Boëtius von Orlamünde

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Kapitel

3

Jetzt sind es sechs Monate, daß mein alter Vater zum letzten Male hier war, ich weiß es noch genau, denn es war sein letzter Besuch. Aber nicht vom »Letzten«, nicht von T., so tief auch beide zusammenhängen, will ich jetzt sprechen, nicht von alt, auch wenn er, mein liebster Vater, damals so alt war, wie ich, dank einem schönen T., nie zu werden hoffe.

Die Brücke über den Abfluß des Sees, über die jetzt unser Wägelchen schaukelt, ist auch nicht die jüngste. Das Holz ist weich und verfault, es duftet nach Pilzen, die in nicht geringer Menge an der Unterseite der kleinen Brücke gedeihen und dort das morsche Holzwerk unterminieren. Ich fahre langsamer, nicht aus Angst, die Brücke könnte unter unserm Gewicht einbrechen, sondern damit mein junges Pferdchen seine schmalen Hufe nicht zwischen den Holzschwellen verhakt und stolpert.

Fremde Menschen kommen vorbei, die Frauen tragen große grünlichweiße Hauben bis über die Augen, deren Glanz trotzdem durch die Löcher der Stickerei flimmert. Die Männer marschieren in hohen Stiefeln, um den Mund haben sie große Bärte. Erinnert man sich jetzt der Schulstunden in der Mitte der geschwätzigen, meist gutmütigen, oft aber auch boshaften Kameraden in Onderkuhle und sieht man jetzt die Brücke, den See vor sich statt der vertrauten Institutswände, dann erblickt man in diesem Augenblick ein langes und vielfältiges, nie auszuschöpfendes Leben vor sich. Alles ist voller Hoffnung.

Mein Freund Titurel, der von seiner letzten Krankheit sich noch nicht ganz erholt hat (stets wird er so schwer mit allem fertig, auch mit seinen Aufgaben), verdankt eben seiner Schwäche und Erholungsbedürftigkeit den Urlaub von heute nachmittag und die Erlaubnis zur Wagenfahrt. Sein Rücken preßt sich, als wir nun den See hinter uns lassen und in schnellerer Fahrt auf der Hauptstraße nach der Stadt zwischen Kartoffeläckern und wohlbewässerten Wiesen und Rübenplantagen dahineilen, fester an mich. Der Wagen wirft sich. Irgend etwas hat verdächtig in dem Federwerk geknackt. Ich bremse, bringe das Pferd, und zwar nicht durch Reißen an den Zügeln, sondern eher durch Nachlassen, zum Halten. Außerdem beginne ich ganz fein zu pfeifen, ein Appell, welchen mein Pferdchen sofort versteht und befolgt. Ich habe es seinerzeit erzogen, habe ihm mit weicher, bittender Hand die ersten kunstgerechten Gänge an der Longe beigebracht und habe es an das ganz fremde, ihm anfangs unbegreifliche Gebiß gewöhnt.

Der Freund gleitet nun mit großer Schnelligkeit von seinem Sitz herab, ohne zu bedenken, daß er die Deichselspitze dadurch in die Höhe reißt und dem im Maule noch sehr weichen Tiere nicht eben wohltut, nun steht er vor mir und will mir von meinem Sitz herunterhelfen. Ich blicke mich um, ob auf der Chaussee nicht ein anderer Wagen oder ein Automobil kommt. Plötzlich fühle ich den Knöchel meines linken Fußes von Titurels Hand umklammert. Er breitet mir etwas Weiches unter meinen Fuß, mit dem ich eben, möglichst sanft, abspringen will, um das gebrechliche Gig nicht zu sehr zu erschüttern. Jetzt stehe ich auf dem Erdboden, vor mir den Freund, der seine linke Hand mit meinen Handschuhen mir als Fußstütze dargeboten hat. Wollte er mir damit einen besonders ritterlichen Dienst erweisen, worauf ein krankhaftes Lächeln seiner geschlossenen Lippen hindeutet? Seine Zähne sind schlecht, aus Scham öffnet er seinen Mund so wenig wie möglich. Deshalb wirkt er oft schüchtern, ist es aber nicht, eher ironisch. Aber ich habe die Handschuhe ihm zur Aufbewahrung gegeben, nicht zu Ritterdiensten. Ich sehe jetzt vor mir meinen alten Vater, an den ich das Gedenken bis jetzt gewaltsam unterdrückt habe. Ich weiß, wie schwer er das Geld für ein neues Paar erschwingen wird. Trägt er doch die seinen nur zur »Parade«, das heißt bei Besuchen in Onderkuhle oder bei wichtigen Ausgängen und Staatsvisiten, bei denen man auf ihn, das heißt auf seinen Namen, rechnet. Der Freund schweigt. Er erwartet wohl ein gutes Wort von mir. Ich kann aber meinen Zorn nicht beherrschen. Ohne zu reden, nehme ich die feuchten, beschmutzten Handschuhe ihm aus der Hand und werfe sie, als wären sie nun ganz wertlos geworden, über meine Schultern nach rückwärts in die Rübenfelder. Sodann bücke ich mich unter den Wagen und finde eine Stellschraube der rechten Federlasche gelockert, die ich mit der Handhabe eines meiner Schlüssel fassen und anziehen kann.

