Die Ring Chroniken 1

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Bevor ich es mir noch anders überlegen kann, laufe ich los. Bestimmt kümmert Tarmo sich abends um seine Sandviper vorne im Appellraum. Auf dem Weg durch den Glasgang werden meine Schritte immer langsamer, und ich muss mich zwingen, weiterzugehen. Emony, los, weiter, befehle ich mir. Das ziehst du jetzt durch!

Als ich den Raum mit dem Terrarium leer vorfinde, ertappe ich mich dabei, erleichtert aufzuatmen. Aber ich kann nicht so einfach wieder verschwinden, das löst schließlich nicht mein Problem. Also warte ich beim Schlangenterrarium. Sonora liegt bewegungslos in ihrem Glaskasten. Was frisst sie wohl, wenn Tarmo gerade kein Chamäleon zur Hand hat?

Sonoras reglose Augen hypnotisieren mich. Die Viper und das Chamäleon. Tarmo und ich. Irri hatte keine Chance. Werde ich eine haben?

Das derbe Lachen von Dart und Bolt reißt mich aus den trüben Gedanken. Jeder sieht aus wie ein halber Tarmo. Breitbeinig stellen sie sich vor mir auf.

„Da ist ja die Hundert-Treffer-Bitch“, sagt Dart und schaut auf mich herunter.

Mein Rücken versteift sich.

„Hast du‘s schon gehört? Morgen ist Nahkampf dran. Da üben wir Terroristen auszuschalten. Wenn ich gegen dich dran bin, werde ich mich nicht zurückhalten. Ich liefere dir eine sehr realistische Show“, meint er und dehnt seine Worte, damit es effektvoller rüberkommt.

„Sehr realistisch“, betont sein Bruder.

Was für Schwachköpfe. „Realistisch?“, entgegne ich. „Echte Terroristen haben doch viel mehr Hirn als ihr. Viel mehr.“

Das hätte ich nicht sagen dürfen. Bolts Gesicht verzerrt sich vor Wut, er tickt völlig aus. Er springt auf mich zu, stößt mich gegen die Wand neben Sonoras Terrarium und schlägt auf mich ein. In die Ecke gedrängt, halte ich mir die Arme vors Gesicht, um seine wütenden Hiebe abzuwehren.

Obwohl ich von vorne attackiert werde, spüre ich eine Bewegung in meinem Rücken. Die Wand bewegt sich. Plötzlich lässt Bolt von mir ab. Desorientiert stehe ich da, bis ich dem erschrockenen Blick der Brüder folge. Unser Kampf hat das Schaltfeld für Sonoras Terrarium herausfahren lassen. Mein Atem stockt, als die Futterklappe des Terrariums langsam hochfährt.

Bolt hat mich gegen den Öffner gedrängt. Scheiße! Wie kriegen wir die Klappe bloß wieder zu? Wie hat Tarmo das letztens gemacht? Ratlos stehe ich vor der langen Reihe von Schaltern. Wo muss ich drücken? Beim letzten Mal hatte ich nur Augen für das Chamäleon.

Sonora setzt sich in Bewegung und schlängelt auf die offene Klappe zu. Futter, sie erwartet Futter. Hastig drücke ich einen großen Knopf. Die Klappe bleibt offen. Ich drücke noch einen. Das Terrarium reagiert nicht. Noch einen – nichts.

Verdammt, verdammt, verdammt!

Dart und Bolt stehen da wie angewurzelt und starren auf die züngelnde Viper. Mir laufen kalte Wellen über den Rücken, während ich erfolglos auf alle Schalter einschlage. Komm schon. Geh zu! Geh zu!

Zu spät. Sonora hat die Klappe erreicht, streckt ihren dreieckigen Kopf durch die Öffnung und gleitet langsam hinaus.

9. Kapitel

Mit einem erstickten Schrei ergreift Dart die Flucht. Sein Bruder ist ihm dicht auf den Fersen. Auch ich laufe los, weg von der Gefahr, allerdings in die entgegengesetzte Richtung, den langen Gang hindurch zu den Schlafsälen. Durch die Glasfront zu meiner Linken strahlt ein dotterfarbiger Sonnenuntergang, der die Berge zu meiner Rechten in warmes Licht taucht, doch ich habe kein Auge dafür. Meine hastigen Schritte quietschen auf dem spiegelglatten Boden, mein Atem rasselt, und mein Brustkorb ist zugeschnürt, als ob mir das Viperngift schon die Luft rauben würde.

