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Das Eulenhaus

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An der langen Tafel flogen plötzlich sämtliche Hüte von den Köpfen, die Herren waren aufgesprungen, die Damen grüßten und nickten liebenswürdig.

Was, um Gottes willen, Klaudine von Gerold – den Arm in der Binde, neben Fräulein Beate? Und ihr gegenüber der Baron? Langsam, sehr langsam fuhr jetzt der Wagen vorbei und hielt vor der Tür des Kurhauses.

Zwei Herren der Gesellschaft stürzten herbei, ein junger Husarenoffizier und der schwermütige Gesandtschaftsattaché. Der Leutnant wollte sich nach dem Befinden der Herzogin erkundigen, seiner hohen Tischnachbarin von dem Neuhäuser Feste, und da er wohl annehmen dürfe, Fräulein von Gerold sei am besten unterrichtet, so – und so weiter. Der Gesandtschaftsattache hatte andere Absichten, er kam auf den geflüsterten Wunsch Ihrer Exzellenz: »Man müsse doch wissen, was das zu bedeuten habe —«

»Die Herzogin befindet sich besser«, erwiderte Klaudine freundlich.

»Aber, gnädiges Fräulein scheinen verletzt?« fragte der Attache und drehte den Schnurrbart.

»Eine kleine, unbedeutende Verletzung, Herr von Sanders«, nahm Lothar das Wort. »Ich denke, meine Braut wird den Arm bald wieder – O Verzeihung! Ich vergaß zu sagen, daß Sie hier ein nagelneues Brautpaar vor sich sehen. Wir verlobten uns gestern abend. Eine Überraschung, nicht wahr, meine Herren?«

Er drückte sich mit den Herren die Hände, und Glückwünsche und Dankesworte flogen hin und her. Klaudine trank indes und gab das Glas zurück.

»Weiterfahren!« befahl jetzt Lothar, zog den Hut vom Kopf und, verbeugte sich gemessen gegen die Herrschaften um den Tisch. In den nächsten Minuten hatte der jetzt rasch dahinrollende Wagen den einsamen Waldweg erreicht.

Dort an dem Tische vor dem Kurhause schwiegen plötzlich sämtliche Zungen. Erst ganz allmählich faßte man sich. Oh, wie das jetzt anders klang!

»Nun«, erklärte die alte Exzellenz würdevoll, »ich habe es ja gleich gesagt, an all dem Gerede war nichts!«

»Ach Gott, es wird so viel gesprochen«, seufzte die gefühlvolle Baronin. »Wer hat es denn eigentlich aufgebracht?«

»Antonie von Bohlen hat es mir heute geschrieben«, sagte eine der hübschen Komtessen Pausewitz, »doch ich sollte nicht darüber sprechen.«

»Aber so erzähle doch!« rief die Gräfinmutter, ärgerlich über diese Diskretion.

»Klaudine Gerold hat sich die Pulsader aufschneiden lassen, weil die Herzogin dem Verbluten nahe war, und da ist ihr Blut in die Adern der Herzogin geleitet worden«, berichtete die Komtesse. »Antonie schreibt, ohne das wäre die Herzogin gestorben. O Gott, o Gott, es ist schauderhaft, ich hätte es nicht gekonnt.«

»Himmel, wie schrecklich!« riefen sämtliche Damen.

»Wie mutvoll! Das ist Rasse!« sagte der kleine Offizier mit funkelnden Augen.

»Tausend Wetter, das ist zum Verlieben!« rief Seine Exzellenz und bekam dafür einen verweisenden Blick von seiner Frau Gemahlin.

»Sie sah wunderbar schön aus«, flüsterte der Schwermütige noch melancholischer als gewöhnlich. »Dieser beneidenswerte Gerold!«

»Er hat übrigens seinen Abschied eingereicht«, erzählte der Husarenoffizier, »er will seine Güter selbst bewirtschaften.«

»Was hast du noch, Lolo?« ermunterte die Gräfin ihre Tochter.

»Oh, sie hat so viele Brillanten bekommen«, erzählte eifrig die Komtesse, »und die alte Hoheit hat sie gepflegt wie eine Tochter und sie geherzt und geküßt.«

»Ah, reizend!«

»Wann sie wohl heiraten werden?«

»Sie leben jedenfalls im Winter in der Residenz.«

So ging es weiter. Im innersten Herzen gönnte keines dieser Klaudine das Glück, aber keines wagte, mit einem Wörtchen den Ruf von Baron Gerolds Braut anzutasten. Es rauschte so ganz anders jetzt in den Bäumen der Waldfrische, und die Damen beschlossen einmütig, der jungen Braut einen prachtvollen Blumenkorb zu spenden als ein Zeichen ihrer Dankbarkeit für die Rettung der geliebten Herzogin.