Dann sitzen wir auf und kehren den gleichen Weg zurück. Doch es ist nicht mehr das gleiche. Auf der Waldstraße hören wir hinter uns einen Wagen heranrollen. Unsere Rücken haben sich schon lange voneinander gelöst. Wir sitzen steif und voll Haltung da, niemand, auch nicht der Zeremonienmeister, könnte etwas auszusetzen haben. Er kennt nur Haltung, nie Herz, nie Gefühl. Kennt er auch den T. nicht? Kennt er ihn? Ich treibe mein Pferd, ich schone die Peitsche nicht. Trotzdem überholt uns der andere Wagen. In ihm sitzt der Zeremonienmeister, der uns nicht zu erkennen scheint. Weder erwartet er einen Gruß, noch denkt er daran, den unsern zu erwidern. Vielleicht denkt er in diesem außerdienstlichen Augenblick nicht an uns, die Schüler, sondern an sich und seine »privaten« Reichtümer, die er hier gesammelt haben soll und die ihm bald auch eine Herrschaft außerhalb von Onderkuhle ermöglichen werden. Wen wird er in Brüssel beherrschen? Herrlich und einsam lehnt er mit gesenkten schweren Augen in seinem Wagen. Die Pferde wiehern einander zu, auch die seinen sind nicht alt, reines Blut und noch nicht lange im Zuge. Auf ihren schlanken Lenden, auf den glatten, wie reife Kastanien glänzenden Flächen der breiten Kruppen und auf den scharf gekanteten Seiten des Halses unter der ganz kurz gehaltenen Mähne spielt hin und wieder der Schatten der Bäume. Ein leichter Wind hat sich erhoben. Das Licht der sinkenden Sonne wird ab und zu verdeckt. Regen liegt in der Luft wie Abendrot. Den Kuckuck hört man nicht mehr. Die Brücke ist sehr dunkel und riecht jetzt mehr nach Fäulnis und Moder. Die Pferde des Leibeigenen wenden sich nach uns um. In den großen sumpfbraunen Augen des einen sehe ich den See gespiegelt oder das Laub, halb blau, halb grün, nur ein Schein, nur ein Augenblick, ein Schimmern. Mein Pferd beginnt zu schwitzen, und es färbt sich die Haut zuerst an den Rändern des Geschirrs dunkler, dann wachsen die Härchen zusammen, stehen in Reihen, als hätte man sie mit einem breitsträhnigen Kamme gestriegelt. Jetzt riecht es, aromatisch und schwer, nach Schweiß, nach Tannen, Regen und Staub.

Es war früh am Abend, die Schüler der »Fünften« waren auf dem Tennisplatz, wo durch die Dämmerung die Bälle flogen, sehr hell gegen die dunklen Drahtnetze geschnitten. Dann kommt das Aufschlagen der Bälle an den stark gespannten Saiten der Raketts und das gleichmütige Zählen der Partie, wobei ich die etwas fette Stimme des jungen Prinzen X. (Piggy) erkenne, der gern dieses Amt übernimmt, sich aber ungern in einen Kampf einläßt. Handelt es sich aber darum, einem Schüler nachts im Schlafe mit einer Gartengießkanne einen »Rückenguß« zu geben, ist er als erster dabei. Auch das »Flohpulver« kennt er und die »russische Lektion«. Er selbst ist aber immer »neutral«.

