Ausgeflaust - Jugendliche führen

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2.3 Reflexion des eigenen Führungsverständnisses

Wenn wir uns über Führungsprinzipien unterhalten, braucht es auch einen Moment der Reflexion. Wie kommt eigentlich mein höchstpersönliches Führungsverständnis zustande? Wir sind hierin von unseren eigenen Kindheits- und Jugenderlebnissen viel deutlicher geprägt, als wir wohl annehmen. Hinzu kommen ethische und philosophische Grundhaltungen, in Abbildung 2-2 als »Überbau« bezeichnet. Über die Jahre haben wir eine Haltung entwickelt, aus der wir ableiten, was den Jugendlichen wohl am meisten zum Guten gereicht. Und dies ist ja oft nicht das, was die Jugendlichen selbst sich am meisten wünschen. Das Spannungsfeld ist aber noch viel weiter. Möglichkeiten und Grenzen in unserem führungsspezifischen Handeln haben mit unseren Ressourcen zu tun – und mit unserer Erfahrung bzw. unserem Strategie-Repertoire. Dieses gilt es immer weiter auszubauen. Damit nehmen unsere Handlungsoptionen zu, und die Führung wird immer weniger als belastend empfunden. Es kommt ein weiteres Element ins Spiel: Es wäre ja (vielleicht) schön, wenn wir unser Handeln nur auf unseren Überbau und unsere Möglichkeiten abstützen könnten. In der Realität gilt es jedoch, unser Führen an die Kultur, ans Leitbild der Schule anzugleichen. Das ist nicht immer einfach, aber unumgänglich, wenn Führung nicht nur im einzelnen Schulzimmer, ­sondern auch in der ganzen Bildungsinstitution funktionieren soll.


Abbildung 2-2

Faktoren, die den eigenen Führungsstil beeinflussen

2.4 In und mit der Lerngruppe im Thema

Beim Classroom Management gibt es keine fixen Rezepte, die stets und in jeder Klasse funktionieren. Vom Wunsch nach dem Griff in die Trickkiste müssen wir uns verabschieden. Immerhin lassen sich auf die Frage nach dem geeigneten Führungsstil Handlungsempfehlungen formulieren, die sich aber auf die entsprechenden Situationen beziehen und sich nicht flächendeckend generalisierbar auf alle Klassen und sämtliche möglichen Kontexte anwenden lassen. Auch Rolf Dubs (2009) weist auf diese Tatsache hin: »Es gibt nicht einen richtigen Führungsstil der Lehrerin oder des Lehrers. Je nach Lern­zielen, Stand der Klasse (Anfänger/Fortgeschrittene) und Eigenschaften der Schülerinnen und Schüler ist ein anders gearteter Führungsstil einzusetzen« (S. 90). Dubs formuliert folgende grobe Faustregel: Bei kognitiv wenig anspruchsvollen Lernzielen und bei ängstlichen und unsicheren Lernenden mit bildungsfernem Hintergrund sollte eine stärkere Tendenz zur Struk­turierung und Lenkung des Unterrichts angestrebt werden. Dabei sei aber wichtig, dass dies mit großer Wertschätzung und Wohlwollen den Lernenden gegenüber geschehe. Dubs betont, dass »entgegen der immer wieder anzutreffenden Behauptung es offensichtlich weniger das Ausmaß von Strukturierung und Lenkung des Unterrichts ist, das das Klassenklima prägt, sondern vor allem die Wertschätzung, die eine Lehrkraft den Lernenden entgegenbringt« (ebd.).


