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Benno Stehkragen

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Durch die Stille brach das Rattern eines nahen Eisenbahnzuges und lenkte Bennos Gedanken wieder vom Himmel auf die Erde.

Er hatte nun den Wald betreten, und Dunkel umfing ihn. Die Baumkronen standen so dicht, als schmiegten sie sich furchtsam aneinander, die Büsche und Sträucher verschwammen zu einer Nebelmauer.

Benno ging, wohin ihn der Weg führte; er hatte kein bestimmtes Ziel. Die Stille, die Finsternis taten ihm so wohl, es ließ sich dabei so schmerzlich-süß träumen.

Tönte da nicht Musik? Nein, das Rauschen eines Bächleins war es, und er wußte sogleich: Das war das Königsbrünnchen.

Er sah es in Gedanken vor sich, wie er es so oft bei Tage gesehen hatte, er sah die Quelle über die vom Eisengehalt des Wassers geröteten Felsbrocken sprudeln, und er bedachte:

Wenn ich jetzt an dem Königsbrünnchen säß’ – mit einer großen Angel – und einem Regenwürmchen vorn dran – weil die Fische auf einen leeren Angelhaken nicht anbeißen – (so dumm sind nur die Menschen) – und ich tät’ nix fangen – weil’s in dem Königsbrünnchen überhaupt keine Fische gibt – sondern es ging’ mir wie dem Fischer von Goethe – und die Flut tät’ sich plötzlich teilen, und es käm’ eine von den Wassernixen hervor – die’s in dem Königsbrünnchen auch nicht gibt – und die Wassernix’ tät’ sagen: »Schöner Jüngling,« tät’ se sagen – »legen Se ab und kommen Se herein« – und dabei tät’ se schmeichelnd ihren weichen Nixenarm um meinen Hals legen – und küßt’ mich – und ich wehr’ mich nicht, denn warum auch? – und plötzlich fällt der Mondstrahl gerad auf ihr Gesicht – und es ist die Martha Böhle – und …

Und plötzlich schlug Benno Stehkragen die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich.

Es war spät in der Nacht, als er heimkehrte, und ein starker Entschluß war in ihm gereift: Er wollte sich Martha offenbaren, er wollte ihr sagen, daß er ihr Sklave sei für alle Zeit, und daß sie ihn erhöhen oder vernichten müsse.

Er hatte den Hausschlüssel vergessen und mußte deshalb seine Wirtin aus dem Schlaf schellen.

In einem flanellenen Unterrock kam Frau Petterich, einen Fünfminutenbrenner in der Hand, gewichtigen Schrittes die Treppe herunter.

»Schonn dahaam?« frug sie bösgelaunt über die Störung. »Sie war’n wohl beim Ebbelwei?«

»Ja, ich war beim Äpfelwein,« log Benno.

»So? Des nächstemal iwwernachte Se nor aach gleich im Wertshaus! Odder maane Se, ich habb Lust unn bild’ mich wege Ihne zum Nachtwächter aus?«

Schuldbewußt stieg Benno hinter ihr die Treppe empor.

Auf der fünfzehnten Stufe versagte der Fünfminutenbrenner, und Frau Petterich schrie, indem sie einen neuen in Brand setzte: »Jetz verbrenn’ ich merr aach noch wege Ihne die Pfote!«

Unheilvoll schweigend legte sie den Rest der Treppe zurück, unheilvoll schweigend zündete sie ihm seine Petroleumlampe an. Sie hatte noch einige kräftige Worte auf der Zunge – ach, es war ja so lange her, daß sie keine Gardinenpredigt mehr hatte halten können – aber als sie Bennos klägliche Miene sah, überkam sie wieder das Mitleid.

»Sie wer’n immer reifer zum Heierate: sogar unbünktlich haamkomme dhun Se schonn! No, die Käsbergerin werd Ihne schonn ziehe!« sagte sie und verabschiedete sich mit einem energischen »Gu’n Nacht, Herr Nachtschwärmer!«

Benno hörte sie in ihrem Zimmer noch eine kurze Weile rumoren, vernahm noch ihre Worte: »Schlaf nor, Marieche, es war nor der Herr Käsberger« – dann ward es stille.

Wenige Minuten später lag er selbst im Bett. Aber er konnte nicht einschlafen.

Er wälzte sich auf die rechte Seite, starrte in das Licht der Petroleumlampe und stöhnte: »Ich lieb’ se, ich lieb’ se, ich bin verrückt, es hat noch nie einen so meschuggenen Menschen gegeben wie mich – aber ich lieb’ se!

Und ich muß es ihr sagen.

Aber wie? Ich kann ihr doch nicht im Bureau eine Liebeserklärung machen? Ich kann doch nicht mitten auf der Kaiserstraß’ vor sie hinknien und einen Volksauflauf verursachen?