Indessen war das Brautpaar vor dem Eulenhause angelangt. Gärtchen und Gebäude lagen friedlich im Abendsonnenschein und die durchbrochenen Rosetten der Klosterruine schimmerten rosig angehaucht. Klaudines schönes Gesicht ward plötzlich von einer peinvollen Angst belebt. Dort war ja die alte, rundbogige Haustür bekränzt mit Girlanden aus Spargelkraut und Rosen!

»Lothar«, flüsterte sie und berührte leicht seinen Arm beim Aussteigen, »ich bitte, nein, ich verlange von Ihnen – kehren Sie heim mit Beate, ich will Joachim erst vorbereiten. Ich kann hier nicht Komödie spielen, es geht über meine Kräfte.«

Er kämpfte sichtlich mit einem Entschluß, aber ein Blick in die verzweifelten blauen Augen hieß ihn nachgeben. Er erwiderte kein Wort, er wandte sich nur und bat Beate, sitzen zu bleiben. Bis zur Haustür, wo die kleine Elisabeth ihr jubelnd entgegenlief, begleitete er sie und küßte ihr die widerstrebende Hand.

»Wann wünschen Sie den Wagen nach Altenstein, heute abend?« sagte er. »Sie gestatten selbstredend, daß ich Sie hinüberbegleite?«

Sie drehte sich eben in der Haustür um und nickte Beate abschiednehmend zu.

»Ich danke Ihnen, Lothar«, klang es nun leise, aber bestimmt, »ich kehre nicht nach Altenstein zurück, ich bleibe hier. Ich werde die Herzogin hiervon benachrichtigen. Sie glauben es nicht?« fuhr sie müde lächelnd fort, »ich versichere Sie, ich habe tatsächlich nicht die Kräfte zu diesem Spiel. Ich versuchte ja heute tapfer meine Pflicht zu tun, nicht wahr? Haben Sie Mitleid mit mir!«

Sie neigte ernst den Kopf und ging ins Haus.

Fräulein Lindenmeyer kam ihr entgegen. Die Alte fiel in freundlicher Hast beinahe über ihre Stubenschwelle. Sie hatte die rotbebänderte Haube auf und breitete beide Arme aus.

»Ach, gnädiges Fräulein, welch ein Glück!« rief sie weinend vor Freude. »O, wir wissen es schon, wir wissen es! Des alten Heinemann Enkelin war da, sie hat es brühwarm hergebracht. Warum kommt der Herr Bräutigam nicht mit?«

Klaudine mußte sich umarmen und küssen lassen, dem herbeigeeilten Heinemann die Hände schütteln und Idas Glückwünsche entgegennehmen. Ganz betäubt stieg sie endlich die Treppe empor. Wie schwer war doch dies alles!

Joachim sah von seinem Hefte auf, als sie eintrat. Er brauchte erst ein paar Sekunden, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. Dann sprang er auf, trat rasch zu ihr und hob ihren Kopf in die Höhe. »Meine tapfere kleine Schwester – und als Braut? Sieh mich an, mein Liebling«, bat er.

Aber sie hob die Wimpern nicht, von denen jetzt große Tropfen fielen. »Ach Joachim, Joachim!« schluchzte sie.

Er streichelte ihr über das weiche seidige Haar.

»Weine nicht«, sagte er, »sprich lieber, was haben sie dir getan da draußen?«

Und da brach er los, der Sturm der Verzweiflung, schrankenlos, unaufhaltsam. Sie schonte sich nicht, sie verhehlte, bemäntelte nichts von der Demütigung, die erbarmungslos über sie gekommen war, gegen die ihr Stolz sich ohnmächtig auflehnte. »Und Joachim«, schluchzte sie wild auf, »das schrecklichste ist, daß ich ihn liebe, liebe, wie nur ein Mädchen lieben kann, seit Jahren schon! An dem Tage, da er neben Prinzeß Katharine am Altar stand, habe ich gemeint, ich könne nicht weiterleben, und jetzt wirft mir das Schicksal hohnlachend das ersehnte Glück in den Schoß und sagt: »Da – aber behutsam! Es ist nur Goldschaum, der darauf klebt, es ist nicht echt. Da hast du, um was du gebetet und geweint hast, jahrelang!« – Glaube mir, er hat mich an sich genommen, so etwa wie er das Silbergeschirr auf der Versteigerung erstand, um jeden Preis, weil er lieber sterben würde, ehe er duldete, daß an dem Namen Gerold ein Makel haftet. Er hat mich an sich gezogen – der Familienehre halber, um weiter nichts, nichts!«

Sie schwieg erschöpft, aber das bittere leidenschaftliche Schluchzen dauerte fort.

