Die Ring Chroniken 1

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„Wir. Sind. Keine. Schwächlinge!“, stößt Felix hervor.

„Schsch, nicht so laut“, ermahne ich ihn zischend, halte mir den Finger an den Mund und blicke mich besorgt um. Wir sind hier nicht allein. An unseren Tisch wollte sich zwar niemand dazusetzen, aber Felix brüllt, als wäre der ganze Speisesaal leer. „Pass bloß auf, dass uns keiner hört“, warne ich ihn.

„Ach ja, stimmt“, erwidert Felix nun leiser. „Unsere Trainer haben ihre Riesenohren überall, allen voran dieser Kohen. Wie der sich gestern aufgespielt hat! Als ob er einen Stock im Hintern hätte.“

Der steht tatsächlich an der Tür. Jetzt ist er wieder ganz der Ausbilder mit dem silbernen WERT-Emblem auf der breiten Brust. Aber für ein kleines Lächeln in meine Richtung reicht es doch. „Der Trainingsbeginn für Sektorengruppe A wurde verschoben, und zwar auf jetzt sofort. In fünf Minuten sehen wir uns im Demo-Raum B“, verkündet er, dreht sich um und verlässt den Saal.

Schnell springen Mila, Felix und ich auf und eilen zu der angesetzten Übungsstunde. Als wir in unserem Trainingsraum ankommen, wartet Kohen schon auf uns. So wie er auf dem Podest steht, in dem nachtblauen Overall mit den glänzenden Einsätzen und den schwarzen Stiefeln, sieht er ganz anders aus als vorhin beim Klettern, strenger, distanzierter – richtig abweisend.

„Wir beginnen mit der Einführung in das Nomen-Implantat“, erklärt er, nachdem sich alle versammelt haben. „Ihr könnt die OP-Pflaster nun abziehen.“

Ich taste nach der ungewohnten Wölbung in meinem Nacken. Unter dem glatten Kunststoffverband spüre ich das harte Dreiecksimplantat. Ich drücke vorsichtig darauf und fühle einen stechenden Schmerz.

Kohen hält uns einen Eimer für die Pflaster entgegen. Ich wechsle einen zweifelnden Blick mit Felix. Auffordernd hebt Kohen die Augenbrauen.

Also gut. Wir sind schließlich keine Weicheier.

Ich zupfe mit den Fingernägeln an dem klebrigen Rand meines Armpflasters. Verdammt, tut das weh! Es fühlt sich an, als würde ich meine eigene Haut langsam abziehen. Doch Kohens Blick ruht immer noch auf mir. Also beiße ich die Zähne zusammen und reiße das Pflaster mit einem schnellen Ruck ab. Tränen schießen mir in die Augen, aber der Schmerz ebbt schnell ab. In meinem Armrücken steckt ein glänzendes Schaltfeld, umgeben von empfindlicher zartrosa Haut. Ich rupfe mir auch das Nackenpflaster ab und werfe es in Kohens Eimer. Anerkennend nickt er.

Ich freue mich und merke erst nach einiger Zeit, dass ich über das ganze Gesicht grinse. Schnell senke ich den Kopf zu meinem neuen Nomen-Schaltfeld im Handrücken.

Nachdem auch die anderen pflasterfrei sind, hebt Kohen die Stimme. „Die erste Grundfunktion ist das tägliche Gesundheits-Update. Bestimmt fragt ihr euch, warum auf eurem Armmodul seit heute Morgen ein blaues Kreuz leuchtet – tippt doch mal drauf.“

Sowie ich das Kreuz berühre, erscheinen über meiner linken Hand eine Uhr, ein Apfel, eine Spritze und ein Herz. Überrascht mache ich einen Satz nach hinten, wobei die schimmernden Symbole mithüpfen. Mein Armmodul blinkt. Anscheinend projiziert es die dreidimensionalen Hologramme in die Luft.