Soll ich vielleicht einmal mit ihr ins Kino gehen? Und wenn’s dunkel wird, und auf der Leinwand küßt sich gerade ein Liebespaar – es wird nirgends auf der Welt so viel geküßt wie auf einer Kinoleinwand – , dann nehm’ ich sacht ihr Händchen und streichel’s und flüstre – ja, wenn ich nur wüßt’, was man bei solchen Gelegenheiten flüstert!«

Er wälzte sich auf die linke Seite.

»Ist die Menschheit nicht närrisch? Weshalb nimmt man nicht einfach das Mädchen, das man liebt, beim Arm und packt se in eine Droschke und fährt se nach dem Standesamt und zieht dort seinen Füllfederhalter heraus, unterschreibt, fährt heim und is verheiratet? Weshalb muß man vorher erst eine Liebeserklärung loslassen und Sonne, Mond und Sterne beschwören und sich die Zunge aus dem Hals und die Vernunft aus dem Kopf stammeln? Weshalb genügt es nicht, daß man fühlt? Weshalb muß man die Gefühle auch noch in überschwengliches Deutsch bringen?«

Benno wälzte sich auf die rechte Seite.

»Überhaupt, will ich sie denn heiraten? So weit sind wir doch noch gar nicht. Weiß ich denn, ob sie mich wiederliebt? Vielleicht sagt se: ›Herr Stehkragen, Sie sind noch zu jung zum Heiraten! Und Sie essen gern Apfelschalet, den ich nicht ausstehen kann, und ich ess’ gern Grünekernsupp’, vor der’s Ihnen graust – Herr Stehkragen, das wird keine glückliche Ehe!‹

Nein, vom Heiraten will ich ihr noch nicht sprechen. Nur meine Liebe will ich ihr mitteilen. Aber wie, aber wie?«

Benno wälzte sich auf die linke Seite.

»Wenn mir’s nur einer vormachen wollte! Natürlich nicht bei der Martha. Es gibt doch Tanzstunden und Sprachstunden und Unterricht in der doppelten Buchführung, warum gibt es keinen Unterricht in einfacher Liebeserklärung?«

Und plötzlich kam ihm eine Erleuchtung.

Er sprang im Nachthemd aus dem Bett, eilte an seinen Bücherschrank und nahm einen Band Shakespeare heraus.

Er wollte in »Romeo und Julia« nachsehen, wie’s der Romeo gemacht hatte.

Den Band im Arm kroch er ins Bett zurück und blätterte krampfhaft.

Da, am Schluß des ersten Aktes, war eine passende Stelle:

 
»Entweihet meine Hand verwegen dich,
O Heil’genbild, so will ich’s lieblich büßen,
Zwei Pilger, neigen meine Lippen sich,
Den herben Druck im Kusse zu versüßen.«
 

Hm, ob Martha das verstehen würde? Es war ein bißchen hoch für ihre Verhältnisse. »Den herben Druck im Kusse zu versüßen.« Und gleich mit Küssen anfangen, nein, es ging nicht, es ging unmöglich. In Verona war man in solchen Dingen offenbar liberaler als in Frankfurt am Main.

Benno legte sich auf den Rücken und blätterte emsig weiter.

 
»Ich bin kein Steuermann, doch wärst du fern
Wie Ufer, die das fernste Meer bespült,
Ich wagte mich nach solchem Kleinod hin.«
 

Benno ließ aufstöhnend das Buch auf die Bettdecke sinken.

Alles sehr schön, wunderschön sogar, aber für seine Zwecke ganz unbrauchbar.

Vielleicht gab’s im Schiller ein besseres Rezept?

Er wollte abermals aus dem Bett springen, da machte die Lampe knacks.

Der Zylinder war geplatzt, nachdem die Lampe schon die ganze Zeit geblakt hatte.

Benno fuhr entsetzt auf, hob den Kopf nach dem Nachttisch und blies das Licht aus.

»Frau Petterich wird toben, wenn sie die kaputtene Lampe sieht,« ächzte er. Womöglich war der Zylinder auch ein Erbstück von ihrem Großvater? Und die ganze Bettdecke voll Ruß!

Seine Gedanken nahmen eine andere Richtung, er wälzte sich noch eine Weile fiebernd im Finstern, bis ihn die Müdigkeit überwältigte.

Morgens beim Erwachen fiel ihm ein, daß er heute abend ins Theater mußte. Er hatte es Katharine versprochen, die zum erstenmal eine kleine Solorolle singen durfte, die erste Brautjungfer im »Freischütz«.

Seit vierzehn Tagen übte sie nichts anderes mehr als »Wir winden dir den Jungfernkranz«.