Die kleineren Kameraden spielen Kricket auf einem andern Platze. Ihr Kreischen und Lachen ist sehr laut, oft übertönt es die Schläge mit den Holzhämmern. Ab und zu schreit auch einer auf, den ein Kamerad, sei es aus Ungeschicklichkeit (wie er sagt) oder aus Bosheit (wie es meist ist) oder »um den Mann auf die Probe zu stellen«, mit dem Holzhammer in die Achillesferse oder auf die Kniescheibe geschlagen hat. Auch ich kenne diesen Schmerz. Keine von diesen sehr unbarmherzigen und doch zur Erlangung des Ranges als »Mann« notwendigen Proben hat man mir in den ersten Jahren hier erspart. Mich hat daheim niemand gestraft. Ich wußte nicht, was körperlicher Schmerz ist. Ich empfand ihn auch hier nicht als Strafe, niemals habe ich, wie Prinz X., mich bei den Lehrern oder bei dem Zeremonienmeister über einen älteren und stärkeren Kameraden beschwert, obwohl ich oft nachts vor Schmerzen nicht einschlafen konnte. Denn es gab viele Proben.

Nun lagern die Lehrer in ihren weißen, leichten Interimsröcken auf den mit rotweißgestreifter Leinwand überzogenen Gartenstühlen, die Wolken aus ihren Zigarren sammeln sich zu einem blauen Diadem über ihnen unter den hohen Sommerbäumen. Der Russe geht bereits zwischen ihnen und den Spielplätzen umher, scheinbar, um nach den Wünschen der Lehrer zu fragen, in Wirklichkeit, um alle, Lehrer und Schüler, zu überwachen.

Jetzt sind wir im Hofe bei den Ställen. Seine Pferde sind schon ausgeschirrt. Ein Stallpage (Fredy) reibt sie am Rücken und am Bauche mit trockenem Stroh ab. Sonst verschmähen sie im allgemeinen Stroh, jetzt aber schnappen sie nach demselben mit ihren langen, wie Erdbeereis blaßroten Zungen und fletschen ihre dunkel elfenbeinfarbenen, matt blinkenden Raffzähne, wobei sie den Ärmel des ängstlich lachenden Stalljungen mit erfassen. Mein Pferd öffnet wieder das Maul zum Wiehern, wobei es den schönen dreieckigen Kopf etwas hebt und seitwärts nach dem Stalleingang wendet. Nun steht es wieder still auf meinen Blick, tänzelt bloß ein wenig auf den Vorderbeinen. Die Zügel sind in festem Knoten um die Kurbel der Bremse geschlungen. Ich will meinem Freunde Titurel vom Sitze herabhelfen. Er ist so still, stiller als sonst. Jetzt fällt er mir wie eine leblose Masse in den Arm, er blickt mich stumm mit seinen überaus glänzenden, messingfarbenen Augen an, will lachen, aber die Bewegung geht nur in wilden Wellen über sein blasses, sommersprossiges, etwas derbes Gesicht. Er klagt nicht. Er zeigt seine Zähne nicht. Er zittert, wohl infolge eines Fieberfrostes, und so nehme ich ihn denn, obwohl ich kleiner bin als er, ohne besondere Mühe auf meine Arme und trage ihn über den Hof, wo er vom aufsichthaltenden Unterpräfekten empfangen und sofort mit einer strengen Bemerkung in das Krankengebäude hinübergeschafft wird. Als ich mich umsehe, steht der Wagen nicht mehr vor der Freitreppe, aber mein kleines Pferd ist dem Hütejungen ausgekommen, es trabt, schelmisch mit dem allzu langen Schwanze schlagend, zwischen den im Abendschimmer leuchtenden Gebäuden umher, wiehert ohne Aufhören, die Stimme willkürlich hebend und senkend, als spräche es zu sich selbst. Jetzt ist es an die geschorene Hecke gekommen, welche die Spielplätze von den Wirtschaftsgebäuden trennt, und tobt sich in lustigem Schreien und hohen Sprüngen über das dunkelgrüne Buschwerk aus.

 

Wer wollte nicht mit ihm tauschen? Nicht mehr Boëtius von Orlamünde sein, sondern ein dreijähriges, starkes, vollkommen gesundes und schönes Tier, das nichts vom T. weiß, das ganz im Leben aufgeht.

Ich liebe Tiere sehr, aber etwas von dieser Liebe ist Neid.

Kapitel

4

Ich habe in der folgenden Nacht nicht sehr gut geschlafen, da ich außerordentlich stark an meinen Vater, den Schöpfer meines Lebens, und an Titurel, meinen einzigen Freund, denken mußte, und so kommt es, daß ich morgens noch schlaftrunken beim Gehen über die Schwelle stolpere. Ich wohne in diesem Jahre nicht mehr gemeinsam mit den anderen Schülern in einem der großen Schlafsäle. Es gibt ihrer sieben, einige standen schon lange leer. Das Haus konnte mehr Schüler fassen, als jetzt da waren. Von den vielen Anmeldungen wurden vom Direktor, dem Abbé und dem Meister nur die »reinsten Namen« ausgewählt – oft nur ein Bruder, wenn drei eingereicht hatten. Angeblich wurden aber viel mehr Schüler in den Rechnungen geführt – alles zum Vorteil des Meisters. Sicheres habe ich nie erfahren können. Es betrifft mich auch nicht.

