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Benno Stehkragen

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Und mit jedem »Stimmt!« schrumpfte sein Groll mehr zusammen, hellte sich sein Gemüt auf.

Bei den neunzehn Coupons 3 % Portugiesen des Herrn Isidor Seligmann war der Himmel seiner Seele noch mit tiefschwarzen Gewitterwolken bedeckt – bei den sieben Löwenbräu-Dividendenscheinen der Firma Gassner und Sohn hatten sich diese schwarzen Ungetüme bereits in schmutzig-graue Regenwölkchen verwandelt – bei den dreißig Coupons 4 % Rumänische amortisierbare Rente des Herrn Friedrich Rottler, Offenbach, guckte schon ein Sonnenstrählchen fürwitzig hinter einem Wölkchenrand hervor, als wollte es mit dem Kinde Benno »Kuckuck – Tata!« spielen.

Und bei den vierundzwanzig Zinsscheinen 3½% Deutsche Reichsanleihe der Henriette Bergmüller sel. Witwe, Hattersheim – o Jubel, da lachte die liebe Sonne wieder riesengroß vom blauesten Himmel und machte dem kleinen Benno Stehkragen so warm, daß er den Schweiß von der Stirne tupfen mußte.

»’n Augenblick, Fräulein Heckenröschen, ich muß bloß emal Atem schnappen!«

Und endlich war es sechs Uhr abends, und die Beamten strömten aus dem Bankgebäude.

Nur die Korrespondenten saßen noch hinter ihren Tischen und kritzelten eifrig und ärgerten sich, daß sie nicht zeitig fertig geworden waren.

In den Tresors lagen die Wertpapiere, Coupons, Wechsel, Dokumente, ausländischen Geldsorten, Scheckbücher, das Bargeld der Kasse und die wichtigsten Geschäftsbücher wohlgeordnet verwahrt.

Die am nächsten Vormittag zu erledigenden Botengänge waren bis ins kleinste geregelt und das dazugehörige Material zurechtgelegt.

Das gesamte Personal der Bank hätte über Nacht sterben können, ohne daß die geringste Unordnung eingetreten wäre; das neue Personal hätte einfach dort weitergearbeitet, wo das alte aufgehört hatte.

Beinahe zwei Stunden länger wurde in der Expedition geschafft, die am Gangende des zweiten Stockwerkes lag und lediglich die Kuvertierung und Absendung der Briefe zu besorgen hatte. Alle weiteren Postangelegenheiten waren bereits von den einzelnen Bureaus erledigt worden.

Es war in der Industriebank der Modus eingeführt, daß jeder Korrespondent zu dem von ihm geschriebenen Briefe auch den Umschlag zu schreiben hatte. Der Briefumschlag wanderte sogleich in die Expedition und wurde dort in alphabetisch eingestellte Regale eingeordnet, während die Briefe, die beizulegenden Notas und Dokumente erst später in der Expedition eintreffen konnten.

Sechs Angestellte waren von fünf Uhr ab in der Expedition damit beschäftigt, die aus dem ganzen Hause dort zusammenströmenden Schriftstücke in die dazugehörigen Kuverts zu stecken und zuzukleben.

Abwechselnd hatten sämtliche Angestellte diese Tätigkeit auszuüben.

Natürlich gab es auch in der Expedition Ärger in Hülle und Fülle.

Da fehlten zuweilen die in den Briefen erwähnten Einlagen, die nach langem Suchen endlich in irgendeinem Bureau gefunden wurden; da war ein Brief, zu dem kein Umschlag geschrieben war, und dort war ein Umschlag, zu dem kein Brief heraufkam.

Dann wieder stimmte eine Umschlagadresse nicht mit der Briefadresse überein, auf dem Umschlag stand Gebrüder Lautenschläger in Pforzheim, und im Brief stand Gebrüder Lautenschläger in Bückeburg; es mußte konstatiert werden, wo eigentlich die Gebrüder Lautenschläger residierten, und das verursachte wieder einen höchst unerwünschten Aufenthalt.

Ferner kam es vor, daß der Expedient eine Einlage in ein falsches Kuvert gesteckt hatte, so daß sie jetzt an der richtigen Stelle fehlte und nicht gefunden werden konnte und unter Umständen die sämtlichen Briefe wieder aufgerissen werden mußten.

Und zwischen den Expedienten liefen die Kassenboten herum und drängten zur Eile:

»Wir kommen zu spät zur Post! Die Briefe werden uns nicht mehr am Schalter abgenommen, wenn wir nach dreiviertel Acht kommen! Wir können uns nicht die Lunge aus dem Hals laufen!«

Waren die Briefumschläge geschlossen, so wanderten sie in die Hände des aufsichtführenden, greisen Herrn Bittenberger, der sie frankierte.