Joachim antwortete nicht. Noch immer lag seine Hand auf ihrem blonden Haar. Endlich sagte er mild: »Und wenn er dich doch liebte?«

Sie stand plötzlich auf den Füßen.

»O mein Gott!« sprach sie, und auf ihrem verweinten Gesicht drückte sich etwas wie Mitleid aus. »Nein, du argloser guter Mensch, er liebt mich nicht!«

»Aber wenn er es doch täte! Er ist niemals einer von denen gewesen, die Gefühle zu heucheln verstanden. Du weißt, er hätte sich von je lieber die Zunge abgebissen, ehe er ein unwahres Wort redete. Immer war er so, Klaudine.«

»Ja, gottlob!« rief sie flammend und richtete sich hoch auf, »das hat er auch nicht gewagt! Du denkst, Lothar hätte um mich geworben mit Liebesheucheln? O nein, unwahr ist er nicht. Und als ich ihm die Komödie vorschlug, da fiel es ihm nicht ein, zu beteuern, daß er etwa sehr betrübt sein werde, wenn wir uns später trennen. Nein, ehrlich ist er – bis zum Verletzen ehrlich!« Sie schien sich plötzlich zu fassen. »Du Armer«, sagte sie weich, indem sie des Bruders Hand ergriff, »so störe ich deine Arbeit mit meinen bösen Nachrichten. Ertrage mich, Joachim, ich werde ruhiger werden, ich will nun wieder dein Hausmütterchen sein, dein guter Kamerad. Daß ich doch nie hinausgegangen wäre! Und allmählich werde ich alles, alles überwinden, Joachim!«

Sie küßte ihn auf die Stirn und ging in ihr Stübchen, dessen Tür sie hinter sich verriegelte.

Wie frisches kühles Quellwasser wirkte die Ruhe dieses eigenen kleinen Heims auf ihre Seele. Sie ging von Möbel zu Möbel, als müsse sie jedes einzelne begrüßen, und stand endlich still vor dem Bilde der Großmutter.

»Du warst eine so kluge alte Frau«, flüsterte sie, »und welch törichte Enkelin hast du erzogen! Sie bezahlt die zu spät erworbene Klugheit mit ihrem Lebensglück!«

Dann legte sie mühsam das Spitzenkleid ab, hüllte sich in ein einfaches graues Hauskleid, setzte sich still ans Fenster in den alten Lehnstuhl und schaute in den dämmerigen Abend hinaus.

Unten in der Wohnstube schlich inzwischen die kleine Elisabeth betrübt um den freundlich gedeckten Tisch, er sah doch schön aus mit der rosengefüllten Porzellanschale in der Mitte, den kunstvoll gebrochenen Servietten und den rosenumkränzten Stühlen für das Brautpaar. Und gar der schöne Kuchen, von Ida selbst gebacken! Der dicken Wachspuppe hatte die Kleine ein neues blaues Kleid angezogen. Wo blieben sie denn nur alle so lange?

 

Sie lief hinunter in Fräulein Lindenmeyers Stube. »Wann ist denn endlich Hochzeit?« fragte sie ungeduldig. Sie hatte gemeint, die festliche Vorbereitung bedeute schon die Hochzeit.

»Ach, mein Liebling«, seufzte das alte Fräulein und sah kopfschüttelnd zu Ida hinüber.

War das auch ein Brautpaar, das am ersten Verlobungstage nicht einmal zusammenblieb? Oder sollte das eine neue Mode sein? Zu ihrer Zeit war das anders gewesen, da mochte man sich gar nicht trennen und saß beieinander und sah sich in die Augen. Sie seufzte.

»Räume ab, Ida«, flüsterte sie, »die Wespen kommen in die Stube nach dem Kuchen, er wird nur trocken. Ach, unsere duftigen Kränze! Das ist das Los des Schönen auf der Erde! Ida, Ida, mir ist ganz unheimlich zumute!«

»Elisabeth möchte Kuchen haben«, sagte die Kleine und trippelte hinter dem Mädchen hinaus.

27

Der erste Schnee in den Bergen! Dort oben fällt er früh. In der Ebene fliegen vielleicht noch die Sommerfäden, da flimmert und stiebt es schon hier oben und liegt duftig weiß und glitzernd auf den Tannen. Dann ist es behaglich in den Häusern der Menschen, die großen Kachelöfen tun ihre Schuldigkeit und die Fenster sind mit grünem Moos umkränzt, daß der kalte Wind keine noch so kleine Öffnung findet, ins Innere zu dringen. Köstlich ist es dann besonders abends, wenn die Lampe über dem Tische schaukelt und ihr Licht auf spiegelndes Teegerät fällt.

