Das einfache Leben

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Niemand sprach ihn mehr an auf der Heimfahrt, und dann ging er auf Umwegen nach Hause, damit die Gäste schon fort wären, wenn er käme. Doch fand er alle Fenster noch hell und kehrte noch einmal um. Vom nahen Kirchturm schlug es Mitternacht, und er hörte zu, wie der letzte Klang in immer dünner werdenden Wellen verging. Dann fiel ihm etwas ein, und er ging schnell die wenigen Straßen zur Kirche hin. Der Turm stand dunkel in der hellen Nacht, aber im Predigerhaus, hinter dem großen Garten, waren zwei Fenster noch erleuchtet.

Thomas stieg über den niedrigen Zaun und ging auf das Licht zu. Die Fenster lagen zu ebener Erde, und als der Kies unter seinen Schuhen knirschte, trat oben ein Mann ins Licht. Er war dunkel gekleidet, und Thomas meinte noch niemals einen so großen, schweren Menschen gesehen zu haben. Er war noch nicht in der Kirche gewesen.

»Es ist spät, Herr Pfarrer«, sagte er, »aber ich würde Sie gern noch gesprochen haben.«

Der Geistliche beugte sich schweigend vor, um das beleuchtete Gesicht zu erkennen. Dann trat er wortlos zurück, und Thomas hörte ihn die kurze Treppe herunterkommen, bis er die Haustür aufschloß. »Treten Sie leise auf«, sagte er, »sie schlafen schon alle.«

Der große Raum war nur mit Büchern gefüllt. Ein bäuerlicher Christus aus grauem Holz hing lebensgroß zwischen den Fenstern. Thomas setzte sich nicht ohne Verwirrung, weil das Ausmaß der Figur ihn erschreckte. Doch ließ der Pfarrer sich nichts merken und sah ihn nur ruhig an. »Es kommen manche um diese Zeit«, sagte er, »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich weiß dann wenigstens, daß es ernst ist.«

Nun erst sah Thomas ihn an. Sein Vater noch mochte hinter dem Pflug hergegangen sein, aber es war wohl ein grüblerischer Gang gewesen, und in diesem Sohn war es nun ausgebrochen. Stirn und Mund waren zersorgt und zerquält, aber über dem glatten grauen Haar mochte doch zu Zeiten derselbe Schein stehen wie über dem Holzbild an der Wand. Das Gesicht war zugeschlossen, aber die Augen sahen ihn nicht ohne Freundlichkeit an, alte und vielwissende Augen, und Thomas fühlte sich jung und töricht unter ihrem Blick.

Er seufzte, bevor er begann. »Ich bin kein Kirchengänger, Herr Pfarrer«, sagte er entschuldigend.

Der andere erhob nur die Hand. »Wir wollen von den wichtigen Dingen sprechen«, unterbrach er.

»Auch die Bibel habe ich lange nicht gelesen«, fuhr Thomas fort, »seit meiner Einsegnung nicht. Der Dienst war schwer, und es wollte nie recht zusammenstimmen … Heute nun fand ich unter meinen Büchern den Psalter, eine ganz alte Ausgabe, groß gedruckt, durch eine Erbschaft während des Krieges zu mir gekommen. Ich habe darin geblättert und fand den neunzigsten Psalm. Ich entsann mich wieder auf das meiste wenigstens, aber ein Vers war mir unbekannt. Als Kind liest man darüber hinweg, und auf Kinder trifft er ja nicht zu. ›Wir bringen unsere Jahre zu wie ein Geschwätz‹, steht dort geschrieben. Zuerst las ich weiter, als sei es wie das übrige, aber dann kehrte ich gleich wieder zurück und las ihn noch einmal. Und dann las ich nicht mehr weiter … es war wie ein Mast, der über einen stürzt, und man kann nicht aufstehen unter ihm …«

Der Pfarrer nickte. Er hatte den Kopf in die rechte Hand gestützt und Thomas unbeweglich angesehen. »Ja«, sagte er, »Sie werden das natürlich als einen Zufall bezeichnen, daß Sie gerade dies gelesen haben. Ich selbst, wenn es mir widerfährt – und es widerfährt mir oft –, ich sehe es natürlich anders an. Ich weiß dann, daß ein solcher Vers gewartet hat, bis es Zeit geworden ist. Verstehen Sie? Es ist nicht so, daß ein Mensch für sich lebt und ein Vers wieder für sich, und vielleicht kreuzen ihre Wege sich einmal. Sondern es ist so, für mich natürlich nur, daß der Vers auf seinen Menschen wartet und der Mensch auf seinen Vers. Aber wenn es sich erfüllt hat, ein bestimmtes Stück der Lebensbahn, ein Sturz oder ein Aufstieg, oder auch nur eine bestimmte Düsternis und Verwirrung, dann ist der Vers da. Er schlägt gewissermaßen das Buch auf, er selbst, er enthüllt sich, er stellt sich auf den Weg. Und dann kann man nicht herumgehen oder ausweichen. Er ist wie Eisen, das zuschlägt. Er hat uns … ist es nicht so?«