Dieser Posten galt halb und halb als Gnadenbrot.

Bittenberger, der an Schreibkrampf litt, und dessen Hände beständig zitterten, war seit Jahren pensionsberechtigt. Aber die Pension betrug nur drei Vierteile des Gehalts, und Bittenberger, der eine zahlreiche Familie und einen mißratenen ältesten Sohn hatte, konnte und wollte nicht auf das vierte Viertel seines Gehalts verzichten.

Was sollte die Direktion tun? Einem so greisen Beamten kündigen? Nein, das ging nicht. So hatte man ihn denn auf diesen stumpfsinnigen Posten gesetzt. Mochte er dort weiterwursteln, solange es sein kläglicher Gesundheitszustand zuließ!

Schließlich erlosch auch das Licht in der Expedition.

Es hatte wieder Verschiedenes nicht gestimmt, und Bittenberger wankte, auf seinen Spazierstock gestützt, bekümmert und hoffnungslos die Treppe hinunter, in der Gewißheit, daß ihn zu Hause noch weit härterer Kummer erwartete.

Für die letzten Briefe war es richtig wieder zu spät zur Postablieferung geworden. Und da sich ein wichtiges Schreiben nach Norddeutschland darunter befand, so mußte halt ein Kassenbote nachts nach zehn Uhr diesen Brief persönlich in den Berliner Schnellzug werfen.

Der betreffende Kassenbote hatte darob den schuldlosen Bittenberger mit einer Flut von Vorwürfen und massivsten Grobheiten übergossen, die der greise, kranke Mann zitternd und wehrlos über sich ergehen ließ.

»Gu’n Nacht, Vadder Bittenberger,« grüßte der alte Binder, als Bittenberger an der Portierloge vorbeikam.

Auch der alte Binder hatte schon lange ungeduldig darauf gewartet, daß »die oben in der Expedition« endlich fertig würden, aber er ließ den kranken Kollegen nichts von seiner Ungeduld merken. »Gu’n Nacht, Vadder Bittenberger! Alleweil fleißig! Alleweil morjens der ehrschte, awends der letzte!«

Bittenberger lächelte müde. Ja, der alte Binder war eine gute, ehrliche Haut, der sagte ihm gerne was Liebes – aber was nützte das?

»Wie geht’s dann alleweil, Vadder Bittenberger? Was macht des verflixte Asthma?«

»Schlecht geht’s, Binder! Schlecht! Ich werd’ wohl nicht mehr lang mitmachen.«

»Gell, mache Se kaan Stuß!« protestierte Binder, scheinbar tief entrüstet. In Wahrheit teilte er vollkommen Bittenbergers pessimistische Ansicht.

Und indem er die Sache ins Scherzhafte hinüberzuleiten suchte, fuhr er fort: »Leut’ wie mir zwaa! In de beste Jahr’n! Basse Se nor uff: mir schdecke noch manche Neujahrsgradifikatio’ ei’, eh merr ans Abkratze denke!«

Bittenberger winkte traurig mit der zittrigen Hand ab. Er dachte daran, was aus seinem ältesten Sohn werden würde, wenn er selbst nicht mehr da wäre …

»Also Gute Nacht, Binder!« seufzte er und humpelte durch das Portal.

Kopfschüttelnd sah ihm Binder nach. Auch er seufzte jetzt.

»Ja, des is e Lewe!« philosophierte er. »Da soll merr noch an e Gerechtigkeit glaawe! E Saustall is die ganz’ Welt! E Saustall, unn nix weider!«

Er nahm die großen Schlüssel von der Wand und verschloß das schwere Eisentor vor dem Portal.

Dann machte er den allabendlichen Rundgang durch sämtliche Räume des Hauses, sah nach, ob überall die Rolläden geschlossen und die Lampen ausgedreht seien, zog die Kontrolluhren für die nächtliche Ronde auf, überzeugte sich noch einmal, ob die Panzertür, die zu den Kellergewölben führte, verschlossen war, und schaltete die elektrische Klingelleitung zum Schutze gegen Einbrecher ein.

So, jetzt war sein Tagewerk vollbracht.

Mit ruhigem Gewissen konnte er das Schlüsselbund dem Nachtportier übergeben und sich in seine kleine Wohnung, bestehend aus drei neben der Portierloge gelegenen Zimmerchen, zurückziehen, wo seine Frau und sein Sohn bereits bei Hering und Pellkartoffeln auf ihn warteten.