Benno stand noch in Unterhosen, da brachte Frau Petterich den Kaffee. Er hatte wieder einmal das Klopfen überhört.

Schweigend stellte sie das Frühstück auf den Tisch, würdigte weder Benno noch die demolierte Petroleumlampe eines Blicks, schweigend entfernte sie sich.

Und als Benno fortging, ließ sie sich nicht sehen, sondern blieb, eine gekränkte Juno, in der Küche.

Mit gesenktem Kopf schlürfte Benno seinen Weg zur Industriebank. Und vergrämt sagte er sich: Du verlierst noch wegen deiner aussichtslosen Liebe die wenigen Freunde, die dich gern haben …

»Was gucken Sie mich denn so an?« frug Martha gereizt, als sie eines Vormittags an dem gemeinsamen Arbeitspult im Couponbureau Platz nahm.

»Ich guck’ Sie nicht an, ich guck’ in Sie!« gab Benno in ungewöhnlich scharfem Ton zurück.

Martha Böhle zupfte verärgert an der Perlenhalskette, die sie neuerdings trug, warf ihrem Gegenüber einen bösen Blick zu, den dieser mit mißachtendem Achselzucken aufnahm.

Die Kollegen im Couponbureau stießen sich heimlich an, die Beamtinnen kicherten.

Benno grollte. Er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, ihr seine Verliebtheit zu offenbaren, und selbst wenn sich eine Gelegenheit geboten hätte, würde er sie jetzt ungenutzt vorübergehen lassen. Seine Liebe hatte das goldfarbene Gewand der Sehnsucht abgeworfen und sich in den strohgelben Mantel des Hasses gehüllt.

Ja, er haßte Martha in diesem Augenblick.

Der Theaterabend hatte ihm ein bitteres Erlebnis gebracht, einen Argwohn geweckt, der nicht mehr zur Ruhe kommen wollte.

Bis zur großen Pause war der Abend so schön verlaufen.

Schon nach der Ouvertüre hatte sich Benno, befeuert von der herrlichen Musik, gesagt: Du solltest doch öfter ins Theater gehen! Vielleicht ist es doch nicht recht von dir, daß du dich von der Welt abschließest, vielleicht birgt die Welt reichere Schönheiten, als du, ein trotzköpfiger Eigenbrödler, zugeben willst. Du verstaubst, Benno! Du bist ein altmodisch gewordener Überzieher, der in einem Schrankwinkel verkommt und sich beleidigt fühlt, daß freudigere Farben modern geworden sind. Und der in schmollender Eingebildetheit deklamiert: Auch meine Zeit wird wiederkommen, auch ich werd’ wieder modern! Und seine Farbe wird auch wieder modern – aber bis dahin haben ihn längst die Motten gefressen!

 

Eine stille Seligkeit zog bei den Arien Max’ und Agathes in sein Herz ein.

Waren diese melodischen Liebesergüsse nicht noch werbender, umstrickender, lodernder als die kühnsten Beschwörungen eines Romeo?

Einen Tenor sollt’ ich haben, dachte er, und damit singen können sollt’ ich – dann wüßt’ ich’s, wie ich der Martha meine Liebe erklären müßte! Ich wollt’ mich in ihre Seele hineintrillern und wollt’ se bekantilenen, daß se gar nicht mehr anders könnt’, als mir um den Hals fallen und seufzen: »Mein Benno, mein süßer Benno!«

Und ich tät’ vor ihr hinsinken und tät’ meinen Wuschelkopf in ihrem Schoß bergen, und hauchen tät’ ich: »Ich bin dein! Alles ist dein: mein Herz, und mein Buckel, und mein hohes C – alles, alles dein!«

Beifallsklatschen störte seine Träumerei.

Er sah sich erstaunt von seinem Galerieplatz um: Das Dämmerlicht des Zuschauerraums war von voller Beleuchtung abgelöst worden, ringsum saßen applaudierende Leute, und tief unten hob sich der Vorhang, und winzig aussehende Menschen in bunten Kostümen verbeugten sich an der Rampe.

Benno nahm das geliehene Opernglas zur Hand und ließ seine Blicke umherwandern.

Dort, auf einem Seitenplatz des zweiten Ranges, saß der dicke Rehle vom Wechselbureau und schmauste ein kräftig belegtes Butterbrot, das ihm seine fürsorgliche Alte mitgegeben hatte. Kauend unterhielt er sich mit einem bezwickerten Mädchen, das neben ihm saß und von Zeit zu Zeit vergnügt zu seinen Reden auflachte.

Benno lenkte das Opernglas nach der anderen Seite des Hauses und entdeckte in einer Loge das üppige Fräulein Antonie Hochberg, im Schmucke übergroßer Brillanten.

