, nachdem sie Lothars Antwort erhalten hatte, zu ihr sagen: »Klaudine, sei großmütig, gib du ihm sein Wort zurück! Er fühlt sich gebunden.«

Freilich, das wußte sie, er würde die Verlobung nicht lösen, nie! Er war auf ihre Großmut angewiesen. Ein heißer, leidenschaftlicher Trotz erfüllte sie. »Und wenn ich jetzt nicht will? Und wenn ich lieber elend an seiner Seite werden will, als elend ohne ihn? Wer kann mich hindern?« Sie schüttelte den Kopf. »O nimmermehr! Nein!«

Die altmodische Uhr auf dem Spiegeltisch schlug neun. Es fror sie plötzlich in dem dunklen Zimmer, im Kamin glühte nur noch ein schwacher roter Schein. Sie begann umherzuwandern. Bis zehn Uhr wollte sie noch warten, dann zur Ruhe gehen. Vielleicht konnte man ja schlafen. Aber gegen zehn Uhr kam doch die Kammerfrau und beschied sie hinunter.

Sie ging die Korridore entlang und über verschiedene Treppen und Treppchen, bis sie in die wohldurchwärmte und hellerleuchtete Halle vor den Gemächern Ihrer Hoheit gelangte, empfand sie auch heute wieder den eigentümlichen Zauber dieser prächtigen Räume. Überall dieses satte Rot auf Wänden, Teppichen und Vorhängen, überall das gedämpfte Licht rötlich verschleierter Ampeln und Lampen, überall Gruppen üppiger fremdländischer Pflanzen und überall prächtige, farbenglühende Gemälde in breiten, funkelnden Goldrahmen.

Die Herzogin lag in ihrem Schlafzimmer, in dem niedrigen mit schweren roten Vorhängen umgebenen Bette, deren Falten oben an der Decke ein vergoldeter Adler in seinen Klauen hielt. Auch hier eine rötliche Beleuchtung, die das bleiche Gesicht mit trügerischen Rosen überhauchte.

»Es ist spät, Dina«, sagte die Kranke mit verschleierter Stimme, »aber ich kann nicht schlafen, fast nie mehr, und ich kann nicht allein sein, ich fürchte mich. Ich habe mir darum einen Vorhang des Bettes so legen lassen, daß ich die Tür nicht sehe. Mich erfaßt mitunter eine unerklärliche Angst, es möchte etwas schreckliches über die Schwelle kommen, unser Hausgespenst, die weiße Frau, die mir melden will, was ich ja schon weiß: daß ich sterben muß. Ich lag sonst so gern im Dunkeln. Erzähle, Klaudine, erzähle mir alles, ich meine, oft wird es nicht mehr sein, daß ich dir zuhören kann. Wie erging es dir, Dina? Sprich!«

Klaudine meinte, sie müsse hinauseilen aus diesem reichen Zimmer mit seiner vergoldeten Decke und dem betäubenden Maiblumenduft, der vom Wintergarten herüberzog.

»Mir geht es gut, Elisabeth, ich bin nur traurig, daß du leidest«, sagte sie und nahm zur Seite des Bettes Platz.

 

»Klaudine«, begann die Kranke, »ich habe noch so vielerlei zu schreiben und zu ordnen, und wenn erst mein Vater hier ist und meine Schwestern – sie werden bald eintreffen – und wenn ich die Angst wieder bekomme, die erstickende Angst, dann ist es zu spät. Hilf mir ein wenig dabei.«

»Elisabeth, du regst dich unnötig auf.«

»Nein, o nein, ich bitte dich, Dina!« Und sie wandte ihr abgemagertes Gesicht um und blickte das Mädchen mit den großen glänzenden Augen an, als wollte sie in das Herz der Freundin schauen. »Du bist eine so seltsame Braut, Klaudine«, begann sie nach einer Weile flüsternd, »und seltsam ist auch Euer Brautstand. Er dort, du da. Klaudine, gestehe, es war ein frommes Opfer von dir, als du an jenem gräßlichen Tage deine Hand verschenktest! Sprich, Klaudine, du liebst ihn nicht?«

Mit wahrhaft verzehrender Angst hingen ihre Blicke an dem nassen Antlitz des Mädchens.