Tarmo, schießt es mir durch den Kopf. Tarmo ist der Einzige, der Sonora wieder einfangen kann. Neue Panik steigt in mir hoch. Ich habe keine Ahnung, vor wem ich mehr Angst habe, vor meinem verrückten Ausbilder oder vor seiner Schlange. Dennoch renne ich an meinem Schlafsaal vorbei, weiter in Richtung der Trainerquartiere. Diesen Teil des Gebäudes habe ich noch nie betreten.

Nach einem Hundert-Meter-Sprint erreiche ich keuchend den Trainertrakt. Ich passiere eine Reihe von Türen mit unbekannten Namen, bis ich das Ende des Korridors erreiche. Direkt neben einer Tür mit der Aufschrift Kohen Sander entdecke ich Tarmos Quartier.

Ich will klopfen, aber meine Hand bewegt sich nicht. Bin ich hier überhaupt richtig? Tarmo steht auf der Tür, aber der Nachname ist mit dem Bild einer Schlange überklebt. Das passt zu diesem Irren wie die Faust aufs Auge: Uns spricht er mit dem Nachnamen an, doch den eigenen versteckt er.

Meine Fingerknöchel berühren die Tür, die sich lautlos öffnet. Ich mache einen Schritt in die Wohnung und springe sofort wieder zurück. Vor mir klafft das aufgerissene Maul einer Boa, die spitzen Zähne nach vorne gerichtet. Die Würgeschlange ist so reglos erstarrt wie ich. Nein, sie ist noch steifer als ich. Ausgestopft. Hörbar atme ich aus.

Ich rufe nach Tarmo, wohl zu zaghaft, denn ich erhalte keine Antwort.

Er kann mich nicht hören, da meine Stimme von monoton grölender Musik übertönt wird. Der dumpfe Bass lässt den Boden vibrieren und mein Zwerchfell. Mein Herzschlag hält mit dem schnellen Rhythmus beinahe mit.

Ewig kann ich allerdings nicht vor der Empfangsboa stehen bleiben. Dreimal atme ich tief durch, zupfe den Saum meines Ärmels zurecht. Dann nehme ich den Hindernisparcours aus Stiefeln, Mänteln und Hanteln, die rund um die Garderobe verstreut liegen. Von den kleinen Terrarien an der Fensterfront halte ich mich fern. Ich will gar nicht wissen, was darin krabbelt oder kriecht. Zaghaft nähere ich mich der Ecke, aus der die Musik kommt. Auf dem Weg dorthin laufe ich an einem Poster mit einer blonden Androidenfrau vorbei, die mich an eine ganz bestimmte Blondine aus meinem Schlafsaal erinnert. Die Ähnlichkeit ist unverkennbar.

Tarmo sitzt mit dem Rücken zu mir auf einem dunkelroten Sofa. Er scheint in Gedanken ganz weit weg zu sein.

„Olya! Schön, dass du da bist.“ Seine Stimme klingt seltsam versonnen und fast ein bisschen weich.

Alles, was ich als Antwort herausbringe, ist ein heiseres Krächzen.

Tarmo dreht sich um. Sein Gesicht ist gerötet, seine Pupillen unnatürlich groß. Ein scharfer Geruch steigt mir in die Nase, intensiv und stechend, fast wie das billige Betäubungsmittel, das die Ärzte im Rauring verwenden, wenn die guten Schmerzhemmer aus sind.

„Du schnüffelst Snifftox!“ Erschrocken halte ich mir den Mund zu.

Benommen erhebt sich Tarmo und wankt auf mich zu. „Was – geht – das – dich an?“ Seine schleppende Stimme passt so gar nicht zu ihm. Aber das ändert sich in der nächsten Sekunde. „Was geht das dich an?“, brüllt er mich in dem gewohnten Kommandoton an. „Was willst du überhaupt hier? Mir nachspionieren?“ Drohend baut er sich vor mir auf. Sein Gesicht ist schweißnass, er verströmt einen unangenehmen Geruch.

„Nein, nein, bestimmt nicht.“ Ich weiche zurück und stehe an der Wand. „Also, äh, es ist so. Die Schlange … Sonora, deine Viper … sie ist aus dem Terrarium entkommen.“

„Was sagst du da?“ Tarmo macht einen Schritt auf mich zu. Sein Zorn ist beinahe mit den Händen greifbar. Die dunkelblaue Ader an seiner glänzenden Schläfe schwillt an. Hypnotisiert starre ich sie an. Gleich wird sie zerplatzen.