Direkter Führungsstil Indirekter Führungsstil
Die Lehrperson …
legt die Organisation und den Ablauf des Unterrichts selbst fest. legt die Organisation und den Ablauf des Unterrichts in groben Zielen fest, passt sie aber an die Bedürfnisse und Wünsche der Lernenden an.
strukturiert die Lernprozesse selbst. gibt Impulse und hält sich mit der Strukturierung der Lernprozesse zurück.
steuert den Ablauf des Unterrichts. hält sich mit steuernden Einflüssen zurück, sorgt aber dafür, dass die Schüleraktivitäten im Gang bleiben.
gibt starkes Feedback (Verstärkung). ist mit dem Feedback zurückhaltend.
unterstützt bei Lernproblemen in gesteuerter Form. unterstützt bei Lernproblemen ohne starke Steuerung.
legt den Zeitplan verbindlich fest. bleibt mit dem Zeitplan flexibel.
Anwendung des direkten und indirekten Führungsstils
beim Erlernen von Grundlagen, wenn wenig Vorerfahrung und Vorwissen verfügbar ist … im Unterricht mit im jeweiligen Lernbereich fortgeschrittenen Schülerinnen und Schülern …
mit lernschwächeren Schülerinnen und Schülern … mit leistungsstarken und lerngewandten Schülerinnen und Schülern …
mit eher ängstlichen und unsicheren Schülerinnen und Schülern mit wenig Selbstvertrauen … mit wenig ängstlichen und selbstsicheren Schülerinnen und Schülern …
mit Schülerinnen und Schülern aus unteren, bildungsferneren sozialen Schichten … mit Schülerinnen und Schülern aus lerngewohntem Milieu …
mit weniger leistungsbereiten und motivierten Schülerinnen und Schülern … mit stärker leistungsbereiten und motivierten Schülerinnen und Schülern …

Abbildung 2-3

Direkter und indirekter Führungsstil im Vergleich.

Quelle: Dubs (2009), S. 92

In Unterrichtssequenzen, in denen strukturierte und flexible Elemente ­vorkommen, ist auch ein flexibles Führungsverhalten erforderlich. In einer eigenen Studie untersuchte Dubs schon Anfang der 1980er-Jahre vier verschiedene Möglichkeiten von Unterricht im Hinblick auf Lernerfolg und Klassenklima:

1. systematischen Unterricht mit direktem Lehrerverhalten,

2. systematischen Unterricht mit indirektem Lehrerverhalten,

3. exemplarischen Unterricht mit direktem Lehrerverhalten und

4. exemplarischen Unterricht mit indirektem Lehrerverhalten.

Fazit: »Den besten Lernerfolg erbrachten der systematisch-indirekte und exemplarisch-direkte Unterricht. Dies legt den Schluss nahe, dass im Unterricht strukturierte und flexible Elemente vorhanden sein müssen, was gegen den einzig besten Führungsstil spricht. Am meisten positive Veränderungen im Klassenklima ergaben sich beim systematisch-direkten und systematisch-indirekten Unterricht« (Dubs, 2009, S. 90).


Abbildung 2-4

Vier Möglichkeiten von Unterricht im Hinblick auf Lernerfolg und Klima. Eigene Darstellung nach Ergebnissen von Dubs.

Quelle: Dubs (2009), S. 90

Eine der Grundfragen des Lehrens und Lernens, die jede Lehrperson sich immer wieder stellen muss, ist: Was können die Lernenden in Bezug auf ihre Lernvoraussetzungen selbst erarbeiten, und was muss ich notwendigerweise lehren? Anders ausgedrückt: Was kann ich den Lernenden zumuten, und wie kann ich sie aktivieren – ohne in Aktionismus zu geraten?

Der Begriff »aktivieren« könnte zu Missverständnissen führen: Er meint hier das Hin- oder Zurückführen der Lernenden zum Unterrichtsstoff. Aktiv sind Lernende ja auch sonst oft, aber nicht immer mit Blick auf die Lern­inhalte und den eigentlichen Lernprozess. Es kann auch sein, dass die Klasse von der Unruhe und Ablenkung wieder in die ruhige Arbeitshaltung geführt werden muss – und dies gelingt besser durch Lernendenaktivierung als durch Lehrerzentrierung. Vorausgesetzt ist also immer, dass die geeigneten Sozialformen und Methoden verwendet werden. Frontalunterricht, Lehrgespräch und Klassengespräch sind nur vermeintlich lebendige Unterrichtsformen. Lehrerzentrierte, plenare Lehr-Lern-Formen bewirken eher träge Prozesse, die sich nur schwer lenken lassen. Selten steht das Thema so sehr im Brennpunkt des Interesses der Lernenden, dass unmittelbare Betroffenheit geschaffen werden kann. Natürlich mag es der Lehrperson mit ihren rhetorischen Fähigkeiten gelingen, die Zuhörenden über längere Zeit in ihren Bann zu schlagen. Aber wir wissen ja aus eigener Erfahrung, wie es uns bei längeren Vorträgen ergeht, egal, wie fesselnd jemand vorträgt.