Ob die auch etwas empfand bei der Musik?

Sie saß steif auf dem Logenvorderplatz, mit einer Miene, als gehöre ihr das ganze Opernhaus, und als dulde sie nur aus Gnade die Anwesenheit minderbemittelter Staatsbürger und Staatsbürgerinnen.

Vor ihr auf der Brüstung lagen ihre Glacéhandschuhe, und Benno phantasierte:

Wenn ihr jetzt ein Handschuh hinunterfiele – wie im Schiller – mitten zwischen die Salonlöwen und die Parkettigerinnen – und sie tät’ zu mir heraufrufen: »Herr Delorges Stehkragen – ei, so hebt mir den Handschuh auf!« – ich tät’ herunterrufen: »Edles Fräulein Kunigunde Hochberg,« tät’ ich rufen, »wie kommen Se merr vor? – Heut abend bin ich nicht der Stehkragen vom zweiten Pult im Couponbureau der Industriebank, der vor jeder Kundin seinen Knicks machen muß – heut abend bin ich der Kunstgenießer und Kunstmäzen Ritter Benno – und ich sitz’ so stolz auf meinem numerierten Galerieplatz wie der König auf seinem unnumerierten Thron – und von mir aus kann auch noch Ihr zweiter Handschuh hinunterfallen – und Ihre Brillantenausstellung – und Sie selbst dazu – ich seh’ gar nicht einmal hin nach Ihnen – denn ich schwärm’ für ein junges Mädchen – das mir gegenüberwohnt am Kontorpult – und goldene Haare hat – und …«

Das Haus verfinsterte sich wieder, und die Wolfsschluchtszene begann. Wie ein Kind freute sich Benno über die Regiewunder dieses Gespensteraktes. Er war ja so lange nicht mehr im Theater gewesen und hatte keine Ahnung davon, welche Illusionen ein geschickter Regisseur vermittelst Leinwand, Pappdeckel und bengalischer Beleuchtung hervorzaubern kann.

Er amüsierte sich herzlich über die tanzenden Skelette, über die Totenschädel, die mit den leeren Augen so schaurig glitzern konnten, und wahrhaftig, ihn gruselte dabei ein wenig.

Und als gar der Höllenfürst Samiel erschien, da schmunzelte er in dem stolzen Bewußtsein seiner eigenen Bravheit vor sich hin: Wie viel besser es doch sei, als ordentlicher Mensch tagsüber Coupons nachzuzählen und Fakturen zu schreiben und des Nachts in einem soliden Federbett zu schlafen, an den lieben Gott zu glauben und am Samstag in die Synagoge zu gehen, als sich mit dem wilden Jäger in Duzbrüderschaft einzulassen, seine einzige Seele gegen irdischen Profit zu verramschen und um Mitternacht in einer Gegend, in der sogar eine Wildsau ohne Leine herumläuft, zwischen allerhand unangenehmen Knochenfragmenten Freikugeln zu gießen.

Benno fühlte sich erleichtert, als der höllische Spuk vorüber war und die Leute aus dem Zuschauerraum strömten, um sich während der großen Pause zu ergehen.

Als er die Treppe nach dem Foyer hinunterstieg, klopfte ihm jemand von hinten auf die Schulter. Er wandte sich um und sah in Papa Käsbergers strahlendes Gesicht.

Herr Käsberger hatte sich alle Spuren seines Berufes aus dem Gesicht gewaschen, er steckte in einem schwarzen Gehrock, den er sonst nur bei Stiftungsfesten trug, seine riesigen Hände quälten sich in schwarzen Stoffhandschuhen von unwahrscheinlicher Größe.

»Des is nett von Ihne, Herr Stehkrage, daß Se zu dem Erfolg von meiner Tochter gekomme sin!« sprach er so laut, als ob er sich an seinem Stammtisch befände. »Ich habb Se schonn die ganz’ Zeit mit de Aage gesucht, awwer ich habb’ Ihne net gefunne! Dann wisse Se, ich habb’ kaan Operngucker, als Schornstaafeger braacht mer so was net, unn ich wer’ doch an der Garderob’ kaa fuffzig Fennich for so e Ding zahle!«

Benno war diese Begegnung nicht eben angenehm, aber es gelang ihm nicht, den alten Käsberger abzuschütteln.

So drängten sie sich nebeneinander durch das Foyer.

Papa Käsberger ging ans Büfett, nahm eines der belegten Brötchen in die Hand und fragte: »Was kost’ des?«

Als er hörte, es koste dreißig Pfennig, legte er das Brötchen wieder zurück und begann seinem Unmut über diese »Räuwerei« so erregt Luft zu machen, daß es Benno angst und bange wurde.