„Das, das war ein Versehen“, stammle ich. „Bolt hat mich geschubst, gegen den Schalter …“

„Du hast sie rausgelassen!“, schreit Tarmo.

Ich ducke mich, suche nach einem Fluchtweg. Aber Tarmo lässt mich nicht durch. Mein Herzschlag dröhnt mir in den Ohren.

„Du stinkender Schlangenfraß!“ Plötzlich sind Tarmos Hände an meiner Kehle und drücken zu. Ich krache gegen die Wand, ein trockenes Gurgeln quetscht sich aus der Tiefe meines Halses. Der Rauringsplitter schneidet in die Mulde zwischen meinen Schlüsselbeinen. Ich will mich wehren, will Tarmo wegschieben, aber meine Arme gehorchen mir nicht. Mein Nomen blinkt warnend. Das Warnhologramm bläht sich auf wie ein Ballon, verfärbt sich dabei von Gelb zu Rot und pulsiert wie ein rasendes Herz. Panik und Blut stauen sich in meinem Kopf, es fühlt sich an, als würden meine Augen aus den Höhlen gequetscht. Das Notsignal flackert, mein Körper zuckt krampfhaft. Ich höre mein krankhaftes Röcheln nur noch gedämpft.

Dann wird mir schwarz vor Augen. Die Welt um mich versinkt in Stille. Meine Knie knicken ein. So ist es also, wenn man stirbt, schießt es mir durch den Kopf.

Als ich wieder Geräusche wahrnehme, liege ich am Boden auf Stiefelhöhe von zwei Männern. Kohen hält Tarmo fest und redet eindringlich auf ihn ein. Er bemerkt meine Bewegung und zieht mich auf die Beine, die mich nicht tragen wollen. Mit festem Griff bugsiert er mich aus dem Zimmer.

Draußen schnappe ich keuchend nach Luft. Bestimmt hat mir Kohen gerade das Leben gerettet. Ich möchte mich bedanken, doch sein Blick ist eisig. „Bist du auch eine von denen?“, schleudert er mir voller Verachtung entgegen.

Verständnislos schaue ich ihn an. „Was?“

„Eine von denen, die ihre Punktewertung in Tarmos Bett aufbessern? Das hätte ich dir nicht zugetraut.“ Bevor mir bewusst wird, was er meint, hat er sich schon umgedreht und ist in seinem Zimmer verschwunden.

Ich und Tarmo? Wie ekelhaft. Wie kann Kohen so was von mir denken? Der unfaire Vorwurf tut so weh, dass ich meinen schmerzenden Hals fast vergesse. Ich flüchte in mein Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und will nichts mehr sehen, hören oder auch nur denken.

Krampfhaft versuche ich einzuschlafen, nur um kurz darauf aufzuschrecken. Mein Nachthemd klebt mir am Körper. Ständig muss ich husten, was das Kratzen im Hals nur verschlimmert. Ich dämpfe meine Hustenanfälle mit dem Kissen, um Anna und Mila nicht zu wecken, und wälze mich von einer Seite zur anderen, bis ich endlich wieder wegdösen kann.

 

Kohen muss doch wissen, wie dämlich seine Anschuldigung ist, schießt es mir am Morgen nach dem Aufwachen als Erstes durch den Kopf. Die anderen sind schon weg, aber mein bleischwerer Körper lässt sich nicht zum Aufstehen bewegen. Seufzend sinke ich auf die Matratze zurück, bis ich mich endlich aufraffen kann. Als ich in den Spiegel schaue, starren mich blutunterlaufene Augen an. Rot-schwarze Flecken ziehen sich von meiner Kehle bis zum Schlüsselbein. Das Schlucken tut weh. Der Rauringsplitter an meiner Kette hat eine hässliche Schnittwunde hinterlassen, die über Nacht schon gut abgeheilt ist. Vorsichtig stelle ich den Kragen meines Trainingsoveralls auf und ziehe den Reißverschluss ganz nach oben, um die Blutergüsse zu verdecken und auch die Kette, nicht dass sie mir doch noch abgenommen wird.