In den frontalen Phasen steht die Lehrperson der Klasse quasi gegenüber. Die Lernenden werden mit dem Thema konfrontiert, statt dass sie ins Thema einsteigen können und dieses dadurch eine für alle gemeinsame Bedeutung bekommt. Im Frontalunterricht müssen die Lernenden ständig überzeugt, animiert und motiviert werden, damit sie dranbleiben. Warum also die Lernenden sich nicht eigenaktiv mit dem Thema auseinandersetzen lassen? Es ist ja genau das, was das Klassengespräch so träge und für alle ermüdend macht, dass die Lehrperson ständig versuchen muss, alle mit einzubinden, obwohl sie feststellt, dass sich einige innerlich abgemeldet haben. So lässt sich eine Lerngruppe oder Klasse kaum als Ganzes ansprechen, weil sich die Lernenden gar nicht persönlich angesprochen fühlen. Die Lehrperson richtet sich an die Klasse – und das sind eben die anderen.

 

Symbolisches Prinzip: Grenzziehung

Die Lehrperson steht abgegrenzt vor der Klasse, und zwischen Lehrperson und Klasse entsteht eine unsichtbare Grenze. Die Lehrperson kann gar nicht gleichzeitig mit der ganzen Klasse reden, sie kann nur zur Klasse sprechen. Dies gilt auch für das Klassengespräch.


Im lehrerzentrierten Unterricht verschwindet der Einzelne in der Anonymität der Klasse = Masse. Selbst während eines »Lehrgesprächs mit der Klasse« finden nur punktuelle Lehrpersonen-Lernende-Minidialoge statt, oftmals ist es einzig die Quittierung von kurzen Lernendenbeiträgen. Die große Mehrheit bleibt passiv oder wird aktiv in Form von »Nebenbeschäftigungen«, die sich als Störungen bemerkbar machen können. Die Verantwortung für das Lernen wird der Lehrperson implizit übertragen: »Ich verstehe es immer noch nicht, weil es der Lehrer schlecht erklärt …«

Abbildung 2-5

Lehrerzentrierter Unterricht. Symbolisches ­Prinzip: Gegeneinander von Lehrperson und Klasse

Durch Verändern und Variieren der Lernumgebung, der Methoden und Sozialformen kann die Lehrperson eine praktisch umsetzbare Störungs- und Konfliktprävention erreichen. Bei den lehrerzentrierten Lehr-Lern-Formen kommt hinzu, dass die Lernenden den Unterricht als sehr stark gelenkt er­leben, und auch dies ist nach Dubs kontraproduktiv. Es zeigt sich nämlich, dass ein stark lenkendes Führungsverhalten die Lernenden in ihrem Verhalten fügsam macht, einengt und jede Kreativität und Originalität im Keim erstickt. Zu Störungen führt dies deshalb, weil die lebendigen Prozesse mit ihrer vorhandenen Energie gleichsam aufgestaut werden, was wiederum zu erhöhter Aggressivität führt. Auch das Klassenklima leidet unter einem stark gelenkten Unterricht, da sich die Lernenden weder wertgeschätzt noch ernst genommen fühlen und zu unmündigen Marionetten degradiert werden.

Symbolisches Prinzip: Miteinander, Lehrperson In und mit der Klasse Im Thema.


Die Lerngruppe in das Thema eintauchen lassen, damit dieses eine für alle gemeinsame Bedeutung erlangt. Die Lehrperson hat nun folgende Funktionen: anleiten, beobachten, begleiten, beraten, unterstützen, und zwar nach dem Prinzip: So wenig wie möglich, so viel wie nötig. Falls ein/e Lernende/r den Arbeitsprozess stört, hat die Lehrperson nun Zeit, sich unmittelbar dem/der Lernenden mit »wohlwollender Präsenz« zuzuwenden und ihn/sie wieder in die Arbeit zu führen, denn die Lerngruppe bleibt aktiv. Die Verantwortung für das Lernen hat der/die Lernende gemäß »Zielvereinbarung « = Auftragsbeschreibung.

