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Benno Stehkragen

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Er schwieg.

So eine lange Rede hatte der schweigsame Benno Stehkragen noch nie gehalten.

Die Kollegen schauten verwundert auf, Wittmann grinste geringschätzig, und Martha blickte den sonderbaren Sprecher groß an.

»Ich habe keineswegs über Ihren Namen gelächelt,« sprach sie und log gutmütig, »wirklich nicht!«

Aber Benno hatte sich schon wieder über seine Arbeit gebeugt und hörte gar nicht mehr hin. Er bereute auch schon, so viel gesprochen zu haben. Unerklärliches hatte ihn dazu gezwungen. Er wollte in den Augen dieses Mädchens nicht lächerlich erscheinen und hatte nun das bittere Gefühl, sich doppelt lächerlich gemacht zu haben.

Sicherlich hat se kein Wort von dem verstanden, was ich ausdrücken wollt’, dachte er.

Aber eine heimliche Stimme sagte ihm: Se hat’s doch verstanden. Sie is so schön und se muß ein gutes Gemüt haben!

Nachdem sie in das Wechselbureau zurückgekehrt waren, teilte Rittershaus Martha ihre Arbeit zu. Sie hatte die einlaufenden Wechsel in ein großes Buch einzutragen und mit dem Gummistempel »Industriebank« zu versehen, in dessen Mitte die laufende Nummer des Wechselbuchs zu schreiben war.

Dabei mußte sie prüfen, ob die Wechsel richtig ausgestellt waren, ob sie die vorgeschriebene Stempelmarke trugen, und ob die Girierungen stimmten.

Ferner hatte sie das Kopierbuch zu registrieren, die Kopien der am vorigen Tage abgegangenen Fakturen nachzurechnen.

»Zur Übung!« hatte Rittershaus gesagt.

»Damit de die Schlafkrankheit kriehst!« hatte der dicke Rehle sie belehrt.

Zwischendurch gab es kleine Gänge in die anderen Bureaus, Anfragen, Antworten, Schriftstücke zu holen und zu bringen.

Um elf Uhr verließ Rittershaus das Bureau, um an die Börse zu gehen, und das war das Zeichen, die Arbeit einzustellen und eine allgemeine Plauderstunde zu eröffnen, bei der der dicke Rehle das große Wort führte.

»No, was gibbt’s dann Neues, Scheckel?« wandte er sich an die zunächstsitzende Beamtin. »Wo hat er dich denn gestern awend hiegefiehrt? Is er brav gewese, odder hat er widder zu viel nach de annern Mädercher geguckt?«

Rehle hatte für jede Beamtin einen Spitznamen erfunden, dessen nur er sich bedienen durfte.

Da war die »Scheckel« (»so haaßt nemlich unser ahl’ Katz!«), da war das »Fräulein Hipperich«, das nach seiner Erläuterung »Quecksilwer im Leib hat, awwer ’s Wetter net aazeigt«, und die »Madamm’ Ungnädig«, eine kleine schwarze Hexe, die einmal dem guten Papa Rehle einen scherzhaft gemeinten, aber unvermutet kräftig ausgefallenen Backenstreich versetzt hatte, so daß sie selbst ganz erschrocken war.

Und bald hatte auch Martha ihren Spitznamen: die »Prinzessin von Kopierbuchshausen«.

Merkwürdig: Wittmann hatte sie Gräfin tituliert, Rehle erhob sie gar zur Prinzessin.

Und doch war es nur ihre lachende Jugend, die sie mit einem Glanz von Hoheit umgab und jeden für sie einnahm, der mit ihr sprach, vom gestrengen Direktor Hermann bis hinab zum alten unbestechlichen Binder und dem stets übersehenen Benno Stehkragen.

Nachmittags erwartete Martha die gleiche eintönige Arbeit. Erst als Rittershaus bemerkt hatte, daß sie eine flotte, gutleserliche Handschrift hatte, ließ er sie gelegentlich auch Fakturen schreiben. Aber das war nicht viel interessanter.

Martha war beliebt bei den Kollegen. Das hinderte jedoch keineswegs, daß sich alsbald der Bankklatsch mit ihrer Person und ihren Privatangelegenheiten beschäftigte.

Denn der Klatsch ist eine Giftpflanze, die in jedem Klima und auf jedem Boden gedeiht.

Man hatte herausgebracht, daß sie die Tochter solider Kleinkaufleute aus Hannover war.

Weshalb betätigte sie sich nicht im Geschäft ihrer Eltern? Weshalb ging sie unter fremde Leute, in eine fremde Stadt? Da mußte etwas dahinterstecken.