»Ja«, sagte Thomas leise, »er hat uns … so ist es.«

»Und nun soll ich Ihnen sagen, was Sie damit anfangen sollen, nicht? Der Vers bedrückt Sie, er ist wie ein leiser, dumpfer Schmerz, der immer da ist. Sie lesen etwas anderes, oder Sie gehen spazieren, viele Stunden lang, am Tage oder lieber in der Nacht. Oder Sie denken an Skagerrak oder an das Ende. Aber er geht immer mit Ihnen, er ist nicht mehr außen, in einem Buch, das in Ihrem Hause bleibt, wenn Sie das Haus verlassen. Er ist schon in Ihnen, in Ihrem Blut, ganz tief. Sie sind nicht mehr sein Herr.«

»Ja«, sagte Thomas, »so ist es.«

»Sie müssen es nun so ansehen«, fuhr der Pfarrer fort, »oder vielmehr, es ist wohl richtig, wenn Sie es so ansehen: Der Vers hat das Seine getan, er hat sich gleichsam vom Tode auferweckt, er ist für Sie auferstanden. Und nun fragt sich, ob Sie das Ihre tun wollen. Ich will es nicht ›auferstehen‹ nennen, denn das ist ein sehr großes Wort. Es fragt sich, ob Sie den Vers wieder begraben wollen, ihn erwürgen und zuschütten … ja, ich sagte, ›erwürgen‹! Dann rührt er sich noch eine Weile, so wie das Kind bei Tolstoj, wissen Sie? In der Nacht, wenn Sie aus einem Traum auffahren, oder in einer Gesellschaft, oder vielleicht, wenn Sie Ihren Jungen ansehen. Aber dann ist er still, so still wie vorher. Er hat angeklopft, und Sie haben nicht aufgemacht. Sie haben die Hunde auf ihn gehetzt, und er ist tot. Für sie ist er tot, ewig und unabänderlich.

Das ist der eine Weg. Der andere ist ebenso klar, nämlich, daß auch Sie nun das Ihrige tun, nicht wahr? Daß Sie eben aufhören damit, Ihre Jahre zuzubringen wie ein Geschwätz. Und wenn Sie das tun, dann ist der Vers still. Das heißt, seine Mahnung ist still, sein Vorwurf, seine Klage. Er trifft nicht mehr zu für Sie, Sie haben ihn erlöst. Im Märchen wird aus einem Drachen eine Prinzessin. Im Leben ist es so, daß man eben aufhört, so zu sein. Daß man anders wird, kein Heiliger, und kein Prophet, aber eben anders, nicht?«

»Ja«, sagte Thomas, »aber wenn man nun das nicht so ohne weiteres kann … fromm werden, meine ich, oder glauben, oder wie man es nennt …«

»Fromm werden? Glauben?« Der Pfarrer beugte sich vor und sah ihn erstaunt an. »Wie kommen Sie darauf? Arbeiten soll man, arbeiten! Verstehen Sie? Nichts als arbeiten! Das heißt es.«

»Aber Sie als Pfarrer …«

Der schwere Mann stand auf und trat vor das riesige Christusbild. Er war ebenso groß wie das Bildwerk, und sie sahen einander aus gleicher Höhe in die Augen. »Dieser hier«, sagte der Pfarrer leise, sich halb umwendend, »wird mir verzeihen, daß ich seinen Namen so selten nenne. Daß ich nur von dem einen spreche, das uns heute not tut, von der Arbeit. Auch in der Kirche, gerade in der Kirche. Vier Jahre haben wir seinen Namen mißbraucht, nun wollen wir ihn vier Jahre verschweigen. Wir haben getötet, und nun wollen wir arbeiten, schwer und keuchend und schweißbedeckt, nichts als arbeiten. Und dann wollen wir sehen, ob wir wieder würdig sind, seinen geliebten Namen auszusprechen.«