»Elisabeth«, sagte dieses nach einer Pause und legte die Hände auf ihre Brust. »Ich liebe Lothar, ich habe ihn geliebt, als ich noch nicht wußte, was Liebe ist, als halbes Kind habe ich ihn schon geliebt!«

Die Herzogin schwieg, aber sie atmete rasch.

»Glaubst du mir nicht, Elisabeth?« fragte Klaudine leise.

»Ja, ich glaube dir, Dina. Aber liebt er dich? Sage, liebt er dich auch?« flüsterte die Herzogin.

Sie senkte die Wimper. »Ich weiß es nicht«, stammelte sie.

»Und wenn du wüßtest, er liebt dich nicht, würdest du trotzdem sein Weib werden wollen?«

»Nein, Elisabeth!«

»Und du würdest dich nie entschließen können, einem anderen deine Hand zu schenken, der dich unsäglich liebt?«

Das schöne Mädchen saß wie ein Steinbild, ohne zu antworten.

»Klaudine, weißt du, weshalb ich gekommen bin?« fragte die Herzogin leidenschaftlich erregt. »Um mit der letzten Lebenskraft demjenigen, der mir am teuersten ist auf dieser Welt, ein heißersehntes Glück zu retten. Als ich fortging nach Cannes«, sprach sie weiter, »da kämpfte noch meine törichte Schwachheit, mein verwundetes eitles Herz mit der besseren Einsicht. Klaudine, der Herzog liebt dich – mich hat er nie geliebt. Er liebt dich mit aller Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, deren sein edles Herz fähig ist. Ich habe während der Jahre unserer Ehe in jedem Zuge seines Gesichts lesen gelernt – er liebt dich, Dina! Und er wird dich nie vergessen. Sitze nicht so stumm da, um Gottes willen, antworte!«

»Du irrst dich!« rief Klaudine angstvoll und streckte abwehrend ihre Hand gegen die Herzogin aus. »Du irrst dich, Seine Hoheit liebt mich nicht mehr, es ist ein Wahn von dir! Du darfst nicht über solche Hirngespinste grübeln, du durftest deshalb nicht kommen.«

»O, glaubst du, Dina, daß man die Liebe auszieht wie ein Kleid?« fragte die Herzogin bitter, »daß man sich vornehmen kann, etwa als wolle man einen Spaziergang machen: von heute ab wird nicht mehr geliebt – Punktum? So ist das Herz nicht beschaffen.«

Klaudine schwieg. »Ich werde mich nie verheiraten«, sagte sie dann leise und bestimmt, »wenn nicht beider Herzen sich einander zuneigen, nie! Verzeihe, Elisabeth, ich darf dir keine trügerischen Versprechungen machen. Verfüge über alles, alles! Über mein Leben, wenn es sein muß, nur verlange das nicht!«

Die Herzogin blickte mit weinenden Augen an Klaudine vorüber. Ein Weilchen blieb es ganz still im Gemach.

»Armer Mann! Ich hatte es mir so schön gedacht für dich«, sagte sie dann mehr zu sich selbst. »Es soll nicht sein!« Und etwas lauter: »Welche Verwirrung – du liebst Lothar, und er – arme kleine Prinzessin!«

»Elisabeth!« schrie Klaudine auf und ihre erblaßten Lippen zitterten. »Ich will ja sein Glück nicht hindern – was denkst du von mir? Nie! Nie! Erweise mir eine Liebe«, fuhr sie hastig fort, »gib ihm in meinem Namen seine Freiheit zurück. Ich weiß, du sprichst mit ihm über diesen Punkt.«

»Morgen«, sagte die Herzogin.

»So gib ihm das!« Sie zog heftig den Brautring von ihrem Finger. »Hier ist das Glück der Prinzessin, nimm es und laß mich meine eigenen Wege gehen, allein, fern von allem, was mich an ihn erinnert!«

Sie sprang empor und ging zur Tür hinüber.