Ich darf, obgleich in der Buchführung überzählig, da keiner Schulklasse einzuordnen, in Onderkuhle leben, da meine Familie noch nicht über meine Zukunft entschieden hat. Man hat mir, vorläufig, heißt es, eine kleine Kammer eingeräumt, die sich an den Saal der fünften Klasse anschließt, ein enges, wenn auch hohes und helles Zimmer, welches dadurch viel von seiner Behaglichkeit verliert, daß eine Menge alter Möbel, und zwar hoher Schreibsekretäre und Nachtkästchen, in dem Raum zusammengepfercht ist. Hat man sich abends ein paar Blumen mit vom Spaziergang heimgebracht, dann muß man sie auf die schräge Platte eines hohen Sekretärpultes legen oder in ein altes Tintenfaß in Wasser stellen. Die Kleider, die sich jeder Schüler selbst ausbürsten muß, hängen über einem Nachtkästchen. Will man nachts, schlaflos, wie es manchmal vorkommt, zu einem Buche greifen, dann muß man es aus der Tiefe einer Schublade hervorsuchen, sich dann an den Sekretär postieren und so, wie ein Buchhalter an seinem Pulte, zu lesen versuchen, wobei die Schultern und der herabhängende Kopf schneller müde werden als die Beine. Die Peitsche, die ich ins Zimmer mitgenommen habe, hängt seitwärts am Sekretär an einem Nagel, der eigentlich für Lineale bestimmt ist. Alles in allem sieht mein Schlafzimmer eher wie ein Büro aus, und daher auch meine tiefe Abneigung gegen dieses, und daher auch in besonderem Zusammenhange meine tiefe Abneigung gegen Büros, Rechenstuben, Beamtentätigkeit und Zahlen.

Warum hat man mir als einem der ältesten Schüler, der oft den Reit- und Fechtlehrer vertritt, nicht gestattet, mich wenigstens noch am Abend und in der Nacht als Kind zu fühlen und mein Bett in der Reihe der anderen Schülerbetten zu haben? Will mich der Meister zu seinesgleichen machen? Soll ich Respektsperson sein wie er? Wie unendlich beruhigend wäre es, meine Kameraden neben mir atmen zu hören, wenn ich nicht schlafen kann. Wie herrlich ist es, noch eine letzte Minute morgens im Bett zu verbringen, wenn die anderen Knaben schon das ihrige verlassen und sich lachend und kreischend in die Waschräume begeben haben! Wie wunderbar schmeckt eine Zigarette, deren Mundstück, noch warm von den Lippen des Nachbars, mir nachts zwischen die Lippen gesteckt wird, denn das Laster des Rauchens grassiert in den höheren Klassen von Onderkuhle, ebenso aber auch die Tugend der Kameradschaft, alles mit den Gleichalterigen zu teilen, die untereinander eine große, einheitliche Familie bilden. Wir kennen uns nachts unter anderen Namen, die wir unserer Lektüre (wir lernen wenig, aber wir lesen viel) entnommen haben. So heißt mein Freund, den ich vorhin Titurel nannte, nur nachts so, bei Tage ist er Träger eines der berühmtesten Namen Belgiens. Ich heiße Tyl, und da die Namen gut zueinander passen, werden wir oft miteinander genannt. Im übrigen sind meine Freuden so unschuldig, daß der Beichtvater, der sie jeden Donnerstag erfährt, bloß die geringste Buße dafür ansetzt und meinem Versprechen, diese Sünden nie mehr zu begehen, ohne weiteres Glauben schenkt. Zwischen mir und meinen Kameraden herrscht eine Sympathie von solcher Reinheit, daß ich, wenn ich Lehrerstelle vertreten muß, ganz vergesse, daß der Junge, der nun mit dem bläulich blinkenden Florett auf dem schwarzen Teppich im Fechtzimmer vor mir »die Auslage hält« und eine naive Defensive markiert, oder der andere, der in der Reitschule neben dem angeschirrten, aber bügel- und zügellosen Gaul steht und auf mein Zeichen wartet, um aufzuspringen – ja, ich vergesse ganz, daß ich diesen Knaben kenne, daß ich nachts in seiner Nähe geschlafen habe, daß ich weiß, wie seine Lippen schmecken, und daß ich Zigaretten, noch warm von seinem Munde, geraucht habe, ich kenne am Tage keinen Titurel, ich bin kein Tyl mehr, ich tue meine Pflicht. Man hätte mir den Platz unter den Jüngeren ruhig noch dieses Jahr lassen können. Doch der alte, leibeigene Meister wollte es nicht. Ihm fügt sich alles, und dabei sind seine Blicke nicht gerade, sein Blut ist nicht adlig, seine Hände sind auch nicht rein, ich weiß alles von ihm, er nichts von mir.