Martha hatte sich mit einem kurzen »Guten Abend« vom Couponbureau verabschiedet.

Flüchtig und zerstreut klang dieser Gruß. Denn ihre Gedanken weilten schon halb im Theater oder Kino, wo es den vortrefflichen Spieltenor Schramm als David, die süße Henny Porten als erstaunlich schicksalsreiches Findelkind zu bewundern gab.

Benno begriff Marthas Vorliebe fürs Theater nicht recht.

War es nicht viel genußreicher, die Werke unserer Klassiker daheim im stillen Stübchen mit Andacht zu lesen, als sie sich zwischen bemalten Pappdeckeln und Leinwand vorgestikulieren zu lassen?

Und von Musik, so sehr er sie liebte, verstand er nicht viel.

Ein Lied konnte ihn tief rühren, aber die stundenlange lärmende Opernmusik sagte ihm nichts.

Er war mit den meisten Opernhelden durchaus nicht einverstanden.

Da war zum Beispiel der Siegfried, ein Held, für den man sich wohl begeistern konnte, solange er sich in Mimes Schmiede befand und Ambosse entzweischlug. Auch daß er den Fafner tötete, war aller Achtung wert – schon weil der Drache so dummes Zeug redete. Es gibt in der menschlichen Großstadt schon genug quasselnde Drachen – braucht’s auch noch im Wald solche Viecher zu geben?

Also bis dahin war gegen den Siegfried nichts einzuwenden.

Aber weshalb kümmerte sich dieser unverdorbene, jugendstrotzende Naturbursche um den Nibelungenschatz und den Ring?

Für so etwas durfte ein Held, in Bennos Augen, keinen Sinn haben. Das war geradeso, als hätte man ihm seinen angebeteten Schiller beim Couponschneiden abgemalt!

Und was das Waldvöglein erzählte, das mußte dem Siegfried erst recht ganz schnuppe sein! Ein Held durfte sich nicht von einem Piepmatz verführen lassen.

Wahrhaftig, der Siegfried hätte ihm mehr imponiert, wenn er sich inmitten der redenden Tiere hoch aufgerichtet und mit Rittershausens Stimme dazwischengekräht hätte:

»Ruhe! Während der Arbeitszeit wird nicht geschwätzt!«

Aber das Unverzeihlichste war die Erweckung Brünhildes.

Wenn er, Benno Stehkragen, ein gepanzertes Weib in einem Feuer, das nicht versengte, im besten Schlaf gefunden hätte, er hätte sie nie und nimmer geweckt.

 

Ja, ein kleines Kind, das hätte er auf den Arm genommen und ihm das Köpfchen gestreichelt und ihm zugeredet: »Du brauchst dich nicht vor dem Feuer zu fürchten!« und hätte es mit nach Hause genommen und bei sich behalten, bis sich die Mutter meldete.

Aber ein Weib mit Schwert, Helm und Brünne, gepanzert bis über die Nasenspitze?

Nein, das war keine Partie für Siegfried. Er hätte dem Siegfried ein wunderzartes, treues, hingebendes Mägdelein zum Weibe gewünscht, aber nicht eine rabiate Athletin, die im Freien übernachtete und eine ganze Waffenkammer mit sich herumtrug.

Und wenn sie von selbst erwacht wäre, so hätte er, Benno Stehkragen, an Siegfrieds Stelle gesagt: »Entschuldigen Se, falsch verbunden!« und hätte die Brünhilde Brünhilde sein lassen.

Nein, dieser Siegfried war kein reiner Held für seine Begriffe.

Und so erging es ihm mit den meisten Helden der Oper und des Musikdramas: sie sangen wohl recht schön, wenn auch ein bißchen viel und lang, aber lieben konnte man sie nicht, noch sich für ihre Taten begeistern.

Schade, daß Martha eine solche Vorliebe für das Theater besaß.

Es war Benno ein Rätsel.

Und dennoch war dieses Rätsel so einfach zu lösen:

Er, Benno Stehkragen, besaß eine ungestüme, krause Phantasie, die freien Flug brauchte. Die sinnfällige Darstellung von Kunstwerken auf der Bühne legte seiner Phantasie Ketten an. Im Theater befand sich nicht nur seine kleine, buckelige Körperlichkeit in einem geschlossenen Raum, auch sein Empfinden, sein Denkvermögen waren in eine große Schachtel eingesperrt, wie ein Maikäfer in eine Botanisierbüchse, und stießen auf allen Seiten schmerzhaft an, sobald sie sich zum Fliegen anschickten.