»Klaudine«, bat die Herzogin mit ihrer schwachen Stimme, und ihre kranken Hände umschlossen den Ring, »Dina, geh nicht so von mir! Wer ist die Ärmere von uns beiden? Hilf mir lieber, daß noch etwas Segen aus all dem werde.«

Klaudine kam zurück. »Was soll ich noch tun?« fragte sie geduldig.

Die Herzogin bat um Wasser. Dann hieß sie Klaudine ein Kästchen bringen, öffnete dieses und reichte dem Mädchen ein Stück Papier.

»Es ist ein Verzeichnis der kleinen Andenken, die ich nach meinem Tode verteilt wissen will. Bewahre es, es ist eine Abschrift, das Original hat der Herzog.«

»Du sollst dich nicht so aufregen, Elisabeth.«

»O, ich werde ruhiger sein, wenn alles geordnet ist, Dina. Lies noch einmal laut, ob ich auch nichts versäumte. Es soll niemand sagen: Sie vergaß mich!«

Mit bebender Stimme las Klaudine. Zuweilen machte ein Tränenflor ihren Augen die Schrift unleserlich, es war alles so zart ausgewählt, es zeugte jedes einzelne von einem so innigen tiefen Gemüt.

»Meiner lieben Klaudine gehöre der Schleier aus Brüsseler Spitzen, den ich als Braut getragen —«

Eine flammende Röte schlug über des Mädchens vergrämtes Gesicht. Sie wußte, was die Herzogin gemeint hatte.

»Nimm es zurück, nimm es zurück!« schluchzte sie und kniete am Bette nieder.

»O wie schlimm! O wie schlimm!« sagte die Herzogin, »du und er – unglücklich. Ihr, meine beiden liebsten Menschen!«

Klaudine küßte die heißen Hände der Kranken und eilte hinaus. Der Schmerz tobte zu heftig in ihr. Im Wintergarten unter den Magnolien und Palmen weinte sie sich aus. Nach einigen Minuten war sie so weit gefaßt, daß sie ruhig »Gute Nacht!« wünschen konnte. Als sie durch die seidenen Vorhänge hinüberspähte zu dem Bette, lag die Kranke anscheinend im Schlummer, einen gramvollen Zug um den Mund.

Im Vorzimmer traf Klaudine den alten Medizinalrat, der sie freundlich begrüßte.

»Ist es denn wirklich so nahe, das Ende?« fragte das erschütterte Mädchen.

Er reichte ihr zutraulich die Hand. »Solange noch Atem ist, gnädiges Fräulein, ist auch Hoffnung. Aber nach menschlichem Ermessen – Hoheit wird auslöschen wie ein Licht, wird eines Tages vor Erschöpfung einschlafen.«

Klaudine deutete unwillkürlich nach ihrem Arme. »Herr Rat?«

»Ach, gnädiges Fräulein«, sagte der alte Mann gerührt, »das hilft nicht mehr. Hier ist es vorbei, hier!« Und er deutete auf die Brust. »Ich will noch zum Herzog, um von dem Befinden Ihrer Hoheit Nachricht zu bringen«, sprach er leise, indem er neben der jungen Dame den Flur entlang ging. »Seine Hoheit hat übrigens gleich eine sehr unerfreuliche Überraschung hier vorgefunden. Sie wissen doch schon? Palmer ist verschwunden und hat eine große Unordnung hinterlassen.«

»Er fuhr die vergangene Nacht nach Frankfurt«, sagte Klaudine betroffen, »er wollte vermutlich den Herrschaften entgegenreisen. Ich sah ihn auf dem Bahnhof in Wehrburg.«

»Dieser Schuft«, murmelte der alte Herr, »er ist längst jenseits der Grenze. Entgegengefahren? Wer hat Ihnen das vorgefabelt, gnädiges Fräulein?«

»Ich hörte, wie er zu Frau von Berg davon sprach.« Klaudine stand still, das ganze merkwürdige Erlebnis wurde ihr plötzlich klar.