Ich erzählte von der Nacht, von meinem schlechten Schlaf. Nicht die Träume einer sehnsuchtskranken Jugend sind es, die mich wecken, die mich mein Ohr an die Tür des benachbarten Schlafsaales pressen lassen, woraus die sanften ziehenden Atemzüge der »Fünften« hervorklingen, nicht mit dem Liebeshunger der Jugend horche ich nach ihren allzu leise geführten Gesprächen, nicht aus Begierde nach Zigaretten oder Tabak schmiege ich meinen geöffneten Mund an die Spalten der Tür, um den Zigarettenrauch einzuatmen, der aus den Fugen hervorquillt – was mich bewegt, ist etwas ganz anderes. Etwas anderes läßt mich aufstehen und mich mit emporgezogenen Schultern an einen und dann an den anderen der unnützen hohen Sekretäre pressen. Es ist ein Gefühl, das man bei einem Siebzehnjährigen nicht vermuten wird. Aber wird man glauben, daß dieses Gefühl, das ich zu bald nur nennen muß, in meiner Seele gearbeitet hat, seitdem sie Seele war, seitdem ich mich überhaupt erinnern kann? Ich muß es nennen – aber selbst vor dem Namen habe ich Angst. Todesfurcht ist es.

Am nächsten Morgen verlasse ich mein Zimmer, nachdem ich mich, ungeschickt genug, an einem der Sekretäre, der zu einem Waschtisch umgewandelt ist, gewaschen habe und nachdem ich den letzten, schon mehrere Monate alten Brief meines Vaters wieder in der Lade des Nachttisches verborgen habe – denn es gibt keinen anderen Tisch in diesem Raum, auch keinen Wandschrank, wie ihn die anderen Schüler haben –, dann trete ich heraus und stolpere auf der Schwelle über einen weichen, aber zähen Gegenstand. Ich hebe ihn auf, vielleicht ist es ein in Seidenpapier eingewickeltes Butterbrot, das einer der Knaben verloren hat, obwohl ich auch nicht wüßte, wie – aber es sind meine Handschuhe, die ich gestern bei der Wagenfahrt in ein Rübenfeld geworfen habe. Sie sind gesäubert, wenn auch nicht vollkommen; sind trocken; man hat die Erde von den Nähten entfernt, sie sind tragbar, wenn man auch keine besondere Ehre mit ihnen einlegen kann. Man hat mir mit dem Wiedergeben einen Dienst erwiesen, ich kann es nicht leugnen, und ich freue mich, daß ich sie wiederhabe. Aber ist nicht mein Titurel schwerkrank ins Lazarett gebracht worden? Hat man nicht an seinem Bette gewacht? Warum hat man ihn nicht, wenn er schon so töricht, so fiebrig und knabenhaft unbesonnen war, daran gehindert, das Bett zu verlassen, den ganzen langen Weg am See vorbei in der regnerischen Nacht zu durchmessen? Der Regen goß vom Himmel, ich weiß es, denn ich hatte nachts den Kopf mehrmals aus dem Fenster gebeugt. – Mich, den Gesunden, schauerte es, er aber hat die Angst vor den Folgen, das Grauen vor dem T. so weit überwunden, daß er sich aus einem Gefühl der Ritterlichkeit heraus, ein echter Titurel, auf den weiten Weg gemacht, sich durch die Rübenfelder hindurchgequält hat, bis er die Handschuhe wiederfand. Ich sehe es, es sind die meinen, die Anfangsbuchstaben B. v. O. sind mit verblaßter, violettrötlicher Tinte an der Innenseite vermerkt. Obgleich das Handschuhpaar oft genug von mir mit venezianischer Seife gewaschen worden ist, wird diese Marke nie ganz verlöschen. Ich weiß nicht mehr, wann sie eingezeichnet worden ist.

Aber eingezeichnet bleibt sie wie das Gefühl von Tod in meiner Seele. Man weiß nun, was es ist.