Und bald löste sich der Klatsch auf seine Art das Rätsel. Natürlich war es ein weibliches Gehirn, dem die Fabel entstammte, die allgemeinen Glauben fand: Martha hatte ein uneheliches Kind und sich deshalb mit ihrer Familie überworfen.

Bis diese Neuigkeit aus den Parterreräumlichkeiten hinauf in das Dachgeschoß gestiegen war, hatte sich die Fabel bereits zu einem Roman ausgewachsen: Das Kind, ein Junge, stammte von einem Grafen, und das dumme Ding hatte sich eingebildet, der Graf würde sie heiraten.

Andere wußten es wieder besser: Das Kind, ein Mädchen, stammte von einem Metzgermeister, aber der konnte sie nicht heiraten, denn er war bereits verheiratet und hatte vierzehn Kinder.

Schließlich behauptete sich siegreich die Wendung: Es waren überhaupt Zwillinge, und der eine war kurz nach der Geburt gestorben.

Die Vaterschaft wechselte, das Kind blieb.

Auch zu Benno Stehkragen war diese Verleumdung gedrungen. »Wisse Se ’s schonn: die Böhle hat e ledig Kind?«

»Von mir aus,« hatte Benno achselzuckend erwidert.

Und hatte sich heimlich gedacht: E Glück, daß ich kein Weib bin! Mir täten se e ganzes Säuglingsheim andichten!

Damit war die Angelegenheit äußerlich für ihn erledigt.

Innerlich freilich beschäftigte sie ihn noch lange. Wäre es möglich, daß ein so lachendes Geschöpf, dem der Frohsinn jauchzend von den Lippen sprang, so Schweres erlebt hätte?

Denn eine Entbindung, das mußte etwas ganz Schreckliches sein. Benno war wirklich froh, daß er kein Weib war.

Und von dem Geliebten verlassen werden – nein, sagte sich Benno, wem so was passiert, der kann sein ganzes Leben nicht mehr lachen.

Und gar aus der Familie ausgestoßen zu sein – das war für seinen in jüdischen Traditionen erzogenen Sinn der schrecklichste der Schrecken, ein Unglück, dem kein zweites glich.

Nein, nein, das alles war gemeiner Klatsch, Neid, Bosheit! Pfui über die schlechten Menschen!

Und doch: Es kamen im Leben so seltsame Sachen vor, Dinge, die man sich gar nicht erklären konnte, und die dennoch Wirklichkeit waren … Ach, wenn man ihm die dumme Geschichte doch gar nicht erzählt hätte!

Als Benno Stehkragen sich dermaßen den Wuschelkopf zerbrach, war Martha bereits nicht mehr im Wechselbureau beschäftigt.

Es war zwischen ihr und Rittershaus zu einem Krach gekommen. Rittershaus hatte sie, die er ihrer Lebhaftigkeit wegen nicht leiden konnte, angeschrien, Martha hatte ihm eine zwar zutreffende, aber reichlich kecke Antwort gegeben, und das Ende vom Lied war, daß Rittershaus, vor Wut an allen Gliedern zitternd, in die Direktion lief, um die Entlassung »dieser Person« zu verlangen.

»Des hast de gut gemacht!« ermunterte Rehle, indessen Martha die Tränen in den Augen standen. »Endlich hat er’s doch emol zu heern krieht, was er for e Dreckspatz is!«

Und zu den übrigen Beamtinnen gewandt: »Nemmt euch e Beispiel draa! Aach du, Madamm Ungnädig! Des is gescheiter, als ehrwerdige Familjevätter uff de Backe zu haage!«

Fünf Minuten später saß Rittershaus triumphierend wieder auf seinem Platz, und Martha wurde in die Direktion befohlen.

Direktor Hermann empfing sie sehr ungnädig.

»Wie können Sie sich unterstehen, einem alten verdienten Beamten eine solche Antwort zu geben! Sie sind wohl nicht recht bei Troste?«

Martha blickte ihm gerade ins Gesicht. Ihre Tränen waren versiegt. Sie war völlig mit sich im reinen und sagte mit ruhiger Stimme, mehr um den Fall aufzuklären als zu ihrer Verteidigung: »Er hat mich in einem Ton angeschrien, den ich nicht gewöhnt bin! So schreit man keine Dame an!«

»Wir haben hier keine Damen, sondern nur Beamtinnen!« erklärte Hermann schroff. »Merken Sie sich das gefälligst! Sie werden Herrn Rittershaus um Entschuldigung bitten.«

»Nein!« rief Martha lebhaft, »das werde ich nicht tun!«

Der Direktor zerbiß seinen Schnurrbart. Es war schwer zu entscheiden, geschah es, um seinen Ärger oder um eine aufkeimende Vergnügtheit zu verbergen? Er erhob sich jäh und kreuzte in langsamen Schritten das Zimmer.