»Die passen füreinander«, lachte der Arzt, »ich will es aber doch beiläufig Seiner Hoheit erzählen. Da werden wir morgen die Nachricht erhalten, daß auch die Gnädige verreist ist, mit Hinterlassung von allerhand merkwürdigen Sachen. Man soll nicht schadenfroh sein, aber Ihrer Durchlaucht gönnte ich es. Sie hat auf eine wunderbare Art die Dame beschützt. Gute Nacht, gnädiges Fräulein!«

Es war so. Am anderen Morgen erfuhr man im Schlosse, daß Frau von Berg plötzlich verschwunden sei. Sie hatte nichts weiter hinterlassen als ein Päckchen Briefe, an die Herzogin gerichtet, und einen Brief an Seine Hoheit. Aber der Schutzengel, der an der Schwelle des Krankenzimmers in Gestalt der Frau von Katzenstein Wache hielt, ahnte sofort, daß der Inhalt des Päckchens nicht geeignet sei für Ihre Hoheit, sie übergab es daher sogleich dem Herzog. Die alte Dame kam in dem Augenblick, als Seine Hoheit mit der Zornader auf der Stirn einen Haufen Papiere durchstöberte. Der Polizeidirektor war ebenfalls anwesend.

Der Herzog mochte glauben, Frau von Katzenstein bringe ihm Nachrichten von Ihrer Hoheit. Statt dessen reichte ihm die alte Dame nun ernsthaft ein mit himmelblauem Seidenbande umwundenes Päckchen Briefe hin, dessen oberster, unverkennbar von der Handschrift Seiner Hoheit, die Adresse der Frau von Berg trug.

Der Herzog ward blaß.

»Und das sollte man Ihrer Hoheit übergeben?« fragte er und sah schier fassungslos die Zeugen einer lustigen Junggesellenzeit an, von damals, wo man so gern abends bei Herrn und Frau von Berg saß und in dem blauen, koketten Gemach der schönen Frau Whist spielte. Dieses Weib, das niemals in einem Raume mit der Frau, deren Lebenszeit nur noch Tage zählte, hätte atmen dürfen, dieses Weib wagte es, noch an den Frieden des Sterbebettes zu rühren?

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau!« sagte der Herzog erschüttert. Und er nahm die Briefe und warf sie in den Kamin, und jene anderen Papiere warf er ebenfalls nach. Unwillkürlich wischte er sich hinterher die Finger an dem Batisttuch. »Lassen Sie den Schuft laufen, Herr von Schmidt«, sagte er dann verächtlich und machte eine liebenswürdig verabschiedende Bewegung zu dem Polizeidirektor.

Der Herzog ging, nachdem jener sich entfernt hatte, sehr erregt im Zimmer auf und ab. Einer der Briefe, ein kleines Kärtchen, war da vor dem Kamin liegen geblieben. Der Herzog bemerkte es erst nach einer Weile und hob es auf. Es war Herrn von Palmers wohlbekannte Handschrift.

»Gestern abend«, las er, »habe ich der schönen Klaudine ein Briefchen des Herzogs überreichen müssen. Ich stahl es ihr, als ich ihr beim Einsteigen half. Anbei übergebe ich Ihrem großartigen erfinderischen Sinn das wertvolle Blättchen zu beliebiger Verwendung. Nun, mein Schätzchen wird die Mine so geschickt zu legen wissen, daß die kluge, uns beiden so freundlich gesinnte Dame in die Luft fliegt —«

»Also Palmer auch hierin schuldig!« Er lächelte bitter und dachte an das heißblütige, dunkeläugige Geschöpfchen, dem man die Zündschnur zu dieser Mine in die Hand gab. Die Mine war explodiert, das erste Opfer lag da drüben, und die Verbrecher waren entkommen.

Dieser schlaue Mensch hatte sich wenigstens vorgesehen, hatte es verstanden mit lächelnder Natürlichkeit zu betrügen. Es war kein Bediensteter unter dem gesamten Personal des Hofhaltes, der nicht rückständigen Lohn zu fordern hatte, kein Hoflieferant, welcher Art es sei, der seit zwei Jahren einen Pfennig bekommen hätte. Im herzoglichen Rentamt drängten sich die Leute mit Forderungen, nachdem die Flucht Palmers bekannt geworden war.