Benno Stehkragen wandte den Kopf weg, als gehöre er nicht zu diesem polternden Menschen – da fiel sein Blick auf einen blonden, lächelnden Frauenkopf.

Das war Martha.

Und dicht vor ihr stand im Frack Direktor Hermann und hielt ihr mit verbindlicher Geste eine Schale Eis, aus der sie geziert aß.

Benno war zumut, als hielte ihn der schwarze Jäger beim Kragen. Er stand mit offenem Mund da, er wollte aufschreien – da wandte auch Martha den Kopf, und ihre Blicke begegneten sich.

Er fühlte sofort, daß sie ihn erkannt hatte, ihn aber nicht kennen wollte.

Sie sah ihn ruhig an, während Direktor Hermann lachend in sie hineinplauderte.

Benno überlegte einen Augenblick, ob er sie trotzig ansprechen sollte, aber die Gegenwart des allmächtigen Direktors erstickte diesen Gedanken im Keim. Martha hatte den Kopf ein wenig gehoben und blickte nun abweisend über ihn hinweg.

Tief verstimmt und gekränkt suchte er wieder seinen Galerieplatz. Der Zuschauerraum verdunkelte sich, die Musik setzte ein, aber er hörte nur noch mit halbem Ohr hin. Das Stück interessierte ihn nicht mehr.

Er saß mit geballten Händen, und wäre jetzt der schwarze Jäger neben ihm aufgetaucht, so wäre er gar nicht abgeneigt gewesen, mit ihm einen Vertrag abzuschließen.

Was war das mit Direktor Hermann? Seit wann war er, der Unnahbare, so liebenswürdig? War dies die erste Begegnung gewesen, oder hatten sich die beiden schon öfter im Theater getroffen? Und mit welcher Selbstverständlichkeit hatte Martha seine Galanterie angenommen! Lachend, wie sie sich von Wittmann den Hof machen ließ, hatte sie sich die Huldigungen Hermanns gefallen lassen!

Zu allen Menschen war sie freundlich, alle Menschen wurden fröhlicher in ihrer Nähe, nur ihn, Benno Stehkragen, trat sie mit Füßen.

Im Orchester setzte das Lied vom Jungfernkranz ein, und Benno kam wieder zu sich. Auf der Bühne knickste Katharine und sang ihr Liedchen, aber Benno hielt es nicht einmal der Mühe wert, das Opernglas auf sie zu richten.

Ihre Stimme kam ihm in dem großen Haus erschreckend dünn und metallos vor.

Nein, es war nichts mit ihrer Künstlerschaft. Er empfand es in diesem Augenblick mit einer gewissen Schadenfreude.

Dennoch regte sich, als Katharine geendet hatte, unerwarteter Applaus. Die Mitglieder des Schornsteinfegervereins »Die lustigen Rauchfänger« waren vollzählig im Hause vertreten, und sie ließen es sich nicht nehmen, der Tochter ihres zweiten Vorstandes den Weg in die Unsterblichkeit mit den Rosen des Beifalls zu bestreuen.

Auf der Stehgalerie stand enggeklemmt Papa Käsberger und lachte über das ganze Gesicht. Wildfremde Menschen hatten geklatscht, er hatte es deutlich gesehen – vielleicht hatte der Lebrecht Breivogel, der Lump, doch recht gehabt, und in seiner Rita steckte eine Großfürstin im Reiche der Kunst.

Als der wohlwollende Beifall schon längst verstummt war, klatschte Papa Käsberger noch immer, bis ein ärgerliches Pssst!! seine Riesenhände zur Ruhe zwang. Aber das dämpfte sein jubelndes Triumphgefühl nicht.

Er vertiefte sich in den Theaterzettel und las ihn zum hundertstenmal, den köstlichen Zettel, auf dem ganz unten stand: Erste Brautjungfer … Fräulein Rita Veldern.

Das Adelsprädikat »von« hatte der Zettel rücksichtsvoll unterdrückt.

Der Zwischenaktvorhang fiel, Benno erhob sich und ging nach Hause.

Seine Freude am Theater war zerstoben, die rohe Faust der Wirklichkeit hatte den Traumschleier zerrissen.

Er mied die hellen Hauptstraßen und schlich sich durch Seitengassen heimwärts.

Er übersann das Erlebte, er versuchte, sich die Szene im Foyer nochmals Zug für Zug zu vergegenwärtigen, und gab sich die größte Mühe, objektiv zu sein.