So war es ihm schon als Kind gegangen.

Als kleiner Bub hatte er einmal zum Geburtstag einen großen Baukasten erhalten. Damit baute er die wunderschönsten Häuser, Brücken und Paläste.

Aber es lag diesem Baukasten auch ein Heftchen mit Vorbildern und Anleitungen bei – und nach diesen Vorbildern brachte er beim besten Willen nichts zustande.

Der Vater, zornig über den dummen, ungeschickten Jungen, zankte, und Benno zog sich verschüchtert mit seinem Baukasten in die dunkle Speisenkammer zurück, kauerte auf den kalten Boden nieder und errichtete dort in der Finsternis die herrlichsten Schlösser.

Hatte er eines beendet, so öffnete er die Türe, ließ das Licht hereinfallen, bewunderte sein Werk und belohnte sich freigebig mit den Rosinen, die so nahe standen.

Bis seine Mutter fand, daß diese eigenmächtigen Belohnungen zu tief in ihr Haushaltungsbudget eingriffen, und der Baukasten in einem wohlverschlossenen Schrank verschwand.

In Gedanken aber baute Benno noch lange die prächtigsten Gebäude.

Im Gegensatz zu Benno besaß Martha, dieses kluge, lustige Mädel, nur wenig Phantasie.

Wollte sie sich über das Ackerland des Alltags erheben, so bedurfte sie dazu der groben Vermittlung all des Plunders von Schminke, Puder und Flitter.

Eine Flugmaschine, ja, das war etwas, was sie begriff – sie selbst hatte keine Flügel. Ein Drama zu lesen wäre für sie etwas maßlos Langweiliges gewesen.

Sie lebte in angeborener, unverwüstlicher Daseinsfreudigkeit dahin, ein praktisches, vergnügtes, gesundes Menschenkind.

Für Martha gab es keine Märchen, nur eine höchst lebenswerte Wirklichkeit. Für Benno war alle Wirklichkeit ein Märchen.

Ein närrisches Märchen, in dem er selbst mitagierte, nur wußte er nicht: Hatte er aus dem Zauberquell getrunken, der ewiges Glück verleiht, oder hatte er von den Feigen des Zwergs Nase gegessen, von deren Genuß man lange Schlappohren und eine ungeheure Nase bekam?

Und in dieses Märchen war mit dem Erscheinen Marthas die Feenkönigin eingetreten, und unter jedem ihrer Schritte blühten Vergißmeinnicht, Veilchen und Nelken und all die Blumen, mit deren Namen er sie alltäglich begrüßte.

Auch einen bösen, mächtigen Hexenmeister gab es in dem Märchen, der der Feenkönigin nachstellte, und das war der Herr Wittmann.

Die alten Griechen, dachte Benno, haben für alle Gewerbe ihre Spezialgötter gehabt; der Ackerbau hatte seine Göttin, die Viehzucht hatte ihre Göttin – vielleicht ist Fräulein Böhle die Göttin des Bankgeschäfts, und die dummen Menschen merken’s nur nicht.

Benno Stehkragen war verliebt, rettungslos verliebt.

Freilich, hätte ihm jemand auf den Kopf zugesagt: »Herr Stehkragen, Sie haben sich in Fräulein Böhle vergafft,« er hätte es nicht geglaubt.

Verliebt? Er? – Wieso?

Wenn man ein Weib liebt, so begehrt man es doch. Man will sie küssen, sie in seine Arme schließen, sie ganz für sich allein besitzen, mit ihr, für sie und durch sie glücklich sein.

An so etwas aber dachte Benno Stehkragen mit keinem Gedanken.

Nicht ihr üppiges blondes Haar, nicht ihre weichen Arme, nicht ihre Schlankheit oder ihr hübsches Gesicht wollte er sich zu eigen machen – es war der Duft von Jugend, von lachender Frische, der ihn unterjochte.

Er spiegelte sich in diesem Quell, der sein Bild tausendfach verklärt zurückwarf – aber sollte er mit plumpen Füßen hineintappen und den Quell schlammaufwühlend trüben?

Martha war für ihn ein Heiligtum, das man nicht berühren durfte.

Er konnte sich kaum vorstellen, daß er den Saum ihres Kleides küssen würde, und gar ihre roten Lippen? – Niemals.

Ich und Martha vereint, dachte er bitter, das wär’, als wollt’ man ein Reh mit einem Pavian kreuzen!