Aber so heimlich warm, so wohnlich, so altväterlich behaglich war es doch nirgends in dem ganzen Gebirge, wie in der Wohnstube des Neuhäuser Schlosses. Draußen flimmerte und stiebte es, hier innen brannte die Lampe auf der Platte des altmodischen Schreibtisches.

Beate schrieb:

»Also, dies wären die Wirtschaftsfragen gewesen, Lothar, jetzt zu den Herzensangelegenheiten! Ich war vorhin im Eulenhause und traf Klaudine in der Wohnstube, sie gab der kleinen Elisabeth Unterricht. Ich möchte Dir ja gern etwas besonders gutes schreiben diesmal, aber es ist immer das nämliche. Sie spricht nie von Dir, und wenn ich davon anfange, so erhalte ich keine Antwort, wenigstens keine, die mich befriedigt. Sie zeigt nur ein Interesse, und zwar das an dem Befinden der Herzogin. Sie lebt wie eine Nonne und sieht bleich aus zum Erbarmen, ihre einzige Abwechslung sind stundenlange einsame Spaziergänge. Joachim, der Egoist, scheint es nicht zu bemerken oder will es nicht sehen. Ich habe ihm aber heute den Star gestochen. Er brachte gerade wieder ein dickes Manuskript, das Klaudine abschreiben sollte, ich nahm es ihr vor der Nase weg und sagte: »Wenn Sie erlauben, besorge ich das, Sie überbürden ja das arme Mädchen« – Du weißt, sie hat die Ida abgeschafft und tut alles allein, kocht, näht und plättet, und nicht etwa schlecht! Da soll sie nun neben den Haushaltungsgeschäften noch wie ein Bogenschreiber fronen und ihre Augen vollends verderben. Als ob die nicht vom Weinen genug gelitten hätten!

Weiß Gott, man sieht sie ja kaum anders, als mit eigentümlich geröteten Augenlidern, wenn sie auch zehnmal auf meine Frage: »Hast du geweint?« antwortet: »Ich? Weshalb sollte ich denn weinen?«

Joachim sah mich ganz erstaunt an, er hat mir nicht zu widersprechen gewagt, es hätte ihm auch nichts geholfen, denn er ist einer von denen, die man mittels Energie gefügsam machen muß.

Aber verzeihe, ich schreibe so lange von Joachim, und Du willst von Klaudine hören. Du hast mich gefragt, ob sie den Verlobungsring trägt. Es tut Dir gewiß weh, aber lügen kann ich einmal nicht, Lothar – der goldene Reif fehlt an ihrer Hand. Ich fragte sie darum, da wurde sie verlegen und antwortete nicht. Sie hat einen so herben Zug um den Mund, es schmerzt mich, sie anzusehen. Du hättest wohl anders um sie werben sollen, aber freilich, wie die Sachen lagen —

Manchmal denke ich, sie hat vielleicht doch den Herzog – Nein, nein, Lothar, ich will dich nicht ängstigen, ich bin so dumm in solchen Dingen, ich weiß ja nicht, was zwischen euch steht, und ich will mich nicht in euer Geheimnis drängen. Gott gebe, daß sich diese Wolken verziehen! Aber eines weiß ich, wenn sie sich nicht bald verziehen, so werdet ihr sterbensunglücklich. Zuweilen packt es mich, ich möchte dann eintreten und fragen: Liebt ihr euch, oder liebt ihr euch nicht, was? Aber Du hast es ja verboten.

Frau von Katzenstein schrieb neulich an Klaudine, daß Prinzeß Helene bei der Herzogin in Cannes sei, sie soll sich fast aufopfern und mit unermüdlicher Geduld um die Kranke sein. Auch die Herzogin lobt sie in ihren Briefen an Klaudine. Ihre Hoheit schreibt fast täglich, und Klaudine antwortet pünktlich, aber die Korrespondenz scheint ihr keine Freude zu machen. Die hohe Frau erkundigt sich nämlich in jedem Briefe: »Wann ist Deine Hochzeit, Klaudine? Warum schreibst Du nichts von Deinem Bräutigam, von Deinem Glück?« Und zuweilen liegt eine Orangenblüte zwischen den Blättern. Was Klaudine antwortet, weiß ich nicht, vermute aber aus der immer wiederkehrenden Frage, daß sie gar nichts darauf erwidert.

Herrgott, ist das ein langer Brief geworden! Und ich will noch mehr schreiben heute, ich beginne nämlich Joachims Manuskript zu kopieren. Ich habe schon darin geblättert, es ist das zweite Heft der spanischen »Reiseerinnerungen«.