Abbildung 2-6

Unterricht in der Lerngruppe. Symbolisches Prinzip: Miteinander von Lehrperson und ­Lernenden

2.5 Die Balance macht’s aus

Einer der wichtigsten Führungsaspekte in der Klassenführung stellt das Balance-Prinzip dar. Es geht um das Gleichgewicht zwischen dem Beziehungsangebot auf der einen Seite und dem Sicherstellen von Ordnung und Struktur auf der anderen. Dieses Balance-Prinzip ist in der Sache einfach, im Vollzug indessen ungemein komplex und lebendig. Die nachfolgenden Erläuterungen dienen dem vertieften Verständnis des Prinzips in der Alltagspraxis.

In der folgenden Tabelle sind sechsunddreißig Thesen und Aussagen zu Unterricht und Erziehung aufgelistet. Treffen Sie eine Auswahl: Unter­streichen Sie die fünfzehn Aussagen und Thesen, die Ihnen am ehesten zu­sagen und die auch Ihre persönliche Meinung am besten wiedergeben. Beschränken Sie sich auf exakt fünfzehn Aussagen, auch wenn Sie mit anderen Thesen ebenso einverstanden sind. Notieren Sie sich die Nummern der entsprechenden Sätze für die spätere Auswertung weiter unten.


1. Erziehung beruht auf klaren Abmachungen und Regeln.
2. Erziehung ist eine Sache des Herzens.
3. Man sieht nur mit dem Herzen gut.
4. Die Lehrperson gibt durch eine konsequente Unterrichtsführung Sicherheit und ­Orientierung.
5. Jugendliche brauchen eine starke Hand, die sie führt.
6. Jugendliche brauchen mehr Freiraum als Grenzen.
7. Jugendliche müssen zuerst die Grenzen kennen, dann können sie sich entfalten.
8. Lehrpersonen müssen vor allem geduldig und tolerant sein.
9. Verlässlichkeit und Sicherheit ist in der Erziehung sehr wichtig.
10. Jugendliche soll man fördern und nicht ständig fordern.
11. Kompromisse sind in der Erziehung oftmals nötig.
12. Eine gute Lehrperson stellt ihre persönlichen Bedürfnisse in den Hintergrund.
13. »Erst die Arbeit, dann das Vergnügen« sollte der Leitspruch in der Erziehung sein.
14. Was richtig oder falsch ist, bestimmen nicht die Jugendlichen, sondern die Erziehenden.
15. Die Lehrperson soll nicht immer konsequent sein, sondern öfter auch einmal »fünf gerade sein lassen«.
16. Die Lehrperson sollte auf die Befindlichkeit der Lernenden eingehen.
17. Aufgaben- und Lernkontrollen haben im Unterricht höchste Priorität.
18. Die Lernenden müssen sich von der Lehrperson angenommen fühlen.
19. Lehrpersonen sind primär Förderer, nicht Forderer.
20. Die Lehrperson führt regel- und zielorientiert durch die Lektion.
21. Ein wertschätzender Umgang im Unterricht ist ein »lernentscheidender« Faktor.
22. Die letzten Entscheidungen fällt die Lehrperson.
23. Nur auf der Grundlage gegenseitigen Vertrauens kann Lernen stattfinden.
24. Ordnung und Disziplin schaffen die Voraussetzung für konzentriertes Arbeiten.
25. Lernende und Lehrperson bilden eine kooperative Lerngemeinschaft.
26. Den Grundanstand kann man bei Lernenden auf der Sekundarstufe II jederzeit einfordern.
27. Die Lehrperson sollte ihre pädagogische Vorgehensweise gegenüber den Lernenden stets begründen.
28. Regeln im Unterricht sollten mit den Lernenden ausgehandelt werden.
29. Im Unterricht sollte auch etwas von den Lernenden gefordert werden.
30. Grenzen ziehen können ist für jede Lehrperson wichtig.
31. Eine Lehrperson sollte auch ihre persönlichen Gefühle zeigen können.
32. Die Lehrperson sollte Rücksicht auf die momentane Stimmungslage der Lernenden nehmen.
33. Jugendliche sollen und wollen gefordert werden.
34. Jugendliche müssen sich in erster Linie wohlfühlen.
35. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – auch in Erziehung und Bildung.
36. Ein gut geplanter und organisierter Unterricht erleichtert das Erreichen der Lernziele.