»Wir pflegen Disziplinlosigkeit unbarmherzig mit Entlassung zu beantworten,« sprach er heftig. »Unbarmherzig! Verstehen Sie, Fräulein Böhle? Unter keinen Umständen lassen wir so was einreißen! Unter keinen Umständen!«

Er wandte sich nach Martha und schien eine Einwendung zu erwarten.

Martha stand mit trotzig aufgeworfenen Lippen da. Ihre Augen funkelten, aber sie antwortete nichts.

Hermann setzte seine Wanderung durch das Zimmer fort, blieb am Fenster stehen, schob die Gardine zurück, sah auf die Straße hinunter und sagte nach einer Weile, mehr zur Fensterscheibe als zu Martha: »Aber diesmal wollen wir in Anbetracht Ihrer Unerfahrenheit eine Ausnahme machen. Aber nur dieses eine Mal!«

Und plötzlich drehte er sich um, ging auf Martha zu und sprach mit beinahe väterlichem Wohlwollen: »Sie müssen sich nicht gleich so aufregen, Kindchen! Meinungsverschiedenheiten gibt es überall auf der Welt! Auch hier in der Bank! Ausgenommen natürlich in der Direktion!«

Dabei streifte sein Blick mit leisem Lächeln die Glatze des Direktors Birron, der in das Kursblatt vertieft dasaß und überhaupt keine Notiz davon genommen hatte, daß jemand in das Zimmer getreten war.

Als Martha immer noch nichts entgegnete, nahm er unvermittelt wieder seinen schneidenden Geschäftston an: »Sie werden von heute mittag ab im Couponbureau arbeiten! Melden Sie sich bei Herrn Wittmann! Und jetzt gehen Sie sofort nach Hause!«

Er setzte sich grußlos wieder an seinen Schreibtisch.

Doch als die Tür ins Schloß gefallen war, blickte er nochmals auf und schmunzelte: »Ein famoser Racker! Meinen Sie nicht auch, Kollege Birron?«

»Es wird schon recht sein!« brummelte es hinüber. »Ganz wie Sie wollen, Herr Kollege!«

Martha holte ihr Jackett und ging nach Hause.

»No?« frug der alte Binder. »No, Fräulein Böhle? So frieh schon haam? Hat’s was gewwe?«

Und nachdem er ohne Erregung Auskunft erhalten hatte, meinte er: »Des hätt’ ich Ihne im voraus sage könne! E Mädche wie Ihne läßt merr net so mir nix, dir nix fort! Also zum Wittmann komme Se? Schad’! Des dhut merr laad! Nemme Se Ihne in acht vor dem! Des is e Heimticker! Unner uns Parrersdöchter gesacht!«

 

»Na, sehen Se,« begrüßte Wittmann am Mittag Fräulein Böhle. »Na, sehen Se: Schöne Seelen finden sich zu Wasser und zu Lande! Die Götter haben mein Flehen erhört.«

Ganz wie damals, als Rittershaus vorgestellt hatte: »Fräulein Böhle, unsere neue Kollegin – Herr Wittmann,« machte er eine leichte Verbeugung und streckte ihr die Hand hin:

»Auf gute Kollegenschaft, Fräulein!«

Und diesmal ergriff Martha herzhaft die dargebotene Hand und lächelte:

»Auf gute Kollegenschaft!«

Sie hatte in der Zwischenzeit manches gelernt und fühlte aus dem Ton salopper Vertraulichkeit, den sich die meisten Beamten im Verkehr mit den weiblichen Angestellten erlaubten, kaum mehr die Ungezogenheit heraus.

Wittmann sah sich im Bureau um. »Wohin plazieren wir Sie denn? Dahinten, gegenüber von Herrn Stehkragen, is noch ’n Sitz frei. Also nehmen Se Platz, und schmücken Se unser Heim!«

Und so kam es, daß Benno Stehkragen, wenn er von seinem Drehstuhl nicht nach rechts, nicht nach links, sondern geradeaus schaute, das höchst sehenswerte Fräulein Böhle erblickte.

Und er guckte jetzt öfter von seiner Arbeit auf, als es sonst seine Gewohnheit gewesen war, und seine beweglichen dunklen Augen nahmen dabei einen ruhigen, beschaulichen Blick an.

Etwa so, als betrachte ein Kunstfreund aufmerksam ein seltenes Meisterwerk, das immer neue Wunder offenbarte.

Das erstemal am Tag schaute Benno Stehkragen des Morgens, wenige Minuten nach acht Uhr, empor, wenn Martha sich niedersetzte.