Durch verlassene Gänge schleiche ich zum Speisesaal, wo alle anderen bereits beim Frühstück sitzen und Felix mir einen Platz freigehalten hat. Ich bin viel zu spät dran. Ist aber eigentlich auch egal, denn ich habe eh keinen Appetit. Das Kauen fällt mir schwer, und ich kriege fast nichts runter. Die hektische Aufregung um mich herum nervt mich tierisch. Sonoras Ausbruch ist natürlich das Thema des Tages.

Mila schaut mich immer wieder fragend an. Sie spürt, dass mit mir etwas nicht stimmt, doch ich bedeute ihr mit einem verstohlenen Kopfschütteln, dass ich jetzt nicht darüber sprechen kann.

Während wir uns wortlos austauschen, redet Felix umso mehr. „Wo warst du gestern eigentlich die ganze Zeit?“, will er wissen. „Du hast eine Riesenshow verpasst. Das Schlangenvieh ist richtig schnell! Doch Kohen hat sie mit einer Stange in Schach gehalten und mit Spray betäubt. So eine Aktion hätte ich dem braven WERT-Dackel gar nicht zugetraut.“

„Und Tarmo hat sich gar nicht blicken lassen. Dabei ist es doch seine Schlange“, sagt Mila verwundert.

Ich könnte ihr schon verraten, warum. Dazu ist allerdings keine Zeit. Später, signalisiere ich ihr noch einmal mit einem Blick auf meine Nomen-Uhr. Erst mal müssen wir zu unserer Vormittagstrainingsstunde. Heute steht Selbstverteidigung im Fall eines Entführungsversuchs auf dem Programm. Auf wackeligen Beinen schleiche ich hinter den anderen her. Ich mag mir gar nicht vorstellen, welche Blamage mich da wieder erwartet.

Bolt sieht das wohl anders. „Wenn diese Terroristen auftauchen, werden sie uns kennenlernen“, verkündet er. Da die Tür zum Trainingsraum noch geschlossen ist, lässt er sich vor dem Zimmer in den Sessel neben seinem Bruder fallen.

Dart lässt seine Fingerknöchel knacken, einen nach dem anderen, jedes einzelne Fingerglied. Es klingt, als würden lauter kleine Knochen brechen. „So hört sich das an, wenn wir Emony auf die Matte schicken“, meint Dart und lacht dreckig.

„Ihr zwei haltet euch für die Größten“, erwidert Felix, „aber im Vergleich zu Tarmo kommt ihr daher wie zwei Amöben.“

Stille. Alle haben Felix‘ Ausruf gehört und warten gespannt auf die Reaktion der Brüder. Diese schauen sich fragend an, nicken und stehen gleichzeitig auf. Sie fixieren Felix und gehen von zwei Seiten langsam auf ihn zu. Mila steht händeringend daneben und macht einen Schritt nach vorn, um dazwischenzutreten. Wer sich mit Felix anlegt, bekommt es offenbar auch mit ihr zu tun. So viel Mumm hätte ich ihr gar nicht zugetraut.

„Wollen die Herren schon beginnen?“ Tarmos zynische Stimme unterbricht die angespannte Atmosphäre. Mir entfährt ein unwillkürlicher Krächzlaut, als mein Angreifer von gestern mit großen Schritten auf uns zuhält. Auch Dart und Bolt stehen da wie vom Donner gerührt. Nur Mila seufzt erleichtert.

„Bunkerpack, das sich gegenseitig zerfleischt, können wir hier gut brauchen“, erklärt Tarmo. „Das vereinfacht die Auswahl.“ Fies grinsend scheucht er uns in den Trainingsraum. Ein Nomen-Anruf hindert ihn daran, uns umgehend zu folgen.

In der Halle wartet Kohen auf uns. Ich stelle mich genau in die Mitte des Halbkreises, den wir um ihn herum bilden. Kohen schaut über unsere Köpfe hinweg. Als ich das Schweigen mit einem trockenen Husten unterbreche, bleibt sein Blick für einen Sekundenbruchteil an meinem hochgezogenen Kragen hängen. Er runzelt die Stirn, dreht sich dann aber gleich wieder weg, um auf eine Reihe lebensgroßer Männerfiguren aus Metall und Schaumpolstern zu zeigen. Diese stehen mit hängenden Köpfen auf kleinen Plattformen. Sie sehen aus wie schlafende Kampfroboter.