„Das sind eure Gesundheitsdaten“, erläutert Kohen. „Blutdruck und Blutzuckerspiegel, Vitaminversorgung und ein paar Feinheiten, die ihr fürs Erste übergehen könnt. Das Herzhologramm zeigt euren Puls.“

Tatsächlich. Die Miniatur über meiner Handfläche hüpft in rhythmischer Aufregung auf und ab. Felix grinst und greift nach meinem Herzchen. Das springt vor seiner ungestümen Bewegung weg und verschwindet. An seiner Stelle erscheinen medizinische Daten zu meiner Herztätigkeit. Verblüfft starrt Felix auf meine Hand. Als sich unsere Blicke treffen, pulsiert sein Herzhologramm schneller. Mit einem verschämten Grinsen wischt er es beiseite.

Mila hat uns mit zusammengekniffenen Augen zugesehen. Auch ihr Leuchtherz klopft auffallend hektisch. Rasch zieht sie den Ärmel ihres Trainingsoveralls über ihr Armimplantat.

Bevor ich fragen kann, was mit ihr los ist, fährt Kohen bereits mit seiner Einführung fort. Als Nächstes widmet er sich der Ortungsfunktion unserer Nomen. Dazu klipst er sich eine Verstärkermanschette ans Handgelenk, die sein Hologramm auf zwei Meter Durchmesser vergrößert und den Ton für alle hörbar macht. Mit schnellen Wischbewegungen holt er eine dreidimensionale Darstellung des Adoptenzentrums hervor und zoomt in den Demo-Raum, wo wir als kleine Figürchen zu erkennen sind.

Felix reißt die Arme hoch und winkt. Sein holografisches Abbild grüßt zurück. Er lacht begeistert, während ich mit den Zähnen knirsche. Felix ist wohl noch nicht klar, was das bedeutet: Wir stehen unter ständiger Beobachtung. Kohen sieht ganz genau, was wir tun. Ob wir schlafen, essen oder aufs Klo gehen: Er ist immer dabei. Und sicherlich nicht nur er. Bestimmt hat Tarmos Nomen die gleiche Funktion.

„Das ist ja die totale Überwachung!“, stoße ich hervor, bevor ich weiß, was ich sage.

Kohen hält inne und schaut mich ernst an. „Keine Sorge, WERT achtet selbstverständlich auf die Intimsphäre der Adopten. So deutlich sind die Hologramme nur in öffentlichen Räumen zu sehen. Ansonsten sind sie verpixelt.“

Klar. Selbstredend. Und warum werden meine Ohren dann heiß? Weil das Bullshit ist. Ich presse die Lippen zusammen, damit ich nicht mit wüsten Beschimpfungen um mich werfe. Kohen wippt unruhig auf und ab. Mein Trotz irritiert ihn sichtlich. Immerhin.

Olya hat andere Sorgen. „Ich kann Tarmo nirgends entdecken. Wo ist er auf dem Display?“

„Tarmo kann ich nicht anzeigen, weil sein Nomen eine höhere Statusgruppe hat als meines. Nur die mir zugeordneten Träger niedrigerer Nomen-Gruppen sind sichtbar“, erklärt Kohen. „Aber nun kommen wir zur Nachrichten-Funktion. Dabei zeichnet das Nomen wie eine innere Kamera eure Stimme und eure Bewegungen auf. Probiert das mal.“

Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Ich drücke den Aufnahmeknopf und gebe ein paar sinnfreie Sätze von mir. Während ich die Nachricht abspiele, leuchtet eine zwanzig Zentimeter große Emony auf meiner Handfläche. Ich ärgere mich über meine unordentliche Frisur und die ungewohnt hohle, fast blecherne Stimme.