»Guten Morgen, Herr Stehkragen!« sagte sie dann, indem sie die Schreibärmel überstülpte.

»Guten Morgen, Fräulein Tulpe!« erwiderte Benno und erntete ein freundliches Lächeln.

Er begrüßte sie jeden Vormittag mit einem anderen Blumennamen, und ihm schien an jedem Tag, daß just der heute gewählte Name am besten für sie passe.

Das zweitemal hoben sich seine altmodischen Brillengläser gegen zehn Uhr, und dann sahen Bennos Augen zwei stattliche Schinkenbrote hinter Marthas kerngesunden Zähnen verschwinden.

Sein Blick frug ermunternd: »Schmeckt’s?«, und ein Gegenblick antwortete vergnügt: »Danke, ausgezeichnet!«

Und einmal phantasierte Benno vor sich hin: Wenn ich jetzt das Schwein wär’, von dem der Schinken abstammt – und ich wär’ gemästet – und ich tät’ drei Zentner wiegen, Gott behüt’ – und es käm’ der Metzger – und tät’ sagen: »Benno Schwein,« tät’ er sagen – »du mußt jetzt sterben! – Denn da ist ein reizender Gaumen – ein Gaumen von einer Königin – und die Königin muß notwendig zwei Schinkenbrote essen – sonst kann se kein Kopierbuch registrieren« – dann …

Er brach die Phantasie jäh ab, denn der Gedanke, ein Schwein, ein verbotenes, unreines Tier zu sein, war seinem strenggläubigen Gemüt doch zu schreckhaft.

Das drittemal guckte Benno Stehkragen geradeaus um dreiviertel zwölf Uhr.

Da fingen im Bureau die Vorbereitungen zur Mittagspause an. Die Federhalter wurden beiseite gelegt, Formulare in die Fächer eingeordnet, Schubladen, Schränke verschlossen, Hände gewaschen und gemächlich die Arbeitsjoppen mit den Straßenröcken vertauscht.

»Es is noch nicht Zwölf, meine Herrschaften!« rief Wittmann täglich gereizt.

Und erhielt täglich prompt die Antwort: »Ihne Ihr Uhr geht nach! Uff maaner is es schon drei Minute driwwer!«

Benno beobachtete, wie Martha die Schreibärmel herunterzog, sie glatt strich und in der Pultschublade verwahrte.

Von Samt und Seide sollten se sein, dachte er, und nicht von schundigem Leinen! – Und lauter rote Herzchen sollten drauf gestickt sein! – Und ganz oben das oberste Herzchen, wo die Sicherheitsnadel durchgeht, wenn se sich die Schreibärmel feststeckt – das wär’ dem Benno Stehkragen sein Herz – und tät’ jeden Morgen und jeden Nachmittag sagen: »Autsch, Se tun merr weh, Fräulein Reseda!« – Und es tät’ ein kleiner Blutstropfen herausquellen und den Schreibärmel hinunterlaufen – wo jetzt die schwarzen Tintenklexe hinunterlaufen – bis zuletzt der ganze Schreibärmel rot wär’! – Und dann tät’ se ihn wegwerfen und dem buckligen Benno Stehkragen sein Herz dazu …

»Mahlzeit, Herr Stehkragen!« sagte Martha und wandte sich zum Gehen.

»Mahlzeit!« sagte Benno und machte sich langsam fertig.

Am Portal der Bank aber holte er sie wieder ein und lief neben ihr her, die Kaiserstraße hinunter, vom Bahnhofsplatz bis zum Uhrtürmchen, ohne ein Wort zu sprechen.

Wie ein Hündchen lief er neben ihr her. Und seine Gedanken liefen dabei die konfusesten Pfade, die alle von dem Wegweiser »Wenn« abzweigten.

Diese Begleitung war Martha etwas lästig.

Aber sie wollte den spaßhaften Bureaugenossen nicht kränken, und so ließ sie ihn gewähren. Bis zum Uhrtürmchen. Dort nickte sie ihm zu, sagte »Adjö!« und stieg in die Elektrische.

Benno bog in die Promenade ein, ging durch die Große Gallusgasse, über den Roßmarkt, nach dem koscheren Restaurant, in dem er seit Jahren zu Mittag speiste.

Und Marthas »Adjö« begleitete ihn auf seinem Weg und leuchtete ihm voraus wie der Stern den heiligen drei Königen.

Dieses »Adjö« schwamm als Markklößchen in der Suppe, kicherte ihn an aus den Preißelbeeren und lachte ihm als Rosine aus dem Schalet entgegen.

Und die kleinen Bläschen, die im Selterswasser aufstiegen, das waren lauter kleine, goldhelle »Adjös«, und die Serviette, mit der er sich zum Schluß den Mund abwischte, das war einer von ihren Schreibärmeln, und der Mundwischer war ein scheuer, andächtiger Kuß.