Kapitel

5

Ein Leben, das ohne Aufhören unter der Gewalt des T. steht, ist so gut wie gar kein Leben. Man will sich davon befreien. Man will den T. vergessen, will arbeiten, muß man doch auch arbeiten, da das Leben Forderungen hat, denen sich alle fügen, auch die Orlamündes. Man kann, wenn man erfolgreich ist, für sich, für andere sorgen. Man hat seine Freunde, die nahe sind, die unfern in ihrem hohen, weiten Schlafgemache atmen, man hat seine Eltern, an die man nur mit Sehnsucht, Mitleid und mit einem kaum zu beschreibenden Gefühl denken kann: dieses Gefühl ist dem ähnlich, das einer hat, wenn er im Winter einmal spätabends heimkehrt und sich behaglich vor dem Schlafengehen auskleidet und sich nun, von eben diesem unbeschreiblichen Gefühl durchflutet, im wieder dunkel gemachten Zimmer mit dem Rücken an den warmen Ofen lehnt. Die Wärme hebt sich geradezu zauberhaft an dem bloßen Nacken neben dem breiten Kragen des Nachthemdes empor. Jetzt hat man die Empfindung von der Länge, von der Endlosigkeit des Daseins. Das ist wunderbarer als alles andere. Man atmet so leise, daß es ist, als atme man nicht. Und wenn der Ofen nun aufflackert und stärkere Wärme ausstrahlt, ist es, als decke er den Knaben, der vor ihm steht, von den Füßen bis zum Halse mit schweren, von dem Pferdeleibe noch warmen Decken zu.

So wäre es mir, wenn ich bei meinen Eltern immer leben dürfte, wenn ich an demselben Tische essen dürfte wie sie, wenn ich neben meinem Vater in dem großen Volkspark von Brüssel ausreiten dürfte. Unsere Pferde würden im gleichen Schritt gehen, die Köpfe nicken im Takt, die Bauchriemen und Sattelgurte knarren. Von der Lohe, womit die Wege bedeckt sind, steigt, als stießen Maulwürfe darunter die Köpfe durch, feiner, brauner Staub auf. Die etwas blassen, hängenden Lippen des Herrn (man lasse mich meinen Vater den Herrn nennen, ich möchte ihn zu gern als Großen sehen; mich klein neben ihm zu wissen tut mir wohl), die mit einem blassen Rot beschlagenen Lippen des Herrn feuchten sich, da seine Zunge in dem seltenen Genusse des Reitens sich über seine starken, weit auseinanderstehenden Zähne vordrängt. Weder er noch sein Sohn spricht ein Wort. Das Ende der pfeilgeraden Allee ist unsern Blicken nicht erreichbar. Früh ist es am Morgen. Es wäre die Morgenarbeit unserer Pferde. Abgesehen von dem hohen, unbeschreiblichen Genusse, hätten wir noch die Befriedigung, eine Arbeit zu leisten, etwas Nützliches zu tun, das auch zu unserm Namen und unserer Abstammung paßt. Gibt es einen bescheideneren Wunsch? Kann jemand das »Geschenk des Lebens« mit tieferer Dankbarkeit entgegennehmen? Sieht jemand nüchterner die Notwendigkeiten und Überflüssigkeiten des sozialen Daseins, wenn er als höchsten Wunsch eine einfache Stunde Reitens mit seinem Vater, dem verarmten, stellungslosen Fürsten, in der Allee eines öffentlichen Volksparkes ersehnt? Aber der ungeheure Wert des Zusammenseins mit meinem Vater besteht nur für mich. Was ich von dieser Stunde mit ihm erhoffe (vergeblich, ich sage es gleich, es ist vorbei), das ist nicht mehr als das, was alle anderen Söhne immer besitzen und nie würdigen. Ich war Waise, als mein Vater noch lebte.

Der seligste Zustand ist der des Tieres, vorausgesetzt, daß Steine und Lüfte nicht noch beneidenswerter sind. Doch schon das Tier, in dessen Seele man sich, wenn auch schwer, hineinversetzen kann, weiß nichts vom T., bevor es stirbt. Ich liebe Pferde, ich liebe Tiere über alles, aber etwas von dieser Liebe ist Neid. Die Nähe eines Tieres, besonders eines schönen, großen, starken, tut mir wohl, ich sonne mich in seiner Nähe. Wenn ich die Augen des Tieres mit meinen Blicken erfasse, möchte ich das kleine Spiegelbild werden in der eckigen und wie mit verknittertem braunem Pergament umschlossenen Pupille des Pferdes oder gar als ein winziger Orlamünde leben in dem atlasglänzenden Augenstern einer Katze, der sich ausweitet und zusammenzieht im Lichte, als wäre es eine Brust, die Licht einatmet und Licht ausatmet.

 

So tief möchte ich in dem Dasein eines Tieres untergehen und mich da auflösen, wo es keinen T. mehr gibt.