Olya dagegen dreht sich mit eleganten Tanzschritten und schickt die Aufnahme an alle. Die Jungs rufen sie sofort ab, woraufhin sich eine zart schimmernde Miniatur-Olya auf ihren Handflächen wiegt. Sie starren die kleine Lichtgestalt mit offenen Mündern an. Fehlt nur noch, dass sie zu sabbern anfangen. Dart holt sich Olyas Oberkörper in Originalgröße aus dem Verstärker, grinst und befummelt das Hologramm. Die echte Olya kichert, da er ins Leere greift.

„Das reicht“, beschließt Kohen. „Das Nomen ist kein Spielzeug. Es bestimmt ab sofort euer Leben. Die WERT-Gesellschaft hält damit Kontakt zu den Adopten. Nachrichten aus der Zentrale sind daher umgehend anzunehmen.“

„Und wenn ich nicht rangehe?“, fragt Felix leicht trotzig.

„Du wirst rangehen.“

„Werde ich nicht.“

Kohen ruft in seinem Hologramm eine kleine rote Sprechblase auf und zieht sie auf den Miniatur-Felix. Bei dem großen Gegenstück blinkt das Handmodul rot, erst langsam, dann immer schneller.

Felix schaut in die Luft und pfeift unbeteiligt. Doch dann fährt sein Arm ruckartig nach oben. Er starrt ungläubig auf die Leuchtanzeige, schüttelt seine Hand hektisch und pustet sie an. „Ahh, heiß“, stößt er keuchend hervor.

„Dann heb ab“, erwidert Kohen ruhig.

Als Felix mit dem Daumen auf den blinkenden Knopf drückt, erscheint darüber ein kleiner Kohen. „Deshalb sind offizielle Nachrichten unbedingt anzunehmen“, erläutert der Mini-Kohen. Bei seinem großen Gegenstück zuckt der rechte Mundwinkel, doch er sagt nichts. Schade, mich hätte sein Kommentar schon interessiert.

„So eine ‚Brand-Blase‘ schicke ich jetzt an Tarmo“, verkündet Felix, der sich von dem Schock schnell erholt hat.

Ein Grinsen huscht über Kohens Gesicht, und seine weißen Zähne blitzen. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, denn die nüchterne Antwort folgt prompt: „Geht nicht – höhere Statusgruppe.“

In dem Moment betritt Tarmo den Raum. „Eine viel höhere Statusgruppe“, betont er. „Die niederen Gruppen hören den höheren zu, nicht umgekehrt. Ihr seid die unterste von allen. Der absolute Bodensatz. Das ist euch hoffentlich klar. Ihr befolgt die Anweisungen, sonst gar nichts.“ Tarmo tippt an sein Handgelenk. „Da, ich hab was für euch. Verbrennt euch nicht“, meint er und verschwindet genauso schnell, wie er aufgetaucht ist.

Alle tippen eilig auf ihre Blinklichter. Erst erscheint der WERT-Stecker mit der Erkennungsmelodie der Firma, dann kommt das allseits bekannte „Gesicht der Zukunft“. WERT wählt unter den erfolgreichen Adopten regelmäßig einen aus, der mit seinem Werbespruch die Abendnachrichten eröffnet. Besonders häufig auf Sendung ist der charismatische Typ mit den leuchtenden Augen, der jetzt vor uns auftaucht. „WERT hat mir die Chance meines Lebens gegeben. Die werde ich nutzen“, versichert er uns zum millionsten Mal. Sein Gesicht ist effektvoll ausgeleuchtet, seine Stimme versprüht Energie. Unwillkürlich rolle ich mit den Augen.