Benno Stehkragen erwachte erst erschrocken aus seinen Träumen, wenn der Oberkellner, der stoppelbärtige Josef, der ebenso zum Inventar des koscheren Restaurants gehörte wie Benno zum Inventar der Industriebank, unaufgefordert an seinen Tisch trat und diskret frug: »Hawwe Se net gerufe, Herr Stehkrage’? Unn ich wollt’ Ihne aach sage, Ihne Ihr Abonnementskaart is abgelaafe! Ich habb’ Ihne gleich e neu’ ausgestellt!«

Er überreichte auch sofort die neue Abonnementskarte, indem er dabei mit der Serviette wedelte wie eine fliegengeplagte Kuh mit dem Schwanz und wußte: Jetzt gab es eine Mark Trinkgeld.

Das war die seit vielen Jahren zwischen ihm und diesem Stammgast übliche Taxe, die als Trinkgeld ausreichte für die zwölf Mahlzeiten, über die die Karte lautete.

Hätte ihm Benno einmal versehentlich nur neunzig Pfennig gegeben, so würde der stoppelbärtige Josef mit ruhigem Gewissen gesagt haben: »Se hawwe Ihne geerrt, Herr Stehkrage’!«

Und hätte ihm Benno mehr gegeben, so würde er den Betrag zwar eingesteckt, aber dabei sich gedacht haben: Er is meschugge wor’n! No ja, halb war er’s schonn immer!

Zum vierten Male sah Benno nach Martha mittags um ein Viertel über Zwei.

Dann erst traf sie im Bureau ein, wie es denn überhaupt die Angestellten nachmittags mit der Pünktlichkeit nicht allzu genau nahmen.

Denn um zwei Uhr waren die meisten Bureauchefs und Prokuristen, die die Börse besuchten, noch beim Mittagessen. Die Junggesellen unter ihnen leisteten sich sogar noch ein Verdauungsviertelstündchen im Kaffeehaus.

Die Nachmittagsunpünktlichkeit und die darauffolgende halbe Stunde süßen Nichtstuns, das sich freilich unter dem Schein eifrigster Arbeit verbarg, war übrigens den Beamten wohl zu gönnen. Denn gegen dreiviertel drei Uhr trafen die Ausgeher mit den Auftragsbüchern, Notizheften, Telegrammen von der Börse ein und brachten eine Unmenge Arbeitsstoff, der unter allen Umständen bis sechs Uhr abends bewältigt sein mußte.

Von Bureau zu Bureau wanderten diese Auftragsbücher und Notizhefte – jedes wollte sie zuerst haben – jedes fand, daß man sie in den anderen Bureaus über Gebühr lang zurückhielt. Streit und Schimpfen begannen als würdige Einleitung zu der Arbeitshetze, die nun alltäglich einsetzte.

Da gab es Stöße von Fakturen auszuschreiben, zu berechnen, nachzurechnen, Wertpapiere aus den Schränken und Gewölben zu entnehmen, vielseitige Nummerverzeichnisse anzufertigen, Couponbogen und Coupons auf ihre Richtigkeit zu prüfen, Wechsel zu girieren, endlose Einträge in dicke Bücher vorzunehmen, Briefe, Briefe, Briefe zu schreiben.

Da gab es Dutzende von Unklarheiten, Mißverständnissen, Fehlern, ewig wiederkehrenden Dummheiten.

Telephone und Haustelephone läuteten ununterbrochen, gellende Klingelzeichen riefen Angestellte in die Direktion und zu den Prokuristen, Türen wurden heftig zugeschlagen.

Jedermann befand sich in gereizter, überhitzter, aggressiver Stimmung, die sich bei der geringsten Kleinigkeit in Grobheiten und Wutausbrüchen entlud.

»Zum Donnerwetter, was legen Sie da für einen Wisch auf meinen Platz?«

»Das ist nicht meine Arbeit! Das geht mich gar nichts an!«

»Fragen Sie nicht so albern! Woher soll ich das wissen?«

»Es gibt doch nichts Dümmeres auf der Welt als ein Weib! Wenn wir nur keine Weiber mehr im Geschäft hätten!«

»Sie sehen doch, daß ich jetzt keine Zeit hab’! Scheren Sie sich zum Kuckuck!«

»Ach was, beschweren Sie sich bei der Direktion, wenn’s Ihnen nicht paßt!«

Mitunter wurden sogar Ohrfeigen angeboten, und manchmal kam es um ein Haar zu Tätlichkeiten.