„Das sind unsere Dummys für die Nahkampfsimulation“, erklärt Kohen. „Sie zeigen per Leuchtsignal an, wo ihr sie treffen müsst, und messen dann eure Geschwindigkeit und Schlagkraft. Doch Vorsicht: Sie bewegen sich und schlagen zurück.“

„Außer ihr macht sie zuerst fertig“, wirft Tarmo von der Tür aus ein. Im Hereinmarschieren öffnet und schließt er die Fäuste, um seine Finger zu lockern. Er zieht sich ein Paar Boxhandschuhe über und baut sich vor dem größten Dummy auf. „Figur drei, Stärke zwölf“, befiehlt er.

Kohen schiebt am Steuerstand einen Regler hoch. Der Dummy hebt den Kopf und wackelt schwachsinnig grinsend hin und her. Auf seiner Brust taucht eine blaue Zielscheibe auf.

Tarmo ignoriert das Lichtsignal. Bevor wir zweimal hinschauen, legt er schon los. Er springt den Gegner an, haut mit den Fäusten in das grinsende Schaumgesicht und kickt ihm in den Unterleib.

Erst leuchten noch Zielscheiben an Kopf, Armen und Bauch der Figur auf, aber unter den rasenden Schlägen beginnen die Lichter bald zu flackern, und die Elektronik knackt. Nun rennt Tarmo auf den Dummy zu, rammt ihn und wirft ihn von der Plattform, deren Kraftfeld die Figur aufgerichtet hatte. Der Metallkörper schlägt laut krachend auf dem Hallenboden auf. Wumm, wumm, wumm! Tarmo tritt auf ihn ein wie ein Wahnsinniger. Nicht wie, er ist ein Wahnsinniger.

Und prügelt weiter.

Die Lichter des Dummys flackern immer seltener und gehen nacheinander aus. Als das Gerät mit einem letzten Knack den Geist aufgibt, hält Tarmo endlich keuchend inne. Ein kollektives Aufatmen geht durch die Gruppe, aber keiner wagt sich nur einen Millimeter zu bewegen.

„Tarmo hat uns die ultimative Notwehr bei einem feindlichen Direktangriff vorgeführt“, sagt Kohen in die Stille.

Notwehr. Aha. So nennt man das also.

„Und er hat wieder einen Dummy kaputt gemacht“, fügt Kohen hinzu. Diesmal geht sein Blick bewusst in meine Richtung. Unwillkürlich wische ich mir über die Stirn. Meine Hände sind kalt und feucht. Ich habe Tarmos Wahnsinn am eigenen Leib zu spüren bekommen. Das ist ein Irrer, ein zerstörungswütiges Monster.

Tarmo wischt Kohens Bemerkung mit abschätziger Geste beiseite. „Wenn der Feind ausgeschaltet werden muss, ist alles erlaubt. Doch der werte Kollege hat recht: Warum sollten wir uns mit dem Spielzeug hier abgeben, wenn wir auch echte Gegner haben können?“ Er steigt auf eine dünne Matte und bedeutet Kohen mit einer herrischen Kopfbewegung, ihm zu folgen. „Wir führen euch jetzt vor, wie man einen Feind kampfunfähig macht. Dazu muss man seine Schwachstellen erkennen.“ Tarmo grinst erwartungsvoll.

Kohen atmet tief ein und aus. Dann legt er den Kopf in den Nacken, strafft sich und greift zu einem Paar Handschuhe. Mit energischen Schritten betritt er die Matte und geht in Abwehrstellung. Reglos steht er da, rechter Fuß vorne, Arme vor dem Körper, Muskeln gespannt.

Ich balle meine Hände zu Fäusten. Wer auch immer gegen diesen Irren antritt, braucht alles Glück, das man sich vorstellen kann.

Wie eine Dampfwalze rast Tarmo los. Ohne auf ein Startsignal zu warten, attackiert er Kohen mit Beinen und Fäusten. Der weicht aus, blockt ab. Tarmo springt vor und zurück, ist überall gleichzeitig, traktiert den Gegner, wo er ihn erreichen kann. Regeln und Fairplay kümmern ihn herzlich wenig.

Kohen kontert mit kontrollierten Abwehrbewegungen, wie wir sie aus dem Lehrbuch kennen. Tarmos nächster Angriff lässt nicht lange auf sich warten. Er will Kohen in den Schwitzkasten nehmen, greift allerdings ins Leere, da Kohen sich wegdreht. Atemlos folgen unsere Blicke dem schnellen Hin und Her, keiner gibt einen Mucks von sich, denn jeden Moment muss der ultimative Schlagabtausch kommen.