»Und wie arbeiten, Herr Pfarrer? Welche Arbeit? Ich selbst, ich …«

Der Pfarrer hob die Hand. Er stand nun mit dem Rücken gegen das Fenster, als sei er eben aus dem Dunkel der Nacht herausgestiegen, ein Bauer, den seine Felder nicht schlafen lassen. »In dieser Gemeinde«, sagte er, »wohnen Minister und Straßenkehrer. Beide kommen nicht in die Kirche, aber beide arbeiten, und beider Arbeit ist mir gleich wert. Die eine kann ich sehen, wenn ich aus dem Hause trete, die andere kann ich nicht sehen, ich errate sie höchstens oder lese in der Zeitung davon. Ich glaube auch, daß der Straßenkehrer glücklicher ist mit seiner Arbeit als der Minister. Er hat seinen Abschnitt, seinen Besen und seine Karre. Er hat seine Grenzen, über die ihm keiner hereinkommt. Das hat der andere nicht. Und ein Pferdeapfel ist leichter zu beseitigen als Intrigen oder politische Feindschaft oder was sie sonst wollen. Aber außerdem kann der Straßenkehrer immer hoffen, einmal Minister zu werden, während jener keinen Stern hat, den er aus dem Himmel herunterholen könnte. Aber das ist alles gleich, ganz gleich. Sie dürfen nicht fragen: ›Welche Arbeit?‹ Sehen Sie meinen Tisch an! Sehen Sie die Briefe! Dutzende, Hunderte von Briefen, mit Blut geschrieben, ja, ich sage es ausdrücklich: ›Mit Blut geschrieben!‹ Wissen Sie nicht, wie Gott uns geschlagen hat? Furchtbar und erbarmungslos geschlagen? Ach …« Er hob die Hände und rang sie über seinem grauen Haar, und für einen Augenblick war sein Gesicht verzweifelter als das des grauen Bildes an der Wand.

Aber dann ließ er die Hände sinken und lächelte wie zur Abbitte. »Es ist nur manchmal«, sagte er, »und geht gleich vorbei … ich sehe Ihnen schon lange zu, fast fünf Jahre, Herr von Orla. In dieser Gemeinde bleibt ja nichts verborgen. Wie Sie mit Ihrem Jungen gehen und wie Sie allein gehen, lange und viel allein. Aber ich war immer getrost, wenn ich an Sie dachte. Er trifft seinen Engel schon, habe ich gedacht. Wer so viel geht, trifft ihn schon einmal. Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, das sind so neumodische Dinge. Wenn die Kirchen leer sind, wandern die Pfarrer in die Häuser, um Eintrittskarten zu verschenken. Nein, nein. Die Bauern warten auch, bis man kommt. Aber Sie wollen ja auch nicht das ›Wort Gottes‹, wie es so heißt. Sie wollten nur eine Bestätigung, daß es nicht recht ist mit Ihrem Leben. Und Sie haben gedacht, ein Pfarrer, wenn er um Mitternacht noch auf ist, vielleicht weiß er es …«

»Ich war schon an meinem Hause«, sagte Thomas, »und erst als ich sah, daß die Fenster noch alle hell waren und die Wagen unten hielten, bin ich umgekehrt.«

 

»Ja, sie leben wie Belsazar und seine Knechte … immer war das so in solchen Zeiten … man soll nicht schelten, man soll nur immer dasein, immer dasein …« Er legte den Kopf an die Lehne seines Stuhles und schloß die Augen. Jede Linie des Gesichtes erstarb in erschreckender Müdigkeit.

Thomas stand leise auf. »Ich danke Ihnen, Herr Pfarrer«, sagte er.

»Danken soll man erst, wenn man beim Morgenlicht nicht bereut, Herr von Orla. Und auch dann ist es meistens überflüssig. Es kommt uns nämlich nicht zu, verstehen Sie? Sehr wenigen kommt es zu, und ich bin nicht einer von den wenigen.«