Was willst Du sonst noch wissen, Lothar? Frage nur, ich antworte aufrichtig. Laß Dir die Zeit auf Deinem einsamen Schlosse in Sachsen nicht allzu lang werden. Gott gebe im Befinden der Herzogin einen erfreulichen Fortgang! Die arme Kranke, sie soll so unruhig sein, so große Sehnsucht haben nach ihrer deutschen Heimat und nach den Kindern. Gestern schickte sie Rosen an Klaudine. Vor mir duftet eine der armen weitgereisten Blüten im Wasserglase und schaut verwundert in das Schneetreiben vor den Fenstern. Es wogt und tanzt ganz unermüdlich in der farblosen Dämmerung des beginnenden Abends. Ich lege Dir eine Locke bei von unserer Kleinen.

Prinzeß Thekla hat in der Tat Frau von Berg bei sich, weißt Du das? Und wußtest Du, daß der Herzog Herrn von Palmer nicht mit nach Cannes nahm? Es ist auffallend, er konnte sonst nicht ohne ihn sein.«

Sie adressierte den Brief und stand eben im Begriff, nach dem Kinderzimmer zu gehen – es war die Zeit, wo die Kleine ihr Abendsüppchen verspeiste, – da ward ihr Heinemann gemeldet.

»Nun«, fragte sie, als der Alte eintrat, »was ist bei euch passiert?«

»Gott sei gepriesen, nichts! Aber wir haben ein Telegramm bekommen, das gnädige Fräulein muß noch mit dem Nachtzuge fort. Sie läßt Fräulein von Gerold um einen Schlitten bitten, der sie nach der Bahn fahren kann.«

Beate befahl in aller Seelenruhe das Anspannen und schenkte eigenhändig dem Alten ein Gläschen Branntwein ein.

»Ich werde mitfahren«, sagte sie, »und Sie können hinten aufsitzen.«

»Ja, darum ließ das gnädige Fräulein auch herzlich bitten, ich hatte es vergessen«, murmelte der Alte.

Beate fuhr nach kaum einer Viertelstunde in den schnee- hellen Wald hinaus. Was in aller Welt mochte geschehen sein?

Das Eulenhaus hob sich grau aus den verschneiten Tannen und rötlich schimmerten die erhellten Fenster in die Nacht. Fräulein Lindenmeyer kam ihr im Hausflur entgegen. Sie sah beängstigend feierlich aus und ihre Augen schwammen in Tränen. Sie hatte die Hände gefaltet und flüsterte der erschreckten Beate zu: »Mit der Herzogin geht es zu Ende!«

Beate flog die Treppe empor nach Klaudines Zimmer. Die packte eben eilig ein Köfferchen. Sie wandte ihr ein trübes Antlitz zu.

»Um des Himmels willen«, rief die Eintretende, »du reisest nach Cannes?«

»O nein«, erwiderte Klaudine, »nur nach der Residenz. Die Herzogin will zu Hause sterben.«

Und sie legte die Hände vor das vergrämte Gesicht und weinte.

»Sie bringen sie zurück? Ach Gott! Meine gute Klaudine, weine nicht, liebe, einzige Klaudine, du mußtest ja doch wissen, daß es nur eine Frist sein konnte, dieses scheinbare Besserwerden!«

»Da die Depesche von Frau von Katzenstein, Beate, die Herzogin erwartet, mich in der Residenz zu finden. Morgen abend kommen sie an. Die Depesche ist schon aus Marseille. Ich wollte dich bitten, Beate, sieh zuweilen nach der Kleinen«, fuhr Klaudine fort, »Joachim ist so in der Arbeit und Fräulein Lindenmeyer zuweilen schon recht vergeßlich. Ich hatte gedacht, an Ida zu schreiben, aber die Lindenmeyer erzählte mir, sie habe schon eine Stelle angenommen.«

»Was redest du denn so lange darum?« sagte Beate und half der Cousine den Mantel anziehen, »das ist doch selbstverständlich. Mach dich gut warm, und —«

»Aber laß das Kind hier im Eulenhause«, unterbrach Klaudine sie, »Joachim ist es gewöhnt, daß Elisabeth in der Dämmerung heraufkommt und auf seinen Knien sitzt und sich Märchen erzählen läßt.«

»Versteht sich«, erwiderte Beate. »Aber, was ich sagen wollte, Klaudine«, – sie stockte – »vergiß den Verlobungsring nicht.«

Klaudine wandte sich erschreckt um. »O ja, du hast recht«, sagte sie traurig und suchte den Ring aus einem kleinen Kästchen hervor.

Fräulein Lindenmeyer stand weinend neben Beate im Hausflur, während Klaudine von Joachim Abschied nahm.