Hier finden Sie die Auswertung.

Wenden wir uns nun aber zunächst den beiden bereits angesprochenen Grundprinzipien des Führens von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen zu: »Ordnung« und »Beziehung«.

Das Ordnungsprinzip

Die Grundbedingung, damit Lernen innerhalb einer Klassengemeinschaft (im Folgenden auch als »Lerngruppe« bezeichnet) stattfinden kann, ist Ordnung, Orientierung und Stabilität. Auch wenn ohne tragfähige Beziehungsbasis kein – oder kaum – Lernen stattfinden kann, ist das Schaffen einer Grundordnung (vgl. auch Kapitel 1.3) die Basis, um mit dem Unterricht beginnen zu können.

Das Bedürfnis nach Verlässlichkeit, Respekt und Orientierung ist bei den Lernenden unterschiedlich ausgeprägt, aber alle fühlen sich in einer auf Beliebigkeit aufgebauten Unterrichtsumgebung »alleingelassen« und höchst unwohl. Gerade in der Phase der Adoleszenz suchen Jugendliche nach Halt und Richtung, sie wollen schlicht und einfach wissen, woran sie sind, was sie erwartet und was von ihnen verlangt wird. Allerdings können sie in ihrer Selbstentwicklungsphase klare Spielregeln und verlässliche Vereinbarungen dann und wann ablehnen, und es wird eine gewisse Reaktanz sichtbar. Aber auch hier helfen klare Rahmenbedingungen, Orientierung zu schaffen: Jugendliche wissen erst durch Grenzsetzung, wogegen sie sein können, was sie kritisieren und diskutieren wollen. So gesehen ist eine Lernumgebung, die auf Verlässlichkeit, transparenten Prozessen, klaren Spielregeln usw. aufbaut, in jedem Fall – einerlei, ob sich die Lernenden ins Klassensystem einfügen oder ob sie bestimmte Erwartungen ablehnen – orientierungsreich, ja man könnte sagen: persönlichkeitsstrukturierend. Zudem führt eine solche Lernumgebung oft zur Beruhigung einer möglicherweise zuvor eher orientierungslosen Lerngruppe. Das »Prinzip Ordnung« zu leben bedeutet im Übrigen keineswegs lehrerlastigen Frontalunterricht, die Lerngruppe ist nie total fremdbestimmt. So können in einem Unterricht, der nach dem Ordnungsprinzip geführt wird, beispielsweise die Klassenregeln mit der Klasse auch zusammen, kooperativ und im gemeinsamen Prozess entwickelt werden. Wesentlich an dieser Art Klassenführung ist aber, dass die vereinbarten Regeln verbindlich und konsequent eingefordert werden.

 

Das Ordnungsprinzip kommt nach unserer Erfahrung vor allem Lernenden entgegen, bei denen die folgenden Anliegen im Vordergrund stehen:

klare Spielregeln

klare Aufträge und Informationen

Kontrolle vonseiten der Lehrperson (»Sie, ist das so richtig, wie ich das gerade mache …?«)

schnelles Beheben von Störungen und Konflikten

geordnete und nachvollziehbare Abläufe

eine ruhige und wenig hektische Lernumgebung

verlässliche und gerechte Lehrende

wenig Wechsel oder Veränderung

Anerkennung und Belohnung für Leistungen

Respekt vor der Lehrperson

Lernende, die sich nach dem Ordnungsprinzip richten,

sind pflichtbewusst

gehen strukturiert und planmäßig vor

organisieren sich und planen gerne

sind zielorientiert und verlässlich

packen Probleme pragmatisch an

sind stetig, manchmal zäh

können mit Ambivalenzen und allgemein mit Widersprüchlichkeiten nicht gut umgehen

wollen klare Anweisungen und Strukturen erkennen

arbeiten genau und sorgfältig

lernen, um ein Ziel zu erreichen

haben hohe praktische Intelligenz

Ordnungs- und strukturorientierte Lernende

»befassen sich am liebsten mit Fakten, und sie lieben es, wenn sie Rezepte oder Methoden anwenden können, um Probleme und Aufgaben zu lösen. Diese Lernenden repetieren den Stoff so lange, bis sie ihn beherrschen. Sie mögen es nicht, Fragen gestellt zu bekommen, die sie nicht im Voraus vorbereiten konnten. Sie erwerben sich den Lernstoff in einzelnen Schritten. Sie können Regeln gut verinnerlichen und anwenden. Allgemein gehen sie sehr diszipliniert an die Arbeit. Sie sind in der Regel fleißig und hören aufmerksam zu« (Lauper, 2009, S. 45).