Da zupft Mila mich am Hemd und deutet mit dem Kinn zu Tarmo. „Schau in sein Gesicht. Seine Mundwinkel zucken immer, bevor er losschlägt“, flüstert sie.

Die Kämpfer umkreisen sich, lauern. Ich beobachte Tarmos Miene, und tatsächlich zuckt sein Mundwinkel, bevor er Kohen einen rechten Haken verpasst. Mundwinkelzucken links, linker Faustschlag.

Plötzlich höre ich ein schweres Klatschen, gefolgt von einem wilden Brüllen. Nur einen Moment lang habe ich nicht aufgepasst, da hat Kohen Tarmo am Arm gepackt und mit einer schnellen Hebelbewegung in die Knie gezwungen. Den verdrehten Arm fixiert er auf Tarmos Rücken. Beide atmen schwer.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um ein breites Lächeln zu unterdrücken. Wenn ich an Kohens Stelle wäre, würde ich Tarmos Arm noch ein Stück weiterdrehen. Doch Kohen erklärt die Übung für beendet, lässt seinen Gegner los und steht schwungvoll auf.

In dem Moment rollt sich Tarmo von hinten heran und tritt Kohen mit voller Kraft in die Kniekehlen. Der kippt auf die Matte und kann sich gerade noch mit den Händen abfangen. Sofort ist Tarmo über ihm und versetzt ihm einen Ellbogenschlag in den Nacken.

Das gibt‘s doch nicht. Dieses miese Schwein!

Vor Schreck und Empörung steht mir der Mund offen. Kohen hält die Luft an und windet sich vor Schmerzen. Eine gelbe Warnleuchte erscheint über seinem Nomen-Implantat, doch Tarmo thront ungerührt über ihm. „Das war eine wichtige Lehre für euch“, sagt er.

Wie bitte?

„Die Terroristen wollen euch an die Gurgel. Also wehrt euch, mit allen Mitteln. Oder es geht euch wie ihm.“ Verächtlich zeigt er auf Kohen und deutet eine spöttische Verbeugung an. „Jetzt seid ihr dran“, verkündet Tarmo und fängt an, uns in Zweierteams einzuteilen. „Keller gegen Kern“, beschließt er.

Na toll, denke ich. Bestimmt macht er gleich Flachwitze über das „Ende der Kern-Kraft“.

Dem Befehl folgend, steigen Mila und ich wie die anderen Teams auf eine der hart gefederten schwarzen Matten. Wir umkreisen uns unsicher, während uns Tarmo mit verschränkten Armen beobachtet.

„Bewegung, Bewegung, ständig in Bewegung bleiben! Wenn der Gegner euch attackiert, müsst ihr ihn abwehren, benutzt eure Knie und Ellbogen als Waffen. Und dann mit Kraft nachtreten.“ Seine Erklärungen dringen kaum zu mir durch.

Nein, ich kann Mila nicht wehtun. Sie ist viel kleiner als ich, leichter. Sie hält ihre dünnen Arme, an denen die Boxhandschuhe grotesk groß erscheinen, schützend vors Gesicht und blinzelt mit großen Augen dahinter hervor. Sie wirkt so zerbrechlich! Meine halbherzigen Haken kommen nicht mal in ihre Nähe.

Das ist Tarmo allerdings nicht entgangen. Wäre auch zu schön gewesen.

„Wir sind hier nicht im Streichelzoo!“, brüllt er so laut, dass alle mitten in ihren Bewegungen erstarren. Dann bilden sie einen Kreis um uns. „Keller, schlag zu!“, befiehlt Tarmo.

Ich stupse Mila an der Schulter.

„Härter!“

Meine Faust reagiert nur in Zeitlupe.

Tarmos Stimme wird zu einem Zischen. „Zum letzten Mal: Schlag zu!“

Diesmal komme ich seiner Anweisung nach. Mila weicht zurück, stolpert, fällt.

„Sehr gut. Jetzt beende es.“

„Was?“ Ich schaue Tarmo verständnislos an. „Wie beenden?“

„Der Terrorist wartet nur auf deine Schwäche. Du musst ihn kampfunfähig machen.“

Entgeistert schüttle ich den Kopf. „Das ist Mila. Sie liegt auf dem Boden. Ich kann ihr doch nichts tun!“

In Tarmos Wange zuckt ein Muskel, die Sehnen an seinem Hals sind deutlich zu erkennen. Widerspruch, noch dazu öffentlich! Was habe ich mir nur dabei gedacht? Ich kann direkt sehen, wie sein Hirn unter seinem kahlen Schädel heiß läuft.