Für das Tier ist das Leben etwas Ungeheures. Es begreift den T. gar nicht, darin bleibt es ewig Kind, auch das vergrämteste, das gequälteste. Selbst der müdeste Droschkengaul, der so niedrig geworden ist mit seinen geknickten Kniekehlen, daß niemand ihn wiederzuerkennen vermöchte, der ihn in seiner Jugend als Füllen gekannt hat, selbst er besteht nur aus Leben ohne Schatten des Todes.

Jedes Tier in der Natur hat es schwer, es sucht sich seine Nahrung mühsam genug, aber es hat dafür seine ganze Kraft. Es tut so, als wäre nie eine Zeit abzusehen, wo es sich seine Nahrung nicht mehr zu suchen brauche, weil es selbst zur Nahrung für Raubtiere oder Würmer geworden sei. Es sucht sich seine Geschlechtsfreunde, zum erstenmal, als hätte es sie noch tausendmal zu erwarten, und so bis zum letztenmal mit der gleichen Lust, mit demselben tödlichen Willen. So ist das Tier treuer und stärker als der treueste und stärkste Mensch und mutiger.

Wenn es genießt, so genießt es herrlich alle Freuden des Daseins. So schläft eine Katze in der Sonne auf einem abgeernteten, aber noch kräftig durchstrahlten Weizenfelde, nachdem sie sich an Feldmäusen oder auch an Heuschrecken den Magen gefüllt und von ein paar gehöhlten Blättern den Abendtau getrunken hat. Die Katze liegt da, die Vorderpfoten unter der ruhig atmenden Brust gefaltet, als bete sie zu sich selbst. Sie hat den Schwanz um sich geschlagen, als wolle sie sich wärmen. Die Augen hat sie geschlossen, ja, sie kann es nicht genug finster haben und birgt den runden Kopf noch in der faltigen Haut des Halses. Sie ruht. Sie ist unsterblich. Ist sie nicht beneidenswerter als je ein Mensch? Was ist ihr T., was Leben, was Vater und Mutter? Mir ist sie beneidenswert, mir, der nie einen Menschen, und sei es Napoleon, beneiden könnte. Ja, das Tier geht in seiner Unschuld vor dem T. noch weiter, wenn auch selten.

Ich kannte einen prachtvollen Kater, der die sonderbare Neigung hatte, in das Feuer zu gehen. Er war rostrot gefärbt, hatte üppige, auf dem Halse aufgeplusterte, auf dem Unterleib ineinander verfilzte Haare, einen sehr langen Hals und außerordentlich kräftige, gewölbte Hinterbacken, die aber von dem kinderarmdicken, mächtigen Schweif, der wie ein Tigerschweif hin und her schlug, fast verdeckt waren. Als ich dieses Tier zum erstenmal sah, fielen mir blanke Stellen auf. Es waren fast ganz ausgefressene oder ausgestanzte runde Löcher am Nacken und Rücken, unter denen die saubere, oft geleckte Haut in heller Rosenfarbe durchschimmerte. Man hielt dies für Räude, berührte das Tier nicht mit bloßen Händen, hinderte es aber nicht, sich mit seinem sonst lockigen, schön gerundeten Rücken an den Fußrändern unserer Beinkleider schnurrend zu reiben. Der Kater schmeichelte zu gern um meinen Freund und um mich herum, als fühle er, daß wir, im Gegensatz zu den meisten Zöglingen von Onderkuhle, Katzen gern mögen.

Wir saßen eines Abends im Winter in unserem Zimmer (eigentlich ist es nur meines, aber es täte wohl, es mit Titurel zu teilen), in unserem dunklen, wohlgeheizten Zimmer, meine vielen Schreibsekretäre schimmerten, von unten her sanft beleuchtet. Auch durch die Ritzen der Tür drang aus dem benachbarten Schlafsaale Licht, zart in feinen Linien, die sich nur dann verdunkelten, wenn einer der Kameraden drüben durch den Raum ging, ohne Schuhe, so daß man ihn eher sehen als hören konnte.