Seine Liebe war ein wortloses Anhimmeln, und wenn Benno Stehkragen nicht ein so ausgereiftes Männlein gewesen wäre, hätte man es pennälerhaft nennen dürfen.

Vor dem Bilde Marthas verschwand ihm das Bild eines anderen Mädchens, das ihn bisher manches Mal beschäftigt hatte: das Bild des Fräuleins Rita von Veldern.

Wer war das?

Begleiten wir den kleinen, buckeligen Benno ein wenig auf dem Nachhausewege, sehen wir uns ein bißchen sein Junggesellenheim droben auf dem Sachsenhäuser Berg an; so wird auch in diese bis jetzt noch dunkle Angelegenheit Licht kommen.

Benno ging die Kaiserstraße hinunter. Er hatte am Vormittag in Marthas Begleitung keine Zeit gehabt, sich die Schaufenster zu betrachten, und er holte das jetzt mit Behagen nach.

Besonders die Auslagen eines Porzellan-Geschäfts fesselten seine Aufmerksamkeit.

Da war seit etlichen Wochen eine zierliche Rokokopuppe ausgestellt: zwei Edelleute und zwei Hofdämchen, die gemeinsam Karten spielten. Benno hatte den Gesichtsausdruck der vier spielenden Figürchen genau studiert, und er war sich darüber klar geworden: die eine Dame mogelte.

Jawohl, die eine Dame, die gerade das Herz-As ausspielte, und zu deren Füßen ein Windhund kauerte, mogelte ungeniert.

Jeden Tag betrachtete er sich die Gruppe von neuem und dachte sich: Merken die’s denn immer noch nicht, daß das Luder mogelt?

Wenn die Kaiserstraße nicht eine so belebte Straße gewesen wäre, wahrhaftig, er hätte leise an die Fensterscheibe geklopft: »Attention, mesdames et messieurs, c’est votre amie, qui mogelt!«

Auch Benno hatte in jüngeren Jahren gelegentlich im Kaffeehaus Karten gespielt. Skat. Er hatte das Spiel schnell begriffen, aber er verlor immer.

Denn seine Gedanken waren ganz woanders.

Wenn ich der Eichelkönig wär’, dachte er – da täten in meinem Reich lauter Eicheln wachsen – und meine Untertanen täten nur von Eichelkaffee leben – und ich tät’ sagen: »Ich guck’ schon: Eichelkönig, das is nix für mich! Ich will lieber der Grünkönig sein!« – Und plötzlich bin ich der Grünkönig – und überall wächst nur Spinat – und ich sag’: »Was nutzt mich der Spinat ohne Spiegelei? – Is das e Menü für en König? – Ich wollt’, ich wär’ der Herzkönig!« – Gesagt, getan, Hokuspokus, bin ich der Herzkönig! – Und mein ganzes Land is voll Liebespärchen – und jeden Tag muß ich von fünf Uhr morgens bis elf Uhr nachts Scheidungsklagen entscheiden – und es wächst merr zum Hals ’eraus, – und …

Und: »Mit Ihne kann merr iwwerhaapts net spiele, Herr Stehkragen!« schrie sein Partner wütend. »Sie dhun ja net emal Farb’ bekenne’!«

Das hatte Benno auch eingesehen und hatte das Kartenspielen leichten Herzens aufgegeben.

Die nächste Station auf seinem Nachhausewege war das Schaufenster einer Schreibwarenhandlung.

Die Spezialität dieses Geschäftes waren zärtliche Ansichtspostkarten, mit denen das ganze Schaufenster übersät war. Und diese Dokumente menschlicher und unmenschlicher Geschmacklosigkeit bereiteten Benno täglich von neuem ein ungeheures Vergnügen.

Wie man nur solches Zeug zeichnen, drucken, kaufen und gar verschicken konnte?

Also diese weiblichen Puppengesichter waren der Idealtyp der Frauenschönheit! Diese fettsüchtigen Busen und Elefantenwaden sollten einen Mann entzünden! Und diese faden geschniegelten Mannspersonen mit dem schneidigen Schnurrbart und Pomadescheitel waren das Höchste, was Allmutter Natur an männlicher Schönheit hervorbringen konnte!

Die Menschen sin meschugge, dachte Benno. Da is mitten in der Stadt ein Lachkabinett, wie’s auf keinem Jahrmarkt köstlicher zu finden is – unn die Leut’ stehn mit todernsten Gesichtern davor!

Er selbst hätte sich vor Lachen schütteln können.