Er brachte ihn noch ans Gartentor, schloß hinter ihm zu und sah einmal zu den Sternen auf. »Ich war heute bei einem Mörder«, sagte er halb im Fortgehen. »Ja, Sie dürfen nicht erschrecken, das sind so meine Pflichten … Morgen wird er hingerichtet. Ich saß eine Stunde bei ihm und habe gebetet. Allein, denn er wollte nicht beten. Er wollte auch nicht sprechen, kein Wort. Aber ich dachte, vielleicht tut es ihm wohl, daß nun einer da sei außer den furchtbaren Wänden. Aber als ich fortging – der Wärter kam mich holen – und ich noch einmal zurücksah auf seine gekrümmte Gestalt, da richtete er sich auf und sagte: ›Ein Segen, daß es drüben keine Pfarrer geben wird!‹ Ganz freundlich sagte er es … was aber muß ein Stand gesündigt haben, Herr von Orla, daß so etwas gesagt werden kann? Verstehen Sie? Aber es ist nicht der einzige Stand, glauben Sie mir. Keiner von uns weiß, wie er schuldig ist an allem, was geschieht. An allem, hören Sie? Ja, an allem …«

Dann ging er zu den hellen Fenstern zurück, und Thomas sah, wie gebeugt die schweren Schultern waren.

Später müßte Joachim zu ihm, dachte er, langsam die Straße hinuntergehend. Wenn ich einmal arbeite – und es wird sicherlich nicht hier sein –, dann müßte er zu ihm und ab und zu in diesem großen Raum sitzen und ihm zusehen. Wie sein Gesicht lebt unter allen Toten, die um uns sind.

Schwester Beate stand schon in der Wohnungstür, als er die Treppe heraufkam. »Die gnädige Frau ist krank«, flüsterte sie verstört, »ich weiß nicht, was es ist.«

Er ging noch im Mantel hinein. Mit einem schnellen Blick umfing er den großen Raum, die Tische mit Gläsern und Aschenschalen, die Falten in den Teppichen, die geknüllten Kissen in den Sofas und Sesseln. Der abgestandene Zigarettenrauch machte ihm nach der reinen Nachtluft übel. »Öffnen Sie alle Fenster, Schwester«, sagte er leise. Dann ging er zum Kamin, in dem das Feuer noch brannte.

Seine Frau kauerte in einem der tiefen Stühle. Sie hatte die Füße hochgezogen und den Kopf auf die Lehne zurückgelegt. Ihr Gesicht war weiß und erschöpft, mit kleinen Schweißtropfen auf der gefalteten Stirn. Als er die Hand ausstreckte, um sie auf ihr Haar zu legen, öffnete sie die Augen und lächelte. Ihr Blick war trübe und fast bewußtlos, ihr Lächeln wie das einer entstellten Maske. »Tho … mas«, flüsterte sie mühsam. Sie war betrunken.

Seine Hand hielt in der Bewegung inne, und er starrte regungslos in ihr Gesicht. Er fühlte, wie seine Haut kalt wurde und sein Mund sich in einem bitteren Geschmack zusammenzog. »An allem«, ging es ihm durch den Sinn, »ja, an allem …«

Sie trugen sie ins Schlafzimmer, und Thomas schickte die Schwester nach einem Glas aufgewärmter Milch. Er blieb am Fußende des Bettes stehen, bis sie zurückkam. »Eine leichte Vergiftung«, sagte er. »Nach diesem wird es besser werden, verstehen Sie? Wenn es schlechter wird, rufen Sie mich!« Er sah ihr befehlend in die Augen, bis sie verstanden hatte.

»Ich mache es nun schon allein, Herr Kapitän«, sagte sie.

In seinem Zimmer setzte er sich auf das schmale Ruhesofa und stützte den Kopf in die Hände. Er wußte, daß es ohne Hoffnung war. Die Nachernte des Krieges war so erbarmungslos wie seine blutige Zeit. Vor zehn Jahren noch würde er geglaubt haben, mit dem Schiff untergehen zu müssen. Nun glaubte er es nicht mehr. Sein Vater hatte es nie geglaubt. »Ein Mann, Thomas, der sich von einer Frau in den Strudel ziehen läßt, hat aufgehört, ein Mann zu sein!« Sie hatten an der Leiche eines Gespannknechtes gestanden, der sich ertränkt hatte, weil seine Frau ihn betrog. Thomas hatte noch seine Kadettenuniform getragen, aber der Vater hatte ihn mitgenommen, um es ihm zu zeigen. Er sah ihn dastehen, beide Hände auf den Stock gestützt, und über den Toten hinweg auf die grünen Felder blicken. Weiße Wolken zogen wie dunkle Schatten über die junge Saat, und in der Ferne hörte man eine Sense dengeln. »Du wirst dich erinnern, Thomas«, hatte der Vater gesagt. »Es wird eine Zeit kommen, wo euer Leben nicht euch oder den Frauen gehören wird, keinem von euch …«

Nun erinnerte er sich. Es war nicht gut, daß der Vater so früh gestorben war.