Doch mir ist keine Verschnaufpause gegönnt. Es geht schon weiter mit der Speicherfunktion des Nomens. „Jedes Datenpaket hat Platz für tausend Bücher“, erläutert Kohen. „Ein Mensch kann eine Million verschiedener Pakete in seiner Blutbahn tragen, ihr könnt also eine Milliarde Bücher abspeichern.“

Felix lässt einen beeindruckten Pfiff hören. „Und wie kommen die Schmöker in meine Adern?“

Kohen nickt, als hätte er auf die Frage gewartet. „Normal werden die Daten per Funk übertragen und vom Nomen in Aminosäuren übersetzt – tausendfach kopiert, damit nichts verloren geht. Aber man kann sich auch Datenplasma spritzen. Damit erhält man die Informationen noch hundertmal schneller.“

 

„Nein, Felix fragt, woraus das Nomen die Datenpakete macht“, mische ich mich ein. „Frisst es dafür unser Blut?“

Kurz lacht Kohen auf. „Keine Angst. Das Nomen gewinnt die Speicher-DNA zwar aus deinen roten Blutkörperchen, aber eine Eisentablette pro Tag gleicht das wieder aus.“

Schnell fasse ich mir ans Handgelenk und atme erleichtert auf, weil ich meinen Puls kräftig spüre. Dennoch ist mir mulmig. WERT packt uns mit Daten voll, die wir fortan durch unser Herz pumpen. Die Firma besetzt uns von innen.

8. Kapitel

Nach dem Mittagessen erhalten wir wieder eine Nomen-Nachricht. Als wir sie aufrufen, taucht ein Mini-Kohen auf unseren Händen auf. „Du bist meiner Ausbildungsgruppe zugeteilt“, sagt er freundlich. „Wir beginnen das Training um dreizehn Uhr am Schießstand.“

„Und keine Sekunde später!“ Vor Schreck werfe ich fast mein Trinkglas um, als Tarmos Hologramm an Kohens Stelle erscheint. Der Hologlatzkopf zeigt mit dem Finger auf mich. „Ich bin dein Chefausbilder und dulde keinen Verzug.“

Felix, Mila und ich stöhnen auf. Warum mussten wir ausgerechnet den kriegen? Mein Magen grummelt hörbar, während wir uns auf den Weg machen.

Bei der kleinen Waffenkammer neben der Trainingshalle werden wir schon erwartet. Kohen steht vor einem Arsenal an Gewehren unterschiedlicher Größe. Mit zusammengekniffenen Augenbrauen schaut er sich um, als wollte er die Waffen bewachen. Natürlich fühlen sich die Ambos-Brüder davon magisch angezogen.

„Die Kanonen sind der Hammer“, sagt Dart.

„Der Riesenhammer“, bestätigt Bolt.

„Sagt der Ambos“, murmelt Felix.

„Finger weg“, kommandiert Kohen, da Dart nach einem der größeren Kaliber greift. Der zieht die Hand zurück, als hätte er einen Schlag gekriegt. Ich verberge ein Grinsen. Geschieht ihm recht.

Kohen erklärt die Funktionsweise der elektromagnetischen Gewehre, nennt Kaliberzahlen, Geschossgeschwindigkeiten und Akkulaufzeiten. Besonders scheint ihm zu gefallen, wie leise die Schüsse sind, vom Überschallknall mal abgesehen.

„Genug gequatscht!“ Tarmo betritt den Raum und geht schnurstracks auf die Waffen zu. „Lassen wir die Kanonen sprechen!“ Er nimmt das größte Gewehr von der Wand. Mit dem wuchtigen Zielfernrohr an seinem langen Lauf und dem massiven Kolben muss es sehr schwer sein, aber Tarmo hebt es mühelos. „Munition!“, befiehlt er in Kohens Richtung.

Kohen kneift den Mund zusammen und reicht ihm ein Magazin, das Tarmo mit lautem Klacken in die Kanone rammt.

Das monströse Geschütz scheint mit seinen riesigen Händen zu verwachsen. Mit großen Schritten stampft er zum Schießstand in der Trainingshalle. Er zeigt auf eine Metallplatte an der gegenüberliegenden Wand: fünf Zentimeter dicker Stahl, fünfzig Meter entfernt. Eine abrupte Bewegung, ein metallisches Schnappen, und die erste Kugel sitzt im Lauf. Ein scharfes Summen zeigt an, dass der Magnet läuft.