Die in Geldsachen sehr peinliche Herzoginmutter war darüber empört, einen Landauer zum zweiten Male bezahlen zu müssen, und ertrug dennoch nur mit Mühe den Gedanken, daß sie in eben diesem Wagen ganz ruhig an dem Hause des Fabrikanten vorübergefahren sei, der so oft untertänige Mahnbriefe an Palmer geschickt hatte.

Klaudine erfuhr dies alles durch die Zofe, es erregte kaum flüchtig ihr Interesse. Sie dachte nur an das, was das Heute ihr bringen würde, an die Entscheidung ihres Schicksals. Die Nachrichten über das Befinden der Herzogin lauteten nicht schlechter, sie hatte einige Stunden geschlafen, aber noch nicht die Gegenwart der Freundin gewünscht.

Klaudine stand am Fenster und sah hinaus in den grauen Novemberhimmel. Es schneite noch immer, so düster lag die Welt vor ihren Blicken, so tot. Eine dunkle Röte überzog plötzlich ihr Antlitz – ein Wagen rollte in den Hof und hielt vor dem Tor des Flügels, den die Herzogin bewohnte. Da ihr Zimmer in dem Mittelbau lag, in dem die Prachträume sich befanden, konnte sie deutlich sehen, wer dem Wagen entstieg und das Schloß betrat. Er war es. Eben verschwand Lothars hohe Gestalt hinter den spiegelnden Glasscheiben der inneren Tür. Er kam, Ihrer Hoheit die Antwort zu bringen!

Sie mußte sich fest aufstützen, so stürmte es auf ihre Seele ein. Was wollte der törichte Hoffnungsstrahl noch immer in ihrer gequälten Seele? Er liebte sie nicht, nein, nein! Einmal, einmal hatte ihr Herz töricht in Wonne geklopft, das war in jener dunklen Sommernacht, als er dahergeritten kam, um nach ihrem Fenster zu lauschen – einen Augenblick, einen einzigen süßen, herzverwirrenden Augenblick. Aber die Ernüchterung folgte auf dem Fuße.

Sie wandte sich vom Fenster weg und ging zu dem Tische, auf dem noch das Frühstück stand. Sie ergriff die winzige Karaffe, mit Sherry gefüllt, und goß sich ein halbes Glas ein. Sie liebte diesen Wein sonst nicht, sie fühlte sich nur so erbarmungswert schwach in diesem Augenblick. Ein leises Klopfen an der Tür ließ sie das Glas hinsetzen, noch ehe sie ausgetrunken. »Herein!« sagte sie so tonlos, daß der Außenstehende es unmöglich hören konnte, aber Frau von Katzenstein öffnete trotzdem die Tür und kam freundlichernst über die Schwelle. Sie hielt ein Körbchen, mit weißem Seidenpapier verdeckt, in der Hand.

 

»Meine liebe Gerold«, sagte sie herzlich, »Ihre Hoheit beauftragt mich soeben, Ihnen dieses zu überreichen.« Sie stellte den Korb auf einen Seitentisch und trat Klaudine näher. »Die Herzogin erwartet Sie in einer halben Stunde««, fügte sie hinzu und drückte dem Mädchen die Hand. »Verzeihen Sie nur, wenn ich nicht verweile, ich kann die Kranke nicht verlassen.«

»Wie geht es ihr?« brachte Klaudine über die zitternden Lippen.

»Sie klagt heute nicht, sie sagt, es sei ihr leichter und freier auf der Brust«, erwiderte die alte Dame.

»Oh, und Sie bemühen sich selbst«, sprach Klaudine zerstreut, aber Frau von Katzenstein ging schon wieder zur Tür hinaus. Klaudine dachte kaum an das Körbchen. In einer halben Stunde sollte sie erfahren, ob er ihren Ring genommen hatte. Man würde ihr doch die Wahrheit sagen?