Das Herrlichste waren entschieden die blondzöpfigen Mädchen, die an einem Tisch saßen und mit verklärten Kalbsaugen irgendwohin nach der Decke sahen, als ob sie sich in den Gaslüster verliebt hätten. In der Ecke stand etwa:

 
Weilst du auch ferne in der Ferne,
Ich schwebe bei dir überall,
Ich hab’ dich ja so lieb und gerne
Und lausch’ dem Lied der Nachtigall.
 

Also die Nachtigall war an den Kalbsaugen schuld – nicht der Gaslüster.

In vergnügtester Stimmung kam Benno am Uhrtürmchen an, wo er wieder durch die Promenade nach der Großen Gallusgasse abbog.

Das war eigentlich ein kleiner Umweg, aber er machte ihn täglich, um das Stückchen Promenade, inmitten des Häusermeeres, zu genießen.

Und dann stand in diesem Abschnitt der Frankfurter Anlagen, die den beneidenswertesten Schmuck der Stadt bilden, der Trompetenbaum.

Vor vielen, vielen Jahren, als Benno noch in die Schule ging, hatte der Naturgeschichtslehrer die Klasse auf diesen Baum aufmerksam gemacht und empfohlen, sich die eigenartig geformten Blätter zu betrachten.

Der Lehrer war nun schon lange tot, aber noch immer stand alltäglich Benno vor dem Trompetenbaum still und beschaute ihn ein Weilchen. Und dachte dabei hie und da des ehemaligen Naturgeschichtslehrers, des Professors Noll, der der Abgott aller seiner Schüler gewesen war.

Noch aus einem anderen Grunde bog Benno Stehkragen am Uhrtürmchen links in die Promenade ab: rechts vom Uhrtürmchen stand in den Anlagen das Riesendenkmal Bismarcks, das er nicht leiden konnte.

Nicht als ob Benno ein schlechter Patriot gewesen wäre, oder ein »Gegner« Bismarcks. Benno liebte sein Vaterland inbrünstig, und vor Bismarck besaß er einen tiefen, beinahe ängstlichen Respekt.

Aber an dieser Stelle hatte ehemals ein anderes Denkmal gestanden: das Denkmal eines Stadtgärtners, der sich um die Anlagen besonders verdient gemacht hatte. Das schlichte Monument des Stadtgärtners hatte dem Reichsgärtner Platz machen müssen und war an eine weniger verkehrsreiche Stelle der Anlagen versetzt worden.

Und das verzieh Benno der Stadt nicht.

Damals hatte er in Gedanken eine große Rede zugunsten des alten Stadtgärtners gehalten, der in Erz gegossen so freundlich dasaß, als wollte er jedem Vorübergehenden einen guten Tag wünschen, eine große Rede über das bittere Thema: »Immer müssen die Kleinen den Großen den Platz warm halten, bis sie beiseite geschoben werden.«

Es war eine fulminante Rede gewesen, viel zu pathetisch für den geringfügigen Anlaß, und man konnte Benno nur dazu gratulieren, daß er diese Rede, wie alle seine Volksreden, lediglich in Gedanken gehalten hatte.

Der Trompetenbaum war besichtigt – »Trompetenblüte«, das wäre eigentlich eine ganz schöne Morgentitulation für Fräulein Böhle gewesen; die Blumennamen gingen ihm sowieso aus – und Benno kam auf dem Roßmarkt an.

Diesen Platz liebte er.

Sah man doch von ihm aus zwei Denkmäler von Männern, denen er die heiligsten Stunden seines Daseins verdankte: Gutenberg und Goethe.