Er holte sich ein Kissen und eine Decke aus dem Gastzimmer. Bevor er das Licht löschte, trat er noch einmal an den Globus. Er legte einen Finger auf die Gipfel des Himalaja und schob sie mit leisem Schwung zur Seite. Die große Kugel begann sich leise surrend in ihrem Lager zu drehen, und Gebirge, Ebenen und Meere glitten mit einem flüsternden Ton an seinen Augen vorüber. Tauchten wieder auf und versanken wieder, Farbflecke und ein Netz von Linien, Licht, Dämmerung und Schatten, und er stand vorgebeugt, leise verwundert, als stehe er auf einem fremden Stern und sehe zu, wie die alte Heimat vorüberschwebte, ganz weit, durch den eisigen Weltenraum, und alles Schicksal auf ihr sei so fremd wie ein Märchen aus längst vergangenen Tagen.

Dann wurde die Drehung langsamer und erstarb. Der heimische Erdteil breitete sich vor seinen Blicken aus, und seinem Abbild waren Brand und Verwüstung der letzten Jahre nicht anzusehen. Ruhig lagen die Festländer und Meere, die Ströme spannten sich blau und dünn über die gekrümmte Fläche, und das Bild der Stadt, in der er lebte, lag als ein kleiner dunkler Kreis zwischen Wasser und Wald. Nach Osten aber zogen die großen leeren Ebenen, immer leerer, je weiter seine Blicke ihnen folgten, bis zur verstümmelten Grenze des Reiches, und dort, im wieder gehäuften Blau und Grün der Seen und Wälder, ruhte das Auge noch einmal aus, ehe das Endlose der Krümmung der Kugel verschwand.

2

Thomas war eine Nacht und einen halben Tag gefahren, als er an der kleinen Haltestelle ausstieg. Er holte sein Fahrrad aus dem Gepäckwagen, sah hinter dem Bahnhofsgebäude einmal in seine Karte, machte den Rucksack fest und fuhr die birkengesäumte Straße hinunter, den Wäldern zu, die blau und groß im Süden die Welt verschlossen.

Obwohl das Land nicht unähnlich seiner märkischen Heimat war, schien es ihm doch, als sei er in der Nacht über fremde und riesige Ströme gefahren und als sei dies hier keiner Erde zu vergleichen, die er während seines Lebens betreten hatte.

Indes er fast geräuschlos dahinglitt, von einem sanften seitlichen Winde je nach der Biegung der Straße gehindert oder getrieben, versuchte er zu ergründen, weshalb sein Atem leicht zu gehen schien in dieser Landschaft, obwohl sie doch im ersten Anschauen streng, weit und nicht ohne Düsterkeit sich ihm darbot. Er bemerkte, daß die Luft rauher ging, daß Wachstum und Feldbestellung gegen seine Heimat weit zurückgeblieben waren, daß Häuser und Dörfer ärmlicher, fast liebloser in den umgebenden Raum gebettet waren. Doch schienen wiederum Straßen und Pfade menschenleerer, alles Gerät einfacher und verbrauchter, ja auch alle Ansprüche bescheidener, als ob die Erde noch unbedingter hier herrsche, den Forderungen des Menschen noch widerwilliger verschlossen als in anderen Bezirken des Reiches, und als ob der Mensch hier mehr auf eigener Kraft und im eignen Inneren beruhen müsse, ohne die gedankenlose Unterstützung der Masse, die ihm woanders, zumal in den Städten, so leicht und so verhängnisvoll zufalle.

Doch schien ihm vor allem der Himmel über alle Maßen groß und gewaltig. Geschwader von Wolken zogen ruhevoll an seiner Wölbung entlang, aber selbst sie mühelos geordnet in dem unermeßlichen Raum, und ihre schweren Schatten stießen sich nirgends auf den noch bräunlichen Feldern. Auf den Hügeln der Äcker standen einzelne Bäume, das Astwerk ohne Hindernis ausgebreitet oder von immer wehenden Winden nach einer Seite gebeugt, und da sie fast alle ohne Hintergrund vor dem leeren Himmelsraum standen, so trugen die Felder in aller Kargheit ein Gesicht des Stolzes, als lägen sie noch da wie zu Beginn der Schöpfung und niemals sei anderes als Wind oder Regen oder eine kühle Sonne über sie hingegangen.