»Ach Gott, so jung noch und schon sterben müssen!« schluchzte das alte Fräulein, »von Mann und Kindern fort, und so weit da draußen in der Welt! Gott gebe es, daß sie noch lebend die Heimat erreiche!«

»Gott gebe es!« wiederholte wie unbewußt Klaudine und fuhr neben Beate in die Schneenacht hinaus. Beate ließ es sich nicht nehmen, ihre Cousine bis an den Zug zu geleiten, und als die erleuchtete Wagenreihe in der Nacht verschwunden war, fuhr sie mit ernsten Gedanken heim. Die Schlittenglocken klingelten seltsam feierlich im Walde, es war so lautlos still ringsumher. Sie dachte an den Schnellzug, der durch das Land jagte und die kranke Herzogin mit sich führte. Und sie dachte an Klaudines Weinen. Welch Wiedersehen zwischen den beiden!

Auch Klaudine dachte an ihre fürstliche Freundin, als sie so ganz allein dahinfuhr. Es reist sich schrecklich mit solchem Ziel. Düster stand die Zukunft vor des Mädchens Seele, düsterer als die Nacht da draußen.

Sie hatte zunächst nur eine kleine Strecke zu fahren, dann aber in Wehrburg zwei Stunden Aufenthalt. Da schimmerten schon die Lichter von Wehrburg, der Zug fuhr langsamer und hielt endlich. Sie stieg aus und ging durch die zugige erleuchtete Halle nach dem Wartesaai Sie hob den Schleier nicht, als sie eintrat, und nahm still in einer Ecke Platz.

Nicht weit von ihr saßen flüsternd ein Herr und eine Dame, die letztere gleich ihr unkenntlich durch einen dichten Schleier, nur die Bewegung des Kopfes schien Klaudine bekannt. Von dem Herrn hatte sie bis jetzt nur das stark angegraute, kurz gehaltene Haar gesehen. Er trug einen kostbaren Pelz, sein Hut lag neben ihm. Er beugte sich über ein Kursbuch, und wenn er eine Seite umschlug, so zuckte das Leuchten eines großen Brillanten zu ihr herüber. Es ist ein trauriger Aufenthalt während einer Winternacht in einem schlecht geheizten und schlecht beleuchteten Wartesaal. Unwillkürlich beobachtet man seine Leidensgefährten und überlegt: Was mögen die vorhaben, wohin reisen sie, welche Bande verknüpfen sie untereinander? Ist es ein Ehepaar? Sind es Vater und Tochter?

Klaudine in ihren trüben Gedanken starrte ebenfalls auf das einzige Paar Menschen, das, außer dem schlaftrunkenen Kellner, den Raum mit ihr teilte. Die Dame sprach leise und eifrig, ihr Kopf war dicht zu dem Herrn geneigt. Dieser rückte fast ungeduldig auf dem Stuhle hin und her.

»Unsinn!« hörte Klaudine ihn jetzt in französischer Sprache sagen, »ich habe es tausendmal erklärt, ich gehe bis Frankfurt und komme dann zurück.«

»Ich glaube Ihnen nicht«, flüsterte die Dame heftig, »es bleibt bei dem, was ich gesagt habe – betrügen Sie mich, so wissen Sie, wie ich mich rächen werde.«

»Nun, das würde Ihnen auch nicht zum Heil gereichen, meine Beste!«

»Das tut dann auch nichts mehr«, erklärte sie lauter, als es ihre Absicht sein mochte, und ihre kleine Hand schlug, zur Faust geballt, auf den Tisch. Besänftigend legte der Herr seine Rechte darüber und sah sich erschreckt um.

Klaudines Schleier war so dicht, er verbarg völlig ihre Züge und ihre erstaunten Augen. Das war ja, mein Gott, das war Herr von Palmer, und, natürlich, so zischte nur Frau von Berg, wenn sie gereizt wurde. Das war ihr üppiges Haar, ihre volle Gestalt. Was in aller Welt —?

»Ich bitte dich«, sagte er jetzt schmeichelnd, »was sollte ich ohne dich da draußen? Sei doch vernünftig und erfülle meine Bitte!«

 

Eben brauste ein Zug in den Bahnhof, nun ertönte die Glocke und der Beamte rief in das Zimmer: »Einsteigen in der Richtung nach Frankfurt am Main!«

Eilig erhob sich Herr von Palmer. »Bleibe hier«, sagte er heftig.

»Ich werde mir doch nicht nehmen lassen, Sie bis an den Zug zu geleiten«, erwiderte sie höhnisch. »Wer weiß, wie lange ich Ihre Gegenwart entbehren muß«!

Er antwortete nicht und stürmte hinaus, die Dame rauschte hinterdrein.