Tarmo grinst mich an. „Du willst also nicht zuschlagen, weil sie schwach ist. Richtig? Dann brauchst du einen starken Gegner.“ Er schaut sich um, wobei sein Blick kurz an Kohen hängen bleibt. „Wenn ich die staubigen Sandsäcke hier so angucke, gibt es da eigentlich nur – mich.“

Mila krabbelt hastig weg, als Tarmo einen großen Schritt auf die Matte macht. Demonstrativ dehnt er seine Halsmuskeln. In Kampfposition strahlt er noch mehr Bedrohung aus als sonst schon. Mir wird schlecht vor Angst. Gleich kotze ich ihm vor die Füße, ist das Einzige, was ich denken kann.

Tarmo ist wie eine Riesenschlange, die jederzeit blitzschnell zustoßen kann. Ich bin das Chamäleon; die Schlange bewegt sich drohend auf mich zu. Ich muss etwas tun. Verzweifelt suche ich nach einem Anzeichen für den Angriff. Tarmo fixiert mich, weidet sich sichtlich an meiner Angst. Er stinkt beißend nach Schweiß. Ich weiche vor ihm zurück und stolpere fast von der Matte. Dart schubst mich hart zurück, mühsam fange ich mich wieder.

 

„Schlag zu!“, fordert mich Tarmo auf. „Bei feinen Damen halte ich mich zurück.“

Wie gern würde ich ihm eine aufs Maul hauen! Aber er spielt ja nur mit mir. Jagt mich herum wie ein Kater die Maus, bevor er ihr den Rest gibt. Um das zu erkennen, brauche ich keine Feuerameisen. Das sagt mir der gesunde Menschenverstand.

„Große Klappe und nichts dahinter“, höhnt er.

Meine Stirn wird heiß.

„Feige Rauringbrut!“

Bittere Galle steigt in meiner Kehle auf.

„Hat dir dein Vater kein bisschen Mumm vererbt?“

Ich stoße ein tiefes Knurren aus. Lass bloß meinen Vater aus dem Spiel!

Doch Tarmo legt erst richtig los. „Ja ja, der alte Keller! Der war der gleiche Versager wie die Tochter. Kein Wunder, dass der draufgegangen ist. Solche Schwächlinge trifft es immer zuerst!“

Da brennt in mir eine Sicherung durch. Ich hole aus. Ziele direkt auf Tarmos irre Miene. Schlage zu. In dem Moment spüre ich eine harte Faust in meinem Magen. Der Schmerz fährt mir wie ein Messerstich vom Bauch bis ins Hirn und nimmt mir die Luft. Ich klappe zusammen, kippe um und klatsche wie ein Sack auf die Matte.

Stöhnend krümme ich mich auf dem Boden. Mein Nomen leuchtet. Das orange Alarmhologramm verschwimmt vor meinen Augen. Auf die nutzlose Warnblinkanlage könnte ich gut verzichten. Das Nomen sollte lieber den Schmerz lindern.

Mein Atem kommt flach und stoßweise zurück. Ich lebe noch. Gerade so.

„Wenn die Dame jetzt so freundlich wäre, aufzustehen?“ Tarmo schaut spöttisch auf mich herunter und streckt mir die Hand entgegen. Ich ignoriere sie und rapple mich mühsam auf.

„Los! Weiter.“ Tarmos Mundwinkel zuckt.

Ja, natürlich, das ist es! Darauf muss ich schauen! Tarmo geht in die Offensive, aber er erwischt mich nicht mehr. Rechts, rechts, links. Ich ducke mich vor seinen Hieben und Tritten weg, lasse ihn ins Leere laufen.

Schon etwas gelernt, denke ich triumphierend.

„Elastik-Emo entschlüpft Rammbock-Tarmo“, flüstert Felix so laut, dass rundum Gelächter ausbricht.

Tarmo hat es auch gehört. Er bläht die Nasenflügel. Meine Schrecksekunde wird mir zum Verhängnis. Tarmos Faust landet hart an meinem Kopf, heiße Stichflammen überrollen mich.

Dann kommt die Finsternis.

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