Nur ein Beamter ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, das war der dicke Rehle. Rauchend und schnupfend behauptete er seinen Schalterplatz im Wechselbureau, mit unerschütterlichem Humor gefeit gegen alle Anstürme.

»Fräulein Scheckel, komm emal ’ebei! Schleich dich emal zu merr, mei Herzche! Was hast de dann da widder for’n Stiwwel zesammegerechent?«

Und nachdem das Fräulein »Scheckel« zerknirscht seinen Fehler eingesehen hatte:

»Da hast de mei Radiermesser! Geh hin unn besser’ dich! Sonst kriehst de dei Lebdag kaan Mann unn sterbst als ahl Jungfer, mit eme Mops unn zwaaundreißig falsche Zähn’!«

Es wäre freilich praktischer gewesen, das Fräulein hätte gleich ein Loch in die falsche Nota radiert. Denn die Rasur entging nicht dem geschärften Auge Rittershausens, dem alle Schriftstücke, ehe sie das Bureau verließen, vorgelegt werden mußten.

Und alsbald krähte seine langweilige Stimme: »Radierte Notas dulde ich nicht! Fräulein Bär, schreiben Sie die Nota ab!«

Vorsichtshalber zerriß er sie gleich in zwei Hälften.

»Schreib’ die Nota ab,« echote der dicke Rehle. »Merr hawwe ja Zeit! Es is noch lang bis Mitternacht!« –

»Guten Tag, Herr Stehkragen!« begrüßte Martha ihren Pultgenossen nachmittags.

»Guten Tag, Fräulein Nelke!« erwiderte Benno.

Sie quittierte die naive Huldigung wieder mit einem freundlichen Lächeln und reichte ihm gewohnheitsmäßig ihren Bleistift und Tintenstift zum Spitzen hin.

Benno war durch jahrelange Übung ein Künstler auf diesem Gebiete geworden.

So ein Bleistift is wie eine Zwiebel, dachte er. Da kommt auch immer eine Schal’ nach der anderen, bis merr auf den Kern stößt. Oder man kann auch sagen: er is wie ein Verband, oder wie e Wickelgamasch’!

Für alle Dinge und kleinen Ereignisse seines Lebens fand er Vergleiche und Bilder. Und wenn auch diese Metaphern oft recht kindlich und töricht waren, sie bereiteten doch seinem talmudistisch geschulten Geist eine harmlose Freude und eine gewisse Genugtuung, die nicht ganz frei war von unschuldiger Eitelkeit.

»Danke schön!« empfing Martha ihre messerscharf gespitzten Stifte zurück, die ihr der kleine, bucklige Benno mit der Grandezza eines Mundschenks überreicht hatte.

Und dieses »Danke schön« klang noch tausendmal schöner als vormittags das »Adjö«.

Das »Adjö«, das war das silberhelle Klingen einer Tischglocke, dieses »Danke schön« aber, das war das bedeutungsvolle Dröhnen der Sturmglocke oben im Dom, die nur bei Großfeuer geläutet wurde.

Und es war ja ein Großfeuer entstanden: Schon brannte der kleine Benno Stehkragen lichterloh.

Gegen vier Uhr gab es in der Industriebank eine kleine Vesperpause.

Die meisten Beamten, bis über den Kopf in dringlichen Arbeiten steckend, begnügten sich damit, ihre Brote und Brötchen auszupacken, um unter der Arbeit hie und da einen Happen abzubeißen.

Die natürliche Folge war, daß es alle Tage einige Fettflecke auf Briefen und Fakturen gab, die nun neu geschrieben werden mußten, was ebenso natürlich die Ursache zu neuem Ärger, neuen Vorwürfen, Schimpfen und Gezänk abgab.

Im Couponbureau, dessen Tätigkeit weniger von der Börse abhing, so daß sich hier die Arbeit gleichmäßiger auf den ganzen Tag verteilte, gönnte man sich eine geruhigere Vesperpause.

Aber während dieser Vesperpause blickte Benno nicht zu Martha hinüber.

Denn in dieser Vesperpause trat Herr Wittmann an das Pult, um kauend sich ein bißchen mit Martha zu unterhalten.

 

Benno steckte seine Nase tiefer in die Couponpäckchen, er wollte nicht hören, was die da drüben plauderten. Er wollte nicht.

Aber er konnte doch nicht hindern, daß Marthas helles Lachen zu ihm herüberdrang, und daß einzelne Sätze an sein Ohr schlugen wie Peitschenhiebe.

Meistens sprachen die beiden vom Theater.

Martha ging oft in die Oper, und auch Herr Wittmann schien über die Vorgänge vor und hinter den Kulissen gut unterrichtet zu sein.