Klaudine erhob sich unwillkürlich und trat ans Fenster. Sie sah Palmer eilig in ein Abteil erster Klasse verschwinden. Die Dame stand davor, fest in ihren Pelz gewickelt. Dann setzte sich der Zug in Bewegung und die Zurückbleibende kam wieder ins Wartezimmer. Sie sah einen Augenblick die verschleierte Klaudine scharf an, dann schlug sie den Schleier zurück und bestellte sich Tee und Zeitungen.

Richtig, dieser Seidenflor hatte das geschminkte Gesicht ihrer Feindin verhüllt.

Herr von Palmer mochte wohl den Herrschaften entgegenreisen, was aber veranlaßte die schöne Frau zu Besorgnissen?

Und endlich kam ihr Zug. Klaudine wartete ab, welches Abteil Frau von Berg nehmen würde, es waren nur zwei erster Klasse im Zuge. In das eine stieg Frau von Berg, so schritt sie auf das andere zu, das der Schaffner ihr sofort öffnete. Einen Augenblick überlegte sie noch. Dort saß ein Herr – sollte sie zweiter Klasse fahren?«

»Ist das Nichtraucherabteil zweiter Klasse frei?« fragte sie.

»Nein, es sind fünf Herren drinnen und eine Dame, und im Frauenabteil eine Familie mit Kindern.«

Sie stieg ein und nahm am Fenster Platz. Der Herr dort in der Ecke schlief, es war nichts von ihm zu sehen, als Mütze und Pelz und eine dunkelviolette Reisedecke. Nun, lange dauerte ja die Fahrt nicht mehr, zwei Stunden höchstens. Sie legte den blonden Kopf mit dem dunklen Pelzmützchen an die Kissen, sie war so müde, aber die rastlos weiterarbeitenden traurigen Gedanken ließen sie nicht schlafen. Die Herzogin würde sterben, dann hatte sie ein treues Herz verloren und ihre Freiheit gewonnen. Sobald am Begräbnistage die letzte Fackel gelöscht war, würde sie Lothar den Ring in die Hand legen und aufatmen. Ihre Brust hob sich, aber schon der Gedanke an dieses Aufatmen tat ihr weh. Ach, das Leben, das dann kommen würde! So farblos, so einförmig, das Leben eines armen adligen Fräuleins, das allmählich zur einsilbigen alten Jungfer wird. Und wenn Joachim sich nun wieder verheiratete? Wenn zu all der Freudlosigkeit auch noch das Bewußtsein des Überflüssigseins käme? Wenn dereinst Beate einem Mann folgte, fort aus dem stillen Paulinental? Ach nein, Joachim blieb ihr, mußte ihr bleiben. Wie sollte er in seiner Zurückgezogenheit, in seinem arbeitsvollen Dasein Zeit finden, um zu freien? Joachim blieb ihr und sein Kind. Sündhafte Mutlosigkeit war es, so zu denken. Sie hatte noch so viel, viel mehr als andere!

Sie setzte sich hoch, kerzengerade, und sah auf die flimmernden Eisblumen der gefrorenen Fensterscheiben. Dann zuckte sie tödlich erschreckt zusammen. In dem Rollen und Kreischen des Zuges, der eben kurz vor einer Haltestelle gebremst wurde, hatte sie nicht gehört, daß der Herr dort aufgestanden und herübergekommen war. Erst als sie fühlte, daß etwas ihren Mantel streifte, hatte sie aufgesehen – vor ihr saß Lothar.

»Also wirklich?« klang es herzlich. »Trotz des Schleiers erkannt! Aber, was spreche ich denn? Es gibt ja nur einmal dieses goldige Haar. Und Sie wollen auch nach der Residenz?« Es lag ein Ausdruck freudigster Überraschung in seinen Zügen. Unwillkürlich hatte seine Rechte gezuckt, als wollte sie eine dargebotene Hand erfassen.

Klaudine saß da, wie versteinert. Sie hatte sich merkwürdig rasch gefaßt.

»Ja«, erwiderte sie kurz, die Hand übersehend. Sie hielt die beiden ihrigen ineinandergeschlungen im Muff, als wollten sie sich gegenseitig festhalten. »Der Kammerherr von Schlotbach telegraphierte mir, daß die Herrschaften morgen eintreffen, und da habe ich mich gleich aufgemacht.«

»Aber, sagen Sie, wie geht’s im Paulinental?« fragte er dann.

»Gut!« antwortete sie.

»Und meine Kleine?«

»Sie ist gesund, glaube ich.«

»Glauben Sie?« fragte er mit bitterer Betonung.

Eine Weile schwiegen beide. Der Zug hielt. Draußen knirschte der Schnee unter schweren Männertritten, irgendeine Tür wurde zugeschlagen, dann läutete die Glocke und schrillte die Pfeife und weiter rollte die Wagenreihe.