Sie begann unruhig umherzuwandern, obgleich die Füße sie kaum trugen. Dann trat sie ans Fenster. Die Wache hatte »Heraus!« gerufen, der Herzog fuhr eben im Jagdschlitten über den Schloßhof. Zwei andere Schlitten folgten, er suchte wohl dem Kummer und der Sorge zu entfliehen? Auch sie fühlte den Drang in den Park hinunterzulaufen und in der Schneeluft die heiße Stirn zu kühlen, sich müde zu gehen, Schlaf und Vergessen zu finden. Mechanisch war sie vor dem Körbchen stehen geblieben, das die Herzogin ihr schickte. Ein Reisegeschenk vermutlich – die hohe Frau versäumte ja nie, Freude zu bereiten.

Sie hob das Papier ein wenig auf. In einigen Minuten mußte sie hinunter, sich zu bedanken, man wollte doch wissen, wofür? In dem mit hellblauer Seide gefütterten Körbchen lag auf kostbarem, echtem Spitzengewebe ein Zweig blühender Myrte, und dieser Myrtenzweig war durch ihren Verlobungsring gezogen.

Das bleiche, heftig atmende Mädchen befand sich plötzlich auf der Treppe. Sie durcheilte die Korridore, und erst im Vorzimmer der Herzogin fühlte sie, daß die Füße sie nicht mehr tragen wollten. Dort stand der Medizinalrat und flüsterte mit Frau von Katzenstein. Die alte Dame deutete mit der Hand auf eines der Nebenzimmer und legte den Finger auf den Mund. »Hoheit schlafen eben ein wenig«, sprach sie leise.

Klaudine ging wie im Traume nach dem sogenannten Arbeitszimmer der Herzogin. Es war ein kleines, zu halber Höhe mit kostbarer Holztäfelung versehenes Gemach. Goldbedruckte Ledertapeten bekleideten die Wände, Bücherschränke und ein Schreibtisch aus dunklem Eichenholz, schwere Vorhänge und Teppiche, und die Büsten von Goethe, Shakespeare und Byron bildeten die Einrichtung. Es war fast dunkel hier an diesem grauen Tage. Durch eine der Türen, deren Vorhang halb zurückgenommen war, sah man in den Wintergarten, und dort stand in dem vollen Tageslichte, das durch die Glaswände hereinströmte, Lothar. Er hatte den Rücken hierher gewendet und betrachtete scheinbar mit Interesse einen Strauch blühender gelber Rosen.

Unwillkürlich trat Klaudine in den Schatten der hohen Bücherschränke. Sie sah ihn nicht mehr, sie wollte und konnte ihm jetzt nicht begegnen. Mit furchtbarem Herzklopfen lehnte sie in dem schützenden Winkel. Sie wollte auch den Ring nicht, der ihr als eine Gabe des Mitleids erschien, wußte sie doch, daß er ihn zurückgab, weil er sein Wort nicht brechen wollte, und sie durfte, konnte ihn nicht behalten. Plötzlich blickte sie sich um, ob sie nicht entfliehen könne, denn sie vernahm die harte Stimme der Prinzeß Thekla.

»Nun, Baron, fragte diese, »also endlich sieht man Sie? Wissen Sie, daß ich Ihnen ganz böse bin? Sie sind seit gestern hier und haben sich im roten Schlößchen noch nicht blicken lassen!«

»Es ist unrecht, Durchlaucht, allerdings! Ich fand aber hier so vielerlei zu tun, und außerdem macht man doch nicht gerade Besuche an seinem Hochzeitstage.«

»Hochzeitstage?« schrillte lachend die alte Dame. »Ich finde, Sie wählen die Zeit zu Ihren Scherzen recht eigentümlich. Die Herzogin ist todkrank! Wirklich, Lothar, Sie sind jetzt zuweilen sehr sonderbar. Wissen Sie, daß Ihre Hoheit noch heute sterben kann?«

»Ach, Durchlaucht nehmen an, ich erlaubte mir einen unpassenden Scherz? Nichts würde mir ferner liegen. Ich selbst bin durch die Nachricht überrascht worden. Indes, die Herzogin wünscht, daß unser Bund noch heute geschlossen wird – wenn meine Braut einwilligt, natürlich.«