Auch der Schrei der Vögel dünkte ihn heller und wilder zu sein, und nirgends glaubte er so viele Raubvögel gesehen zu haben, die spähend über den Feldern hingen oder in Kreisen sich unter die Sonne schoben. Doch verknüpfte ihr Bild sich ihm immer mehr mit der Erscheinung der großen Wälder, denen er zufuhr und die ihm als die eigentliche Heimat alles dessen erschienen, was sich hier spielend oder beutesuchend unter dem Himmel bewegte.

Kam er so auch nicht zu der gewünschten Klarheit seiner Gedanken und blieb die Ursache seines Gefühls der Freiheit ihm im Letzten noch verborgen, so nahm er doch mit Beglücktheit wahr, daß sein ganzes Wesen vorwärts gewendet war, bestrebt, Kommendes und Neues in sich aufzunehmen, und daß die grübelnden Gedanken der letzten Tage, ja noch der Nachtfahrt, wie ein Nebel hinter ihm verflogen waren.

Indessen wuchs das Gesicht der Wälder immer näher und deutlicher in ihm auf, und es war ihm, als sei dort eigentlich erst das verborgen, was den Sinn der Landschaft ausmache und dazu auch das, was zu suchen er ausgezogen sei. Von ferne schon war zu erkennen, daß der schweigende Ernst dieses Raumes dort nicht von einer Heiterkeit der Form abgelöst werden würde, ja daß vielmehr mit dem Zurückbleiben von Dorf, Feld und Gehölz sich alles in eine einzige, gesammelte Erscheinung zurückziehen würde, an Größe nur dem Meere oder dem Hochgebirge zu vergleichen, und nicht nur an Größe, sondern eben auch an Schwere und aufrufender Einsamkeit.

Schon jetzt sah er die Geradheit grauer, sehr hoher Stämme, ohne Unterbrechung nebeneinandergestellt, ohne Zierlichkeit verbindender Linien, und darüber den leise gewellten Saum der Wipfel, abgerundet wie die Form des Granits im Urgebirge. Zwar erblickte er, je näher er kam, vermittelnde Einzelheiten, Fichtenschonungen etwa, die einem in die Tiefe gesunkenen Waldstück von ferne glichen, einen Weißbuchenhain oder einen Hang mit jungen Birken, zwischen denen der Wacholder dunkel stand, aber gleich schloß die graue Wand sich wieder zu und tat sich nur auseinander, um die Straße hineinzulassen, aufzunehmen und gleichsam sofort zu begraben.

Hier war es natürlich, daß Thomas abstieg und von der hohen Böschung den Blick noch einmal zurückwendete. Er saß auf einem Baumstumpf, um den schon die blauen Sterne der Leberblümchen standen, stopfte langsam seine kurze Pfeife, und indes der Rauch mit dem leisen Wind in das Holz hinter ihm zog, nahm er die eben durchfahrene Landschaft noch einmal in sich auf, ruhiger nun, auch größer vielleicht, da der Weg sich langsam gehoben hatte und nun vieles nebeneinander lag, was vorher Stück für Stück aufeinandergefolgt war.

Wieder kam ihm das Leere des großen Raumes beruhigend und beglückend ins Bewußtsein, die sanfte, lang ausholende und abklingende Schwingung der Linien, die Armut an Siedlungen, die Stille der Luft und das unendlich Gespannte des Horizontes. Er versuchte sich vorzustellen, wie der Wechsel der Jahreszeiten dies Bild verändern würde, wie er selbst in diesem Wechsel bestehen oder unsicher werden würde und ob die Frische des ersten Eindruckes auch erhalten bleiben würde, wenn er nun aus einem Wanderer zu einem Bewohner und aus einem Betrachtenden zu einem Tätigen würde.

Doch erschien ihm, auch so angesehen, das vor ihm ausgebreitete Bild von immer gleicher Kraft und Tröstlichkeit erfüllt, und als er sich nun gar auf seinem Sitz wendete und der Blick durch die Vielheit der Stämme in das Innere des Waldes ging, wo die Sonne schmale Brücken auf Moos und Blaubeerkraut legte, wo rotbeschienene Stämme immer tiefer zurückwichen in eine bläuliche Dämmerung und nur das Klopfen des Spechtes das Schweigen nicht zerbrach, sondern tiefer machte: da glaubte er, auf der Höhe eines vielgeprüften Lebens noch einmal Frieden und Glück der Kindheit vor seinen Händen ausgebreitet zu sehen, als gelte es nur, vertrauend zurückzukehren, um mit der Ruhe der Landschaft auch alles wiederzugewinnen, was damals heiter, leicht und unveränderlich erschienen war. Und wiewohl er wußte, daß keine Rückkehr dieser Art dem Menschen vergönnt sei, daß vielmehr jedes Alter seinen eigenen Frieden zu gewinnen habe, so gab er sich doch willig für eine Weile jener träumerischen Rückschau hin, wohl wissend, daß die nächsten Tage schon ihm fordernd entgegenkommen würden.