„Ohren zuhalten“, warnt Kohen noch rechtzeitig, bevor Tarmo feuert. Einmal, zweimal, dreimal. Die Einschläge donnern durch mein Trommelfell, meine Ohren pfeifen. Die Schüsse haben die Stahlplatte glatt durchschlagen.

„Mit dem Kaliber kann ich Terroristenfahrzeuge auf einen halben Kilometer Entfernung ausschalten“, meint Tarmo. Der Gedanke erheitert ihn offensichtlich.

„Das braucht es aber praktisch nie“, wirft Kohen ein. „Falls die Angreifer so früh entdeckt werden, übernehmen die Schutzdrohnen die Verteidigung. Wenn die Terroristen schon da sind, sieht das anders aus. Dann sind Großkaliber unbrauchbar. Dafür haben wir handlichere Pistolen.“ Kohen zeigt auf ein Regal mit kleineren Waffen. Die sind etwa so lang wie mein Unterarm, schlank und glänzend – direkt elegant im Vergleich zu dem Monstrum, das Tarmo mit den Fingern umklammert.

Der zuckt geringschätzig mit den Schultern. „Das Spielzeug überlasse ich dem werten Kollegen“, sagt er und verschwindet in der Waffenkammer.

Kohen atmet tief durch, bevor er fortfährt. Er will uns einen Schusswechsel vorführen, damit wir seine Bewegungen und seine Haltung beobachten können. Dazu nimmt er sich eine der Pistolen und lädt sie mit Übungsmunition. Danach schaltet er den Kampfsimulator ein und tritt in die Mitte des Schießstandes. Mit der Magnetwaffe im Anschlag dreht er sich wachsam einmal zum linken, dann zum rechten Ende der Bahn. Was passiert jetzt? Gespannt schaue ich Kohen an.

Da entdecke ich ein Flimmern in der Luft am rechten Ende. Mit leisem Knistern materialisiert sich das lebensgroße Hologramm eines schwarz vermummten Kämpfers, der sofort auf Kohen zustürmt.

Beeindruckt pfeift Felix. „Das sieht ja total echt aus!“

Mein Puls schlägt schneller. Ich wechsle einen Blick mit Mila. Die Horrorbilder von Terrorangriffen auf die Gaskraftwerke haben sich unauslöschlich in unsere Köpfe gebrannt: Schwer bewaffnete Männer springen aus einem Pipelineshuttle, das zur Wartung ins Kraftwerk geholt wurde. Sie formieren sich und rennen durch schmale Gänge, stürmen über Metallstege und mähen alles nieder, was ihnen im Weg steht. Das Trampeln ihrer Stiefel, das Klacken der Waffen, die Schüsse und die Schreie der Getroffenen werde ich nie vergessen. Wenn solche Bilder gezeigt wurden, haben meine Feuerameisen immer stillgehalten.

Das ist brutale Realität. Kraftwerksarbeiter sind die Zielscheibe solcher Attacken. Als Adoptin muss auch ich den Kopf hinhalten. Das hätte ich mir mal besser vorher überlegt. Ich stütze mein Kinn auf die Hände und spüre den Pulsschlag in meinem Hals.

Nun hat auch der linke Holoprojektor einen Gegner erschaffen. Doch Kohen ist darauf gefasst. Kaum hat er auf den rechten Angreifer geschossen, wendet er sich blitzschnell um und schaltet den linken aus. Seine Kugeln lassen die lebensechten Projektionen in einer roten Splitterwolke explodieren.

So deutliche Bilder hätte es gar nicht gebraucht.

Immer mehr Terroristen entstehen aus dem Nichts, stürmen los und sinken im Funkenregen zu Boden. Kohens Bewegungen sind sicher, kontrolliert und rhythmisch, aber die Gegner werden immer zahlreicher. Die schwarze Geisterarmee agiert unheimlich rasch und gespenstisch leise. Kohen ist umringt.

Blitzschnell wirft