Wir aber, Titurel und ich, waren allein, bloß irgendwo in den unteren Fächern eines sehr alten und nach Studiersaal muffig riechenden Schreibsekretärs hatte sich unsere Katze verkrochen, denn dort hatten wir ihr aus alten Schulheften, zerrissenen Handschuhen und ähnlichem Gerümpel eine Lagerstätte bereitet, die ihr besonderes Vergnügen machte, wenn sie auch nicht lange da aushielt. Denn etwas anderes ist es, was sie anzieht. Wir sprechen von Pferden, Prüfungen, Lehrern und Zöglingen. Da hören wir ein sonderbares Klirren. Der Kater hat sich dem eisernen Ofenvorsatze genähert, nun schlägt er heftig mit dem prachtvollen Schwanz, der mit seinen aufgerichteten Haaren lebhaft im Schimmer des Feuers erglänzt, jetzt richtet sich das Tier auf den Hinterpranken auf. Der Anblick des starken rostroten Katers mit den kahlen getigerten Flecken auf dem geschmeidigen, wellenförmig bewegten Rücken ist erschreckend schön, besonders wenn die schon ins Bläuliche hinüberspielende Lichtmasse von der glühenden Kohle auf die langen flimmernden Haare fällt. So sieht das Tier in seiner gestreckten Haltung fast gewaltig aus. Wir fassen uns, Titurel und ich, an den Händen, die wir einander zum Zeichen, ruhig zu sein und das Tier nicht zu stören, heftig pressen. Schwer kann der Freund in solchen Augenblicken ein heiseres, sardonisches Lachen unterdrücken. Aber er begreift, was ich will, und zwingt sich zur Ruhe.

Nun haben die Flammen, da der Luftzug geringer geworden ist, etwas in ihrem Glanze nachgelassen, sind blaugrün geworden, edelsteinfarbene Wölkchen, mehr ein tiefer Duft als ein brennendes Mineral. Ein schwüler, gesättigter Hauch kommt uns beiden, die wir mit geöffnetem Munde, Schulter an Schulter und Hals an Hals gepreßt, vor dem Kamin auf den Knien hocken, entgegen. Ich blicke meinen Freund an und sehe, was er mir bis dahin immer verborgen hat, seine schadhaften Zähne. Dies hat er im Augenblick vergessen. Er will offenen Mundes sehen, wie ein schönes Tier mit dem T. ringt. Mir aber bereitet es ein unbeschreibliches, aus Freude, Schauer, Mitleid, Zuneigung, Abscheu und Brüderlichkeit gemischtes Gefühl, diese gelblichen Zähne zu sehen neben meinen schneeweißen. Titurels Zähne haben dunkle, ausgezackte Ränder und kleine, durch Goldplomben ausgefüllte Löcher, in denen sich das Kohlenlicht funkelnd fängt – ich zittere, wenn ich dieses mir sonst verborgene Geheimnis betrachte, etwas in mir wird stolz und groß, wenn er, Titurel, klein wird, irdisch, sterblich und zerbrechlich. Ich habe nur Angst, daß er es bemerkt und mich flieht. Denn wen habe ich hier außer ihm? Die Katze habe ich ganz vergessen und den heiser gurrenden Schrei, den rötlich leuchtenden Schatten des gerade losspringenden Tieres weiter nicht beachtet – aber um so fürchterlicher überfällt mich der Schrecken und läßt mich laut aufschreien, als ich sehe, wie mein Freund in höchster Eile seinen linken Arm, an dem er den Ärmel bis zu Schulterhöhe aufstreift, in die dunkle, aber aus ihrer Dunkelheit funkensprühende Ofenhöhle hineinpreßt, wobei er, um den Schmerz zu verbeißen, diesen im wahrsten Sinn des Wortes zwischen seinen knirschenden Zähnen verbeißt. Mit aller Gewalt schleudert er das unselige Tier hervor. Es hat sich im Ofen gewaltig aufgeblasen. Seine Muskeln hat es aufs äußerste gespannt. Es sträubt sich knurrend und fauchend mit offenem Rachen und emporgezogenen, gerunzelten Nüstern gegen seine Rettung. Man muß es fortzerren, es an den Hinterpranken über den Kniegelenken energisch anfassen, und dabei schreit es mit aufgerissenem Maule, als hätte es sich an den Flammen wie an frischem Fleische berauscht oder irgendwo im Walde an einer blutreichen Beute entzündet. Entzündet ist es auch, denn der starke, gelockte, hohe Pelz glimmt an manchen Stellen des Rückens wie gut brennbares, wenn auch etwas feucht gewordenes Papier. Jetzt ist es stumm, windet sich aber in den tollsten Bewegungen. Titurel wickelt es in die Unterseite seines Hausrockes, wobei er in der Ungeduld, die Flammen zu löschen und das Tier zu retten, auch einen Zipfel seines weißen Hemdes hervorzieht, auf dem lauter aquamarinblaue Hufeisen und damit gekreuzte Peitschen aufgedruckt sind, und legt das komisch gemusterte Stück Leinwand dem Tier um, dessen Flammen schnell erlöschen.