Und er dachte: Wenn ich da droben der Gutenberg wär’ – und ich tät’ die vielen Menschen mir zu Füßen ’erumwimmeln sehen – die vielen, miesen Menschen – und könnt’ nicht davonlaufen – weil mich der Fust am Rockzipfel festhalten tät’ – und könnt’ merr nicht die Haar’ ausraufen – weil mir der Bildhauer so e mittelalterliche Kapp’ aufgesetzt hat – ich tät’ sagen: »Ihr Menschen,« tät’ ich sagen – »is es e Wunder – daß euer Gemüt beständig friert – und euer Herz den Schüttelfrost hat – und eure Seele den Schnupfen? – An dem heiligen Feuer der Kunst geht ihr vorüber – und wollt euch wärmen an dem Streichhölzchen des Amüsements! – Was gründet ihr ewig Kinos – und Tingeltangels – und Kabaretts – und neue Weinkneipen mit alter Damenbedienung? – Für das Veilchensträußchen, das ihr einer Chansonette zuwerft – die ihr’n Rock hochgehoben hat – weil se mit Recht findet, daß sie im Schmutz watet – könntet ihr euch fünf Reclam-Bändchen kaufen – und könntet für zwanzig Pfennig mit der Jungfrau von Orleans – oder der Iphigenie – oder dem Klärchen – das Wasser des Lebens trinken, – statt mit einer baufälligen Schickse für zehn Mark gepanschten Sekt! – Seid ihr überhaupt wert, daß die Buchdruckerkunst erfunden worden is?« – Und während ich, der Johannes Gutenberg, so red’, seh’ ich plötzlich aus der Junghofstraß’ e Licht näherkommen – und das is ein Blondkopf – und es is der Fräulein Böhle ihr Kopf, der da kommt – und ihr Leib kommt natürlich auch – und ich spring’ herunter von dem Sockel – und der Fust kann mich nicht mehr festhalten, sondern er behält meinen Rockzipfel in der Hand – wie die selige Potiphar dem Joseph seinen Paletot – und er tät’ verdutzt ausrufen – ganz wie damals die Potiphar: »No, was is?« – und ich tät’ schreien: »Fräulein Böhle, für dich hab’ ich die Buchdruckerkunst erfunden – ich, Benno Stehkragen – und alles, was die Dichter an Frauenlob gesungen haben, gilt dir« – und dann …

 

Und dann war er in seinem Traum wieder bei Martha angelangt, er, der entschieden bestritten hätte, verliebt zu sein.

Während des langen Wachtraumes waren seine krummen Beinchen in das Salzhaus getrippelt und wandelten jetzt durch die Altstadt, in die die Bautätigkeit der Neuzeit klaffende Breschen gelegt hatte – mehr zur Freude der Kriminalpolizei als zur Freude der Geschichtsfreunde – und schritten über die alte Mainbrücke, deren Schicksal gleichfalls bereits besiegelt war.

Er blickte in den Main hinab, wo in flinken Ruderbooten zur nächsten Regatta geübt wurde, sah die schweren Lastkähne und hörte den Schlepper prusten.

Und malte sich im Weiterschlürfen aus, wie es wäre, wenn …

Wenn er jetzt auch den Main hinunterschwämme, der auf altfrankforterisch »Mää« geschrieben wird und auf neufrankforterisch »Moi« gesprochen wird – und ein Haifisch wär’ – und hätt’ den Jonas im Bauch – und es käm’ der Wildschütz, der aus der Sage und einem schönen Stoltzeschen Gedicht bekannt is – und tät’ ihm einen Neuner in den Bauch schießen – wie seinerzeit in die Wetterfahne des Eschersheimer Turms – und wie dann …

Und er kletterte bereits den Sachsenhäuser Berg hinauf und schwitzte, denn es war ein warmer Vorfrühlingstag.

Dort oben wohnte Benno Stehkragen im letzten Hause, als solider Zimmerherr der Tapeziererswitwe Josephine Petterich.

War Benno menschenscheu, daß er sich in das letzte Haus der Stadt zurückzog?

Flüchtete er vor der Großstadt in die Natur?

Nein. Denn sonst hätte er gewiß das rückwärtige Balkonzimmerchen bewohnt, das ihm Frau Petterich zuerst angeboten hatte, dieses Zimmerchen, das den Vorzug eines separaten Eingangs von der Treppe aus besaß, und das eine liebliche Aussicht in die Gemüsegärten und Obstpflanzungen des gesegneten Sachsenhäuser Berges bot, bis hinter an den Rand des Waldes.

Auch von den Vorderzimmern, die auf einen kleinen Hof hinaussahen, hatte er keines genommen, obwohl ihn dort sicherlich kein Straßenlärm gestört hätte.

Ein Zimmer an der Nordfront hatte er gewählt, durch dessen Fenster er nichts erblickte als die Rückwände der Nachbarhäuser, Fenster mit verblichenen Vorhängen, Küchenbalkone, die oft genug als Reserve-Rumpelkammern dienten.

Und an dieser unbegreiflichen Wahl war eben Fräulein Rita von Veldern schuld – jenes Fräulein Rita, dessen Bild Martha in Bennos Gedächtnis beinahe ausgelöscht hatte.

Die Sache war so:

Lange Jahre hatte Benno im Zentrum der Stadt gewohnt, nicht unweit der Industriebank, die sich damals noch im Oederweg befand.