»Meinen Glückwunsch, Baron! Weshalb sollte Ihre Braut nicht einwilligen?« klang es spöttisch, »sie willigte doch so rasch in die Verlobung, und naturgemäß pflegt dieser doch die Hochzeit zu folgen. Sonderbare Laune übrigens von Ihrer Hoheit!«

»Sonderbar? Ist es so sonderbar, wenn die Herzogin, noch ehe sie stirbt, das Glück zweier Menschen, sozusagen, in den sicheren Hafen flüchten möchte, aus allen Ränken und Schlichen hinaus, denen es preisgegeben ist, solange sie nicht verbunden sind? Ich gestehe, ich finde es so eigentümlich nicht, ich nehme dankbar diese ›sonderbare Laune‹ an.«

»Sie waren doch sonst nicht so schutzbedürftig, Gerold. Seit wann fühlen Sie sich so schwach? Sie wußten doch meine Einwilligung zu ertrotzen, als ich Ihnen die Hand meiner Tochter verweigerte? Seit wann überhaupt fürchten Sie das Recht des Stärkeren – sagen wir das Recht des Mächtigeren, oder —«

»Ich fürchte keinen ehrlichen Feind,« erwiderte er langsam. »Durchlaucht wissen ohne Zweifel aus der Fabel schon, daß der Löwe immer großmütig ist, ihn fürchte ich nicht als Gegner, ich fürchte die Schlangen, die da unbemerkt heranschleichen und Unschuldige mit ihrem Gifte bespritzen. Ich kann die, welche meine Gattin werden soll, nicht vor boshafter Verleumdung schützen, bevor sie nicht wirklich mein Weib geworden ist, denn ich kämpfe hier mit ungleichen Waffen. Mir ist trotz meines jahrelangen Hoflebens die Intrige ein unbekannter Boden geblieben, und, Durchlaucht, ich fürchte, ich würde es nie lernen, auch nicht durch das hervorragendste Beispiel.«

Aber die Prinzessin schien nicht verstanden zu haben. »Oder«, wiederholte sie, unbeirrt in ihrer Rede fortfahrend, »ängstigen Sie sich, daß Sie der Treue Ihrer Braut erst dann sicher werden, wenn Sie dieselbe, sozusagen, hinter dem Riegel des Gelübdes wissen?«

»Durchlaucht haben zum Teil recht«, erwiderte er höflich. »Ich ängstige mich indes nicht um die Treue und Festigkeit meiner Braut, ich ängstige mich, weil ich noch nicht weiß, ob meine Braut mir verziehen hat, daß ich mich mit der Dreistigkeit der Angst an ihrem Wege aufstellte, um ihr das ›Ja!‹ gleichsam abzuzwingen.«

Die alte Prinzeß lachte kurz auf. »Man könnte auf den entsetzlichen Gedanken kommen, lieber Baron, daß, falls Ihr Fräulein Braut nicht verzeiht, Sie sich das Leben nehmen oder sonst etwas schreckliches tun werden.«

»Das Leben nehmen? Nein! Denn ich habe ein Kind, dem mein Leben gehört, aber ein unglücklicher, einsamer Mann würde ich sein, Durchlaucht, denn ich liebe meine Braut!«

Klaudine war hervorgetreten, sie tat ein paar Schritte nach jener Tür zu, dann blieb sie stehen. Sie sah die Prinzessin dort in dem schwarzen seidenen Pelzmantel, sie sah, wie die Fächerpalme über ihrem Samthute leise schwankte und wie das gelbliche, magere Antlitz von der Röte unliebsamer Überraschung sich färbte. Sie mußte sich an dem geschnitzten Löwenkopf des Bücherschrankes festhalten, denn die Stimme der alten Durchlaucht sagte in unbeschreiblich verächtlichem Tone: »Daß Sie diese Dame lieben, Baron, ist mir noch keine Gewähr für die Charaktereigenschaften derjenigen, welche die Stiefmutter meiner Enkelin werden soll.«