»Klaudine«, begann er zögernd, »ich habe vorgestern an Sie geschrieben. Der Brief wird heute früh im Eulenhause anlangen —«

Sie neigte flüchtig den Kopf, ohne ihn anzusehen.

»Ich war in einer furchtbaren Stimmung«, fuhr er fort, »stellen Sie sich vor, wie ich in dem alten, spärlich eingerichteten Schlosse hause, zwei Stunden von der nächsten Stadt, völlig eingeschneit. Ich bin vielleicht, naß wie eine Made, eben von einem Pirschgange zurückgekehrt, sitze neben einem rauchigen Kamine, der kaum wärmt, der Schneesturm tobt vor den Fenstern, und so allein bin ich, so furchtbar allein in dem öden Gebäude! Dazu habe ich dann zuweilen förmliche Visionen. Ich sehe die Neuhäuser Wohnstube, sehe meine Kleine drinnen spielen, höre ihr Jauchzen und meine ordentlich den Geruch von Bratäpfeln zu spüren, die um diese Jahreszeit nie in der Röhre des Kachelofens fehlen.« Er stockte einen Augenblick. »Und da denke ich, mein Gott, wozu sitzest du eigentlich hier in so trübseligen Gedanken? In einem solchen Augenblick stand ich vorgestern auf, holte meine Schreibmappe und schrieb, um Sie auf der Stelle zu fragen, ob —«

Sie fiel ihm fast heftig ins Wort.

»Weshalb fragen? Ich kann Sie nicht zwingen, Ihr Versprechen zu halten, habe auch wahrhaftig niemals verlangt, daß Sie nach Schloß ›Stein‹ gehen. Sie wußten ja sonst Berlin und Wien zu finden, oder Paris oder irgendeine große Stadt noch weiter entfernt.«

Er hatte sie ausreden lassen.

»Ich wollte Sie in dem Briefe fragen«, sprach er ruhig weiter, »soll denn die Komödie noch kein Ende nehmen, Klaudine? Es ist doch frevelhaft —«

Sie fuhr empor. Sprach er im Ernst?

»Das sagen Sie mir jetzt?« rief sie empört, »jetzt, wo die Entscheidung so nahe ist? Die Arme lebt vielleicht keine vierundzwanzig Stunden mehr! Haben Sie es so eilig, Ihre Freiheit wiederzuerlangen?«

»Sie sind sehr verbittert, Klaudine!« erwiderte er unwillig und doch klang es wie Mitleid aus seiner Stimme. »Aber Sie haben recht, angesichts der traurigen Tage, denen wir entgegengehen, sollte man nicht von diesen Dingen sprechen. Indessen —«

»Nein, nein! Sprechen Sie nicht davon!« pflichtete sie ihm aufatmend bei.

»Indessen kann ich nicht anders«, fuhr er unerbittlich fort. »Das neueste ist nämlich, daß Ihre Hoheit sich direkt an mich wandte.« Er nahm seine Brieftasche heraus und reichte ihr ein Schreiben. »Es ist besser, Sie lesen selbst.«

Klaudine machte eine abwehrende Bewegung.

»Es ist ein eigenhändiges Schreiben der Herzogin«, betonte er, ohne das Briefblatt zurückzuziehen, »die arme Frau verbittert sich ihre letzten Tage mit Sorgen. Wenn Sie gestatten, Cousine, lese ich es Ihnen vor.«

Und das blasse Mädchengesicht kaum mit dem Blicke streifend, begann er:

»Mein lieber Baron! Diese Zeilen schreibt Ihnen, nach langem innerem Kampf, eine Sterbende und bittet Sie, ihr nach Möglichkeit in einer überaus zarten Angelegenheit zu helfen.

Sagen Sie mir die Wahrheit auf eine Frage, deren Indiskretion Sie mir, die ich bald nicht mehr unter den Lebenden sein werde, verzeihen wollen. Lieben Sie Ihre Cousine? Wenn es nur ein Akt der Klugheit und Großmut war, ihre Hand zu erbitten, dann, Baron, geben Sie dem Mädchen die Freiheit zurück und seien Sie überzeugt, daß Sie dadurch die Zukunft zweier Menschen, die mir über alles teuer sind, glücklich gestalten werden.

Elisabeth.«

Die blauen Augen Klaudines starrten wie verzweifelt auf das kleine Briefblatt. Barmherziger Gott, was sollte das sein? War die Herzogin noch immer in dem alten schrecklichen Wahn, daß ihr Gatte sie liebe oder sie ihn? Oder hatte Prinzeß Helene sich ihr anvertraut, und die Herzogin wollte vermitteln zwischen Lothar und ihr?