 

Noch einmal hielt er an diesem Tage inne, als er von einer der Waldhöhen aus zum erstenmal rechts und links der Straße zwei der großen Gewässer sich ausbreiten sah, auf denen an jenem vergangenen Abend bei der Drehung seines Globus seine Blicke anhaltend geruht hatten. Anders war nun das wirkliche Bild, aber noch tiefer als damals kam ihm das Gefühl zurück, hier an der Grenze nicht nur des Reiches zu stehen. Was sich hier in die Wälder hinein dehnte, blau, in den Buchten noch von grauem Eise bedeckt, von braunen Rohrflächen gesäumt, vom klagenden Ruf der Haubentaucher überhallt, schien ihm nach den brennenden und dann verfinsterten Jahren wie ein Land, das außer allem Geschehen geblieben war, als sei es von Eisbergen bedeckt gewesen und nun erst in makelloser und strenger Klarheit wieder ans Licht gestiegen. Es erschien ihm unähnlich allen anderen Ländern des Reiches, nicht wie ein Blatt, auf dem die Hand des Menschen geschrieben, gestrichen, gelöscht und wieder geschrieben hatte, sondern als ein Unberührtes, auf dem ein Anfang geschehen könnte, keine Wiederholung, Verbesserung oder Berichtigung, sondern eben ein Anfang, eine erste Furche, und die Vögel unter dem Himmel würden sich über ihr versammeln und zusehen, was nun hier unter der Hand des Menschen zum ersten Male geschehe.

Er dachte an sein Kind und wie es dort aufwachsen mußte, behütet, aber inmitten der Bilder des Verfalls und des Rausches; wie er es für ein paar Jahre zurücklassen mußte, aber wie er hier mit ihm einmal stehen wollte, hier oder an ähnlicher Stelle, um ihm zu zeigen, wofür man leben müßte, überall auf der Erde, wo die Menschen sich noch Mühe gaben.

Um die Dämmerung erst kehrte er ein, in einem Waldkrug, den er an der Straße fand und den auch seine Karte angezeigt hatte. Kaum in seinem Leben hatte er Armut und Verfall so nahe gesehen, doch schien ihm das erste eine gute und nützliche Einleitung zu dieser Reise zu sein, die ja, wie er hoffte, nicht nur eine Reise bleiben sollte. Und da er sein kleines Zimmer sauber fand, mit dem freien Blick auf abendliche Schonungen, war er es alles zufrieden und bat nur, bis zur Bereitung des Essens am Feuer in der Küche sitzen zu dürfen, was ihm nach einigem Widerstreben auch gewährt wurde.

Eine schweigsame Frau schaffte am Herde, zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, in Joachims Alter etwa, sahen mit großen Augen von der Holzbank aus ihm zu, indes der Mann hinter dem Tisch stehenblieb, den Rücken gegen das Fenster gewendet, und erst auf besonderen Zuspruch hin seine Arbeit an einem kleinen Netz wiederaufnahm, durch das er mit einer hölzernen Nadel neue Maschen zog. Er war gekleidet wie die Menschen, die Thomas unterwegs gesehen hatte, in hohe Stiefel und hartgewebtes graues Zeug, und auch in der Wärme des Raumes hatte er sein Halstuch nicht abgenommen, das in zwei Zipfeln ihm über den Kragen hing. Die Gesichter schienen Thomas schwer, müde und gleichsam schon von den großen Ebenen mitgeformt, die sich hinter diesen Wäldern und Seen nach Asien hin erstreckten.

Ja, er sei zur See gefahren, sagte Thomas auf die erste ungeschickte Frage hin, sein ganzes Leben lang, als Steuermann auf einem großen Dampfer. Aber da es nun damit zu Ende sei, es ihm auch in den engen Städten nicht gefiele, wo der Wind nur Staub und Papierfetzen vor sich hertreibe statt des salzigen Schaumes der See, so habe er beschlossen, sich in dieser Landschaft umzutun, ob er nicht etwas wie eine Fischereipacht fände, von der man bei harter Arbeit doch sein Brot habe und zum mindesten sein Essen, wenn das bedruckte Geld schon immer schneller in den Rauchfang stiege.