Im Unterricht lässt sich die Orientierung am Ordnungsprinzip etwa an ­folgenden Merkmalen feststellen:

mehr darbietender und anweisender Unterricht

klare und verständliche Aufträge

gut strukturierter Unterricht

angemessenes Zeitmanagement

Bewahren der Übersicht

Controlling der erreichten Lernziele

Rhythmisierung der Lernziele

Möglichkeiten für Anwendung und Praxis

Kommunikation von Verbindlichkeiten und Regeln

Präsenz und eher autoritatives Auftreten

angemessenes Konfliktmanagement

klare Grenzen

Das Beziehungsprinzip

Wird das Ordnungsprinzip nun aber über längere Zeit überbetont, gerät das System Klasse ins Ungleichgewicht. Konkurrenzverhalten unter den Lernenden wird dadurch genauso gefördert wie Dienst nach Vorschrift und übermäßiges äußerliches Anpassungsverhalten.

Deshalb ist es von hoher Bedeutung, dass die Lehrperson ebenso das Beziehungsprinzip lebt. Natürlich können wir das Beziehungsangebot dann am besten praktizieren, wenn die Lerngruppe bereits in eine kooperative Arbeitshaltung geführt worden ist. In einer Lerngruppe, die das Lernangebot im Unterricht interessiert und arbeitswillig aufnimmt und schon größtenteils selbstständig Aufträge erledigt, ist es für die Lehrperson leicht, eine positive und wertschätzende Haltung einzunehmen, sie wird sich sogar freuen, mit der Klasse zu arbeiten. Es gehört aber zum Unterrichtsalltag, dass Lernende nicht immer und von jedem Unterrichtsthema begeistert sind. Wir haben noch nie eine Klasse angetroffen, die begierig an der Tür scharrte, bis sie endlich ins Klassenzimmer durfte. Und auch das Bild ist unvertraut, dass die Lernenden bei der Ankündigung, eine Lektion falle aus, in eine tiefe Depression fallen. Dennoch darf jede Lehrperson davon ausgehen, dass sich die Lernenden in einem Unterricht, in dem ihre Leistungen und ihre Persönlichkeit Wertschätzung erfahren, wo sie gefördert und unterstützt werden, sehr wohlfühlen. Aus all diesen Gründen muss auch das zweite Prinzip, Beziehung, im Unterricht gebührend zum Zug kommen.

Das Beziehungsprinzip kommt vor allem Lernenden entgegen, für welche die folgenden Anliegen im Zentrum stehen:

eine gute Beziehung zur Lehrperson

in die Klasse integriert sein

Akzeptanz und Wohlwollen

ein »Wir-Gefühl« in der Lerngruppe

Anerkennung des Werts jedes und jeder einzelnen Lernenden

ein angenehmes, angstfreies Klassenklima

Harmonie

unbelastete und kooperative Interaktionen

gegenseitige Hilfe und Unterstützung

Lernende, die sich nach dem Beziehungsprinzip richten,

lieben Gemeinsamkeit und Zusammenarbeit

reagieren emotional weniger stabil und sind irritierbar

sind kommunikativ, interaktiv und empathisch

erkennen Konfliktpositionen früh

nehmen Stimmungen und Befindlichkeiten wahr

sind hilfsbereit und lassen sich auch gerne helfen

lernen lieber in der Gruppe als alleine

brauchen viel soziale Interaktion

lernen über eine gute Beziehung zur Lehrperson

haben eine entwickelte soziale Intelligenz

Beziehungsorientierte Lernende

»werden vor allem aktiv, wenn die Lernprozesse durch die Interaktionen mit anderen Menschen angeregt oder durch solche zusätzlich gefördert werden. Zudem ist für beziehungsorientierte Lernende der Alltagsbezug wichtig. Sie lieben Geschichten und Beispiele aus dem Leben und schätzen Partner- und Gruppenarbeit, ­Diskussionen, gegenseitiges Abfragen und gemeinsames Lesen. Sie sind über Be­ziehungen stimulier-, aber auch irritierbar. Sie sind kooperativ und bereit, zum ­Gelingen der gemeinsamen Lernprozesse beizutragen« (Lauper, 2009, S. 45).