Ich will gerecht sein, ich will nicht nach dem Schein urteilen, mich nicht von einer Gefühlswallung bestechen lassen. Was hat sie eigentlich so Schlimmes verbrochen? Sie hat ihrem Chef zugelächelt, sich seine Höflichkeit gefallen lassen. Hätte das nicht auch jede andere Beamtin getan? Konnte sie überhaupt anders handeln? Durfte sie eine Gefälligkeit, auf die jede Dame Anspruch hat, mit einer Ungezogenheit erwidern?

Sein Verstand verteidigte Martha gegen die Anklagen seines Herzens. Aber seinen Verteidigungsreden wohnte keine Beweiskraft inne.

Er hatte das Faunlächeln Hermanns gesehen, dieses Lächeln lüsterner Eroberersicherheit, das ihm an Wittmann so zuwider war.

Sein Mißtrauen blieb wach, mochte er es noch so eifrig mit dem Schlafpulver der Objektivität einzuschläfern versuchen.

Zwar begleitete er noch immer Martha des Mittags von der Bank bis zum Uhrtürmchen, lief neben ihr her wie ein Hündchen, jedoch er war kein folgsames, willenloses Schoßhündchen mehr, er war ein kleiner lauernder Pinscher, der tückisch nach rechts und links schielte, jeden Augenblick bereit zu geifern und zu beißen.

Die Verstellung tat Benno weh. Das war etwas Unaufrichtiges, Unreines, was ihm bisher fremd gewesen.

Ich fühle, daß ich schlecht werde! sagte er sich. Ich fange an zu hassen. Der Haß des Ohnmächtigen bäumt sich in mir und macht mich rachsüchtig, wie er einst die Seele des alten Shylock vergiftet hat. Aber man will mir mein Liebstes beschmutzen, wie man es einst ihm befleckt hat. Wer weiß, vielleicht hätte der alte Shylock seinen Feinden und Unterdrückern allen Hohn, jeden Speicheltropfen, jeden Fußtritt verziehen, vielleicht hätte er vor dem Gericht des Dogen erklärt: »Ich habe euch nur ängstigen wollen, ich wollte nur einmal euch Stolze, Übermütige in der Rolle der Bittenden sehen, ich verzichte auf das Pfund Fleisch aus dem Busen meines Feindes« – hätten sie ihm nicht seine Tochter, seine Jessika, geraubt. Mochten sie ihn knechten, ihm seine Geschäfte stören, ihn und sein Volk durch Ausnahmegesetze peinigen – der alte Ghettojude durfte sie innerlich verlachen: Sein Volk war ja dennoch das Lieblingsvolk Gottes, der ihm den Messias verheißen hatte und der sein Wort halten würde, so gewiß er einst die Vorfahren aus der ägyptischen Knechtschaft geführt hatte.

Aber sie haben ihm seine Tochter geraubt – da gab es kein Erbarmen. »Der Fluch ist erst jetzt gefallen auf mein Volk, ich hab’ ihn niemals gefühlt bis jetzt,« sagt er zu seinem Glaubensgenossen Tubal. Seiner Tochter gilt seine erste Frage, als Tubal ihm Neuigkeiten von auswärts bringt, seiner Tochter gelten seine Gedanken, während er im Gerichtssaal das Messer zur Rache wetzt. Und indes er sich anschickt, in unstillbarem Haß den Busen seines Feindes zu zerfleischen, vergibt er gleichzeitig halb und halb dieser undankbarsten aller Töchter und flüstert:

 
»Ich hab’ ne Tochter,
Wär’ irgendwer vom Stamm des Barrabas
Ihr Mann geworden, lieber als ein Christ!«
 

Benno stachelte sich selbst zum Haß auf, redete in sich hinein: Hätte ich einen solchen Schuldschein gegen Wittmann oder Hermann, auch ich würd’ keine Gnade kennen!

 

Aber er glaubte seinen eigenen Racheschwüren nicht. Der großartige Haß des venezianischen Ghettojuden hatte keinen Platz in seinem gutmütigen Phantastenherzen, und während er sich in die Rolle des steinharten Gläubigers hineinzuschauspielern versuchte, liebte er Martha mehr als je.

Über ein folterndes Mißtrauen wuchs seine Enttäuschung nicht hinaus.

Unwillkürlich schweiften jetzt seine Gedanken häufiger zu Katharine Käsberger hinüber. Er verglich sie mit Martha, und der Vergleich fiel nicht mehr so kraß zu ihren Ungunsten aus.

Obwohl Katharine ein uneheliches Kind hatte, obwohl sie in der Scheinwelt der Bühne heimisch war, erschien sie ihm jetzt reiner und unschuldiger als Martha. Dieses verblühte, unbedeutende Mädchen hätte es sicherlich niemals übers Herz gebracht, so tyrannisch mit seinen heiligsten Empfindungen zu spielen, wie Martha es tat. Und in einer plötzlichen Eingebung kaufte er einen großen Strauß weißer Rosen und brachte ihn Katharine.