Das könne wohl möglich sein, meinte der Mann langsam, und wenn er auch hier in der Gegend nichts wisse, vielmehr alles in festen Händen sei, so könne er ihm doch hier und da einen Namen an den Seen sagen, wo er Bescheid und wohl auch Rat finden werde. Denn es sei viel Unruhe in der Landschaft, nicht nur wegen der Angst vor den Polen, sondern es sei überall auch wie bei ihnen selbst, daß die jungen Leute den Dienst aufsagten, nicht nur, weil es ihnen zu einsam sei, sondern auch weil sie meinten, die Arbeit werde nun abgeschafft oder mindestens denen aufgelegt, die bisher nach ihrer Meinung nicht gearbeitet hätten. So seien auch sie allein geblieben, und Knecht und Magd seien des Weges gegangen, in die Hauptstadt der Provinz, wo sie nun wahrscheinlich schon auf einem goldenen Throne säßen.

Nur eines scheine ihm bedenklich, daß der Herr bei aller schweren Arbeit auf See doch so zarte Hände behalten habe und daß es ihm vielleicht nicht leichtfallen könnte, bei allem guten Willen, an dem er nicht zweifle, dies harte Handwerk zu ergreifen.

Darüber beruhigte ihn Thomas nun, schrieb sich auch die Namen in sein Taschenbuch, die der Mann ihm nannte, und bat schließlich, daß er zusammen mit ihnen hier in der Küche essen dürfte, wo es warm sei, er ihnen Mühe erspare und er sich schließlich auch gleich zu Beginn an die Welt gewöhne, in der er doch nun sich einrichten wolle.

Beim Essen, vor dem die Frau ein Gebet gesprochen hatte, erfuhr er, daß sie einer religiösen Gemeinschaft angehörten, die in der Gegend weit verbreitet sei, daß sie mit Sorgen auf den Gang der Zeit blickten und einige von ihnen sogar der Meinung seien, daß die Gesichte des heiligen Johannes sich nun bald erfüllen würden.

Dem widersprach nun Thomas, meinte, daß das deutsche Volk auch aus diesen Zeiten der Wirrnis sich wiederaufrichten werde, und berichtete auch von seinem Besuch bei dem Pfarrer, der ihn recht eigentlich auf diesen Weg gebracht habe und bei dem er wieder gelernt habe, wie gefährlich es sei, ganze Klassen oder Stände oder Berufe leichthin abzuurteilen, da wir ja doch nie mehr als einzelne Menschen unter ihnen kennten.

Dann ging das Gespräch auf seine Fahrten und die Seeschlachten des Krieges und wieder zurück zu Schicksalen und Gebräuchen dieser Landschaft, indes sie ihre kurzen Pfeifen rauchten, die Frau ihr Strickzeug in den Händen hielt und die Kinder atemlos auf seine Reden lauschten, als sei Sindbad der Seefahrer aus den vertrauten Kiefernwäldern aufgestanden, um seinen Glanz über ihr Leben zu legen.

Und als Thomas ihnen gute Nacht bot und die schmale Treppe zu seinem Schlafraum hinaufstieg, ein Licht in der Hand, schien das Ganze ihm als ein schönes Tor zu seiner neuen Welt, voll guter Vorbedeutung und von allem Gewohnten und Vergangenen wie durch Jahrzehnte geschieden.

Immer tiefer nahm das Land ihn nun auf. Tag für Tag fuhr er an den Seen entlang und von Dorf zu Dorf, mitunter verweilend, wenn ihn etwas zu halten schien. Die Witterung wechselte in den Zeiten der Nacht- und Taggleiche, Stürme und Regen fielen über das Land, und eines Abends trieb sogar der Schnee in weißen Streifen zwischen den grauen Stämmen hin. Dann aber gewann die Sonne wieder das Feld, trocknete Straßen und Pfade, das Eis in den Buchten schmolz, und über der jungen Saat hingen hoch im Blau die singenden Lerchen. Immer aber gingen die großen Wälder mit ihm mit, wechselnd zwischen Laub- und Nadelholz, aufblauend, erglühend und sich wieder verdunkelnd mit dem Gang der Sonne, und mit ihnen die strenge und reine Luft, die das Atmen leicht machte und die sorgenlosen Jahre wieder heraufrief, als er hoch über Segeln und Meer im Mastkorb gesessen hatte.