Es fiel Benno auf, daß Wittmann seltener die Kunstwerke als die darstellenden Künstler kritisierte, die er offenbar für den wichtigeren Teil hielt, und daß er nach Altfrankfurter Tradition mit Vorliebe, auf Kosten der gegenwärtigen Bühnenkräfte, ehemalige, zum Teil längst verstorbene Theatergrößen Frankfurts himmelhoch pries.

Gar bittere Empfindungen flammten in Benno während dieser Vesperpause empor.

Der reine Himmel seines Kindergemüts überzog sich mit dicken, schwarzen Wolken, die Sonne war erloschen, und ihm war, sie würde nie, nie mehr scheinen.

Am liebsten hätte er sich die Ohren mit beiden Fäusten zugehalten.

Am liebsten hätte er den Kopf in ein großes Tintenfaß gesteckt, wie der Nikolaus im Struwwelpeter die bösen Buben. Um nichts zu sehen und zu hören.

Wenn ich jetzt nicht der Benno Stehkragen wär’, dachte er, sondern der Benno Strauß, – dann tät’ ich mein’ Kopf in den Sand stecken – und tät’ nix hören – und nix gucken, – sondern ich tät’ nur ganz hinten mit der Schwanzfeder abwinken: »Hört auf! Aufhören sollt ihr!!« – und ich tät’ …

Am liebsten hätte er jetzt den Bleistift und den Tintenstift Marthas genommen, die Stifte, die er mit so viel Hingabe gespitzt hatte, und hätte wie ein unartiger Schuljunge absichtlich die Spitzen abgebrochen: »Da! Da! So! Das ist dafür, daß du mich so mißhandelst!«

Und Benno Stehkragen, der nie nach der Würde eines Bureauchefs gegeizt hatte, wünschte sich nun inbrünstig nur zwei Minuten Bureauchef zu sein, um gellend durch das Zimmer kreischen zu können: »Ruhe!! Während der Arbeitszeit wird nicht geschwätzt!«

Seine »Wenn«-Phantasien liefen in solchen Augenblicken keineswegs auf Menschheitsbeglückung hinaus; sie waren keine seligen Gefilde mehr, nein, es waren schluchtenverzerrte Abruzzengegenden, und mitten drin hauste er als wilder Räuber, Signor Benno Stehkragenino, der Schrecken der Berge, Fra Diavolo, Karl Moor, Schufterle, Spiegelberg, Kneißl und Rinaldo in einer Person.

Endlich begab sich Wittmann wieder an seinen Platz.

Kaum zehn Minuten hatte er mit Martha geplauscht – Benno schätzte die Zeit eine Ewigkeit.

Auch die übrigen Arbeitskräfte beobachteten mit Interesse die Vorliebe Wittmanns für das hübsche Fräulein Böhle. Aber sie regten sich deshalb nicht auf, höchstens klatschten sie ein bißchen darüber und sorgten dafür, daß auch in den übrigen Bureaus dieser Flirt bekannt wurde.

Im ersten Stock hieß es noch: »Herr Wittmann sucht Familienanschluß,« im zweiten Stock hieß es bereits, Fräulein Böhle und »ihr« Bureauchef seien Arm in Arm im Foyer des Zirkus Schumann gesehen worden, und im Dachgeschoß galt es als feststehende Tatsache, daß der Vater des nächsten Dutzends Böhlescher lediger Kinder – Wittmann heißen würde.

So blind ist der Klatsch, daß er gierig die ganz nichtigen Beziehungen Marthas zu Wittmann ergiebig ausbeutete, aber die verliebte Aufdringlichkeit Benno Stehkragens überhaupt nicht bemerkte.

Und welch dankbares Spottobjekt hätte der bucklige Benno als Liebhaber abgegeben!

Die Vesperpause war vorüber, und die Arbeitshetze in der Industriebank steigerte sich zur Tollwut. Und mit dieser Steigerung häuften sich natürlich auch die Fehler, Versehen, Mißverständnisse, und mit den Irrtümern der Verdruß und Skandal.

Man fand jetzt in sämtlichen Bureaus, daß viel zu wenig Arbeitskräfte vorhanden seien, und daß es eine Gemeinheit sei, an Personal zu sparen, nur damit die dickköpfigen Herren Aufsichtsräte und Direktoren fettere Tantiemen schlucken könnten.

Man sei doch kein Stück Vieh, daß man so schuften müsse. Und es sei überhaupt die höchste Zeit, daß sich einmal die Presse mit den unerhörten Zuständen in der Industriebank beschäftige.

Am lautesten schimpften natürlich diejenigen Herren, die am tiefsten vor den Direktoren zu knixen pflegten.