»Ich will mich in sie verlieben,« sprach er sich auf dem Wege zu ihr vor, wie ein Schulkind, das einen Satz auswendig zu lernen hat. »Ich will mich in sie verlieben, damit ich die Martha vergess’ und wieder zurechnungsfähig werd’.«

Katharine war entzückt von den Blumen. Und ihr Entzücken wuchs noch, als er ihr die plumpesten Komplimente über ihr Auftreten als Brautjungfer machte.

Papa Käsberger wies mit Stolz auf den Freischütz-Theaterzettel, der eingerahmt über dem Klavier hing. Die Worte »Erste Brautjungfer … Rita Veldern« waren mit roter Tinte unterstrichen.

»Ja, es war e Bombe’erfolg, mei liewer Stehkrage,« lachte der glückselige Schornsteinfegermeister. »Ich habb’ vor lauter Uffregung gar net haamgehe könne. Ich habb’ merr ehrscht noch mei sechs Schöppcher Ebbelwei kaafe misse. Ja, merr kann sage, was merr will: Kunst is Kunst.«

Und Benno überbot diese Lobpreisung noch und erzählte begeisterte Äußerungen aus dem Publikum, die er angeblich gehört hatte.

Und dabei peitschte ihn sein Gewissen: Benno, wie tief bist du gesunken, wie lügst du, und wie beschämend leicht fällt dir das Lügen!

Katharine nahm die Huldigungen mit der verlegenen Verschämtheit einer alten Jungfer entgegen. Sie bemühte sich, möglichst bescheiden auszusehen, während doch das Glück ihr Herz schwellte, und sie machte ein Gesicht, das jeder unbefangene Zuschauer als strohdumm hätte bezeichnen müssen.

Mama Käsberger hatte das Sofa mit Beschlag belegt und konnte beim besten Willen nicht stillsitzen. Sie rutschte aufgeregt hin und her, entschuldigte sich ein dutzendmal, daß sie so eine alte Nachtjacke anhabe, aber sie hätte doch nicht auf so angenehmen Besuch gefaßt sein können, nachdem sich Herr Stehkragen leider in den letzten Tagen so selten gemacht habe, man hoffe aber, jetzt wieder öfter das Vergnügen zu haben.

Und ihr tränendes Mutterauge fand, daß Bennos Buckel, wenn man genau hinsehe und das eine Auge zukneife, tatsächlich im Abnehmen begriffen sei.

Während dieser Familienszene bewahrte nur Lebrecht, der angenehme Knabe, seine Gemütsruhe. Er saß auf einem Schemel in der Zimmerecke, zerpflückte Bennos Rosenstrauß und stopfte die weißen Rosenblätter in das Tintenfaß. Seine Absicht war, dieses Tintenfaß, sobald es bis zum Rand voll wäre, auf den Teppich umzugießen und dann ins Bett zu gehen.

Benno machte tiefen Eindruck auf alle Käsbergers.

Dennoch gestand er sich auf dem Heimweg: Es is unmöglich, ich kann mich nicht in se verlieben, ich lieb’ die Martha, ich komm’ nicht von ihr los!

Und so war es.

Da traf ihn ein zweiter harter Schlag.

Martha erhielt, außerhalb der Reihe und ohne jede äußere Veranlassung, eine beträchtliche Gehaltsaufbesserung.

In der Industriebank gärte Empörung. Der Neid zischelte: »Nun ja, kein Wunder! Wenn man mit seinem Bureauchef ins Kino geht …«

Die Beamtinnen konstatierten giftig: »Und eine Perlenkette trägt die Person auch noch! Aber so ist die Welt! Unsereins, der anständig ist, bringt’s natürlich zu nichts.«

Selbst der alte Binder mußte sich kopfschüttelnd sagen: »Merkwürdige Zuständ’ herrsche uff unserer Bank! No ja, es is halt e Affestall!«

Benno hörte die gehässigen Reden, die sich Martha zur Zielscheibe nahmen, aber er verteidigte sie nicht mehr in seinen Gedanken.

Diese plötzliche Gehaltsaufbesserung war ihm ein neues Glied in der Beweiskette ihrer Leichtfertigkeit, ihrer frivolen Genußsucht.

Und deshalb sah er sie beim Morgengruß so sonderbar an und erwiderte ihre erstaunte Frage mit so ungewohnter Schärfe. Den ganzen Vormittag über vergrub er sich tapfer in seine Arbeit und vermied es ängstlich Marthas Blick zu begegnen.