Unterricht, der sich am Beziehungsprinzip ausrichtet, hat die folgenden Merkmale:

Möglichkeiten für soziale Interaktionen sind zahlreich vorhanden

Zeitfenster für Erfahrungsaustausch werden geboten

der emotionale Bezug zum Lernstoff ist wichtig

der Bezug zur Lebenswelt der Lernenden ist sichergestellt

verschiedene Sozialformen kommen zum Zuge

die Förderung der Kooperation hat einen hohen Stellenwert

soziale Integration aller Lernenden wird angestrebt

eine konstruktive Lernkultur ist sichtbar

Dialogbereitschaft ist vorhanden

auf Unterstützung, Begleitung, Förderung der Lernenden wird Wert gelegt

Führen als Balanceakt: Ordnung und Beziehung ins Gleichgewicht bringen

Was bedeuten nun diese beiden Prinzipien für die Unterrichtsführung? Einerseits balancieren Lehrpersonen in ihrer Klassenführung beide Führungsprinzipien ständig aus. Das absolute Gleichgewicht, als Idealannahme, lässt sich im Alltag selten verwirklichen, ist auf der anderen Seite auch nicht immer erwünscht. Wir können davon ausgehen, dass es auch in dieser Hinsicht den »richtigen« Führungsstil, der sich an nur einem Prinzip orientiert, nicht gibt. Vielmehr müssen wir ständig von Neuem entscheiden, ob wir mehr nach dem Ordnungsprinzip führen sollen, weil beispielsweise die Regel­verstöße und Störungen usw. in der Klasse zunehmen – oder mehr nach dem Beziehungsprinzip, um die Klasse mehr in die Kooperation zu bringen, die im Augenblick nur ansatzweise vorhanden ist.


Abbildung 2-7

Führen als Balanceakt zwischen Beziehung und Ordnung im asymmetrischen Beziehungskontext von Lehrenden und ­Lernenden

Beide Pole, Beziehung und Ordnung, bergen im Übrigen in ihren Extremausprägungen Gefahren und Missbrauchspotenzial. Die Wirkung einer stark beziehungsorientierten Führungshaltung wird bei den Lernenden auf Dauer zu mehr Eigenmächtigkeiten führen, da solches Verhalten durch die Lehrperson eher toleriert wird. Auch Konflikte unter Lernenden und Mobbing nehmen dann zu.

Auf der anderen Seite wird eine übermäßig ordnungsbezogene Führungshaltung im Unterricht die Lernenden in ihrer Kompetenzentwicklung hemmen, das Lernen wird durch Ängste und Stresssituationen behindert oder eingeschränkt.

Langfristig ist also sicherlich ein möglichst ausgewogener Führungsstil anzustreben, der beides verwirklicht, Ordnung und Beziehung. Und zwar nicht ein wenig Ordnung und ein wenig Beziehung! Jugendliche brauchen viel Ordnung und Orientierung und viel Beziehung und Unterstützung. In Alltagssprache ausgedrückt: Kopf und Herz sollen uns leiten, wenn wir mit Jugendlichen arbeiten.

Abbildung 2-8 veranschaulicht das Ausbalancieren der »Beziehungs-Ordnungs-Waagschalen«. Gelingt dieses Ausbalancieren bei der Klassen­führung, wird von »ausgewogenem« Führungsstil gesprochen. Der ausgewogene Führungsstil gilt als Richtziel, auch wenn zwischendurch, je nach Entwicklung der Lerngruppenprozesse, für eine gewisse Zeit entweder das Beziehungs- oder das Ordnungsprinzip stärker gewichtet wird.

Auswirkung von Führungsstilen im Unterricht