Er wohnte bei der streng rituell jüdischen Familie Seligmann, die ihn wie einen Sohn des Hauses behandelte und alle seine Eigenarten willig in Kauf nahm. Dort hatte er mit dem Oberhaupt der Familie nach Herzenslust der Neigung zu talmudistisch-spitzfindigen Erörterungen frönen können, und wenn die soziale Frage, das Rätsel des Fortlebens nach dem Tode und das Problem der Abstammung des Menschen immer noch nicht endgültig gelöst sind, so kommt das einfach daher, daß niemand die Abendgespräche dieser beiden kreuzbraven, aber recht skeptischen Juden mitstenographierte.

Diese Diskussionsabende ohne Ende und mit Allerweltstagesordnung begannen in der Regel erst nach dem Abendessen, wenn die Kinder, an denen Benno innig hing, zu Bette gebracht waren und die Frau des Hauses sich mit einer Handarbeit in eine Zimmerecke zurückgezogen hatte.

Dort saß sie schweigend, stolz auf das Wissen ihres Mannes, und »freute sich, wenn kluge Männer reden, daß sie verstehen konnt’, wie sie es meinen«.

Die Stunden zwischen Geschäftsschluß und Abendessen verbrachte Benno in der Regel in seinem Zimmer.

Und da hatte er zum ersten Male durch das offene Fenster eine Frauenstimme singen hören:

 
Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt …
 

Der belesene Benno glaubte sich zu erinnern, daß dieses Gedicht von Eichendorff ist; von wem die Komposition stammte, wußte er nicht. Und noch weniger wußte er, wer die Sängerin war.

Aber so viel Musikempfinden besaß er, daß er merkte: Diese nicht sehr große Stimme hatte einen ungewöhnlich lieben, weichen Klang, und das begleitende Klavier war ein unmöglicher Kasten.

Er legte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch und hielt am Fenster Umschau nach der Sängerin.

Da war das Lied plötzlich abgebrochen, und so aufmerksam er lauschte, der Gesang ließ sich an diesem Abend nicht mehr hören.

»Wohnt hier in der Näh’ eine Sängerin?« frug Benno Stehkragen beim Abendessen die Frau des Hauses.

»Es is merr nix bekannt,« erwiderte Frau Emilie. »Soll ich emal das Dienstmädche’ frage?«

»Nein, nein!« dankte Benno. »Ich hab’ nur gemeint!«

Aber Frau Emilie frug doch das Dienstmädchen, als dieses das Bier brachte, und das Mädchen antwortete achselzuckend: »E Sängerin? Ich waaß net! Es kreischt als so aane!«

Mehr wußte sie nicht.

Und die Sängerin »krisch« noch öfters.

Am nächsten Abend ertönten freilich nur Vokalisen und leichte Gesangsetüden. Das war wenig genußreich für Benno, aber er war vernünftig genug, einzusehen, daß dieses Übel notwendig war.

Dafür wurde er zwei Abende später reichlich entschädigt: er bekam nicht nur das schöne Schumannsche Lied mehrfach zu hören, sondern auch den dankbaren »Lenz« von Hildach und das flott-triviale »Noch sind die Tage der Rosen«.

Lauter Frühlingslieder! sagte er sich. Es muß ein junges, frisches Geschöpf sein, das aus Lust am Singen ihre Lieder in den Abend jauchzt.

Er konnte ja nicht wissen, daß die unbekannte Sängerin diese drei Lieder für das Stiftungsfest des Schornsteinfegervereins »Die lustigen Rauchfänger« einstudierte.

Der Abendgesang wurde ihm bald etwas Vertrautes, etwas, worauf er wartete und sich freute.

Und an den Abenden, da der Gesang ausblieb, empfand er eine Enttäuschung und gab bei den Diskussionen mit seinem Hausherrn über die Seele des Menschen auffallend pessimistische Ansichten zum besten.

Bald hatte er auch herausgebracht, aus welchem Fenster der Gesang ertönte: aus dem vierten Stock einer benachbarten Mietskaserne.

Viertes Stockwerk – also gehörte die Sängerin der weniger bemittelten Volksschichte an, und das war ihm, aus einem unklaren Gefühl heraus, angenehm.

Auch das entsetzliche Klavier, das Benno Stehkragen ein gelindes Grauen einflößte, ließ darauf schließen, daß die Besitzerin keineswegs an Geldüberfluß litt.

So is die Welt, meditierte Benno Stehkragen. Könnte die Antonie Hochberg von der Bockenheimer Landstraß’ nicht einmal eine halbe Handvoll Coupons dazu verwenden, einem armen talentierten Mädchen ein anständiges Klavier zu bescheren? Nur zwei, drei Perlen aus ihrem Halsband hätte sie zu opfern brauchen, um ein erstklassiges Instrument zu erstehen!

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