Heut’ muß ich ernstlich mit ihr reden, nahm er sich vor. Heut’ auf dem Nachhausweg sag’ ich ihr alles, daß ich se lieb’, und daß der Wittmann kein Verkehr für sie is, und daß der Direktor Hermann ein alter Mädchenjäger sei, der schon viele Jungfrauen ins Unglück gestürzt habe.

Das letztere wußte er nicht so genau, aber er wollte es jedenfalls einmal behaupten. Jetzt kam’s auf eine Lüge mehr nicht mehr an.

Ich muß hart sein, beredete er sich, indes er die dreißig Coupons vierprozentige Bayerische Vereinsbank-Pfandbriefe der Antonie Hochburg nachzählte. Da sagt man immer – dreizehn, vierzehn – die Liebe veredle den Menschen – siebzehn, achtzehn – aber es ist nicht wahr – einundzwanzig, zweiundzwanzig – rachsüchtig und unaufrichtig macht die Liebe – sechsundzwanzig, siebenundzwanzig – und selbstsüchtig und boshaft – neunundzwanzig, zweiunddreißig.

Und dann mußte er die Coupons von neuem durch die Hand gleiten lassen, denn er hatte sich verzählt.

Benno legte sich die Rede zurecht, die er über Martha ergießen wollte. Aber er kam wieder einmal nicht dazu, seine Rede zu halten.

Denn als er mittags, wie gewöhnlich, am Portal der Bank wartete, ging Martha rasch an ihm vorbei, ohne ihn anzusehen.

Er hüpfte ein paar große Schritte, um sie einzuholen. Da drehte sie sich schroff um und sagte: »Ich verbitte mir Ihre Begleitung! Nehmen Sie erst einen Anstandskursus, damit Sie sich Damen gegenüber einen anständigen Ton angewöhnen!«

Zum erstenmal seit langer Zeit mußte Benno mittags allein bis zum Uhrtürmchen traben. Und der Prophet Elias kam sich in der Wüste nicht halb so verlassen vor wie der arme Benno in der belebten Kaiserstraße.

Trübselig guckte er an den Häusern empor und ihm war, sie erwiderten seinen Blick und starrten ihn mit ihren kalten Fensteraugen feindselig an.

Nicht einmal die mogelnde Kartenspielerin in dem Porzellangeschäft vermochte ihn aufzuheitern.

Und vor dem Trompetenbaum gedachte er nicht seines geliebten Naturgeschichtslehrers, sondern er malte sich aus:

Wenn ich doch an dem Baum hängen tät’ – einen soliden Strick um den Hals – und es tät’ mir nichts mehr weh, kein Hühnerauge, kein Backenzahn und kein Herz – sondern ich wär’ tot – und die Martha Böhle käm’ vorbei – mit dem Herrn Wittmann neben sich – und se täten mich gucken, und der Wittmann tät’ fragen: »Was is denn das an dem Baum? Hängt dort nicht ein Stehkragen?« – und die Martha tät’ einen Schrei ausstoßen, und das Pralinee blieb ihr im Hals stecken, wo se grad’ dran lutscht – und se tät’ ohnmächtig hinfallen, mitten in die Stiefmütterchen – wo angeschrieben steht »Betreten verboten« – weil se mich doch heimlich geliebt hat und es mir bloß nicht sagen wollt’ – und auf einmal wär’ ich doch noch nicht ganz tot, sondern ich tät’ noch e bißchen mit den Augen zwinkern und tät’ sagen: »Siehst du, das kommt davon, ich verzeih’ dir alles, und jetzt hast de den Salat!« – und ich …

Benno zog das Taschentuch hervor und wischte sich die Augen.

Das Essen im koscheren Restaurant schmeckte ihm heute gar nicht. Die Klößchen in der Suppe waren lauter Totenschädel aus der Wolfsschlucht, und der stoppelbärtige Joseph schlich umher wie der schwarze Samiel, und sein Frack verriet deutlich, daß in der Hölle mit Gänsefett geschmort wird.

»Herr Stehkrage,« wandte sich Joseph beim Kompott an ihn, »Sie sin doch e gescheiter Mann, Se gehen auf die Börs’ und haben auch sonst eine Bildung, sagen Se merr im Vertrauen: Was geht in der Politik vor? Se wissen, ich hör’ nie zu, was die Gäst’ miteinander reden, aber sie sprechen jetzt fortwährend vom Krieg. Ich sag’ Ihnen, ich bin jetzt so nervös, gestern abend hab’ ich’n Teller fallen lassen mit Rindsgulasch, für eine Mark zwanzig Rindsgulasch, auf dem Herrn Jakob Rosenthal seine gestreifte Hos’ – ich hab’ geglaubt, die Welt geht unter, so hat der Herr Rosenthal angestellt! Unn Ihne Ihr Abonnementskaart is aach abgelaafe!«

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