Je näher der Uhrzeiger auf Sechs vorrückte, desto geräuschvoller wurde es in den Bureaus. Keiner nahm mehr Rücksicht auf den anderen, jeder hatte genug mit sich selbst zu tun und arbeitete verzweifelt an dem Material, das vor und neben ihm hoch aufgeschichtet lag und nicht weniger werden wollte.

Über die Gänge hasteten Beamtinnen, die Stöße von Briefen und Wechseln zur Unterschrift in die Zimmer der Direktoren und Prokuristen schleppten, und die von einem Prokuristen abwehrend zum anderen geschickt wurden, denn keiner hatte jetzt Zeit. Es dauerte eine Ewigkeit, bis jeder Brief und jedes Dokument endlich die vorschriftsmäßigen zwei Unterschriften trugen.

Wer die erste Unterschrift gab, hatte die Pflicht, die Richtigkeit des Schriftstückes zu prüfen, und dabei gab es wieder Dutzende von Beanstandungen, Vorwürfen, Rüffeln.

»Herr Mayer soll ’rüberkommen!« schrie ein Prokurist durchs Haustelephon, und der unglückselige Mayer, der mitten aus seiner Arbeit geschreckt wurde, warf wütend die Feder hin: »Was paßt ihm denn schon wieder nicht, dem alten Schikaneur?!«

»Haben Sie das geschrieben? Es ist wirklich nicht zu glauben: Jetzt sind Sie schon fünf Jahr im Geschäft und können nicht einmal einen so einfachen Brief schreiben! Jeden Schmarren muß man selbst diktieren! Es ist zum Haarausraufen!«

Der Prokurist diktierte, der wutschnaubende Mayer stenographierte und fand natürlich, daß er selbst den Brief zehnmal klarer und deutlicher geschrieben hatte, und daß dieser Schafskopf von einem Prokuristen ein Deutsch von sich gab, dessen sich jeder Hottentotte geschämt hätte.

Und dann sauste Mayer wieder in die Korrespondenz und schrieb den verfluchten Brief zum zweitenmal und verhaspelte sich natürlich in seiner Aufregung – gerade im letzten Absatz des dreiseitigen Briefes – und mußte ihn noch einmal abschreiben! – Und endlich war das schwierige Werk gelungen, die zwei Unterschriften prangten darunter, und dann verwischte ihn beim Kopieren so eine »Gans von einer Bankbeamtin, die auch gescheiter Waschfrau geworden wäre«, und der Brief mußte zum viertenmal geschrieben werden.

Und Mayer bewunderte seinen eigenen Edelmut, daß er nicht den Nächstbesten umbrachte.

Wie hatte doch der alte Binder bei Marthas Eintritt in das Unternehmen gesagt?

»No, da sin Se ja gleich in de richtige Affe’stall komme!«

Etwas ruhiger ging es während dieses allgemeinen Tohuwabohus nur im Couponbureau zu.

Das war nicht zum wenigsten das Verdienst Wittmanns. Man konnte diesem Mann manches Böse nachsagen – er war ein rücksichtsloser Streber, ein roher Gewaltmensch und Grobian – aber niemand konnte ihm absprechen, daß er ein vorzüglicher Organisator, begabt mit einem Riesengedächtnis war, der unermüdlich arbeitete.

Was er in die Hand nahm, klappte. Mit Geschrei, Kränkungen, Ungerechtigkeiten – aber es klappte.

Es kam übrigens seit Marthas Versetzung in das Couponbureau nur noch selten zu Zusammenstößen zwischen Benno Stehkragen und Wittmann.

Wittmann wollte sich vor Martha keine Blöße geben.

Und Benno fühlte instinktiv, wer an dieser Veränderung die Schuld trug, und war Martha dankbar dafür. Denn wenn ihn auch die ordinären Anrempeleien Wittmanns nie sonderlich erregt hatten, sie waren ihm doch peinlich gewesen, wie alles Geräuschvolle.

»Sind Sie so weit, Herr Stehkragen?« frug Martha gegen fünf Uhr.

Benno, dessen Seele noch von Weh und Zorn verdüstert war, nickte grollend Bejahung.

Nun kam Martha zu ihm hinüber, und es begann das »Kollationieren«.

Benno nahm die an die Kundschaft abgehenden Fakturen, las sie der Reihe nach vor, und Martha verglich mit dem Couponbuch, in das alle Posten eingetragen waren.

Aus Rücksicht auf die arbeitenden Kollegen fand dieses Ablesen im Flüsterton statt.

Und dieses Geflüster kam Benno wie etwas ungemein Geheimnisvolles vor, beinahe wie ein tête-à-tête.

Nach jedem Posten machte er beim Verlesen eine kleine Pause, um Marthas bestätigendes »Stimmt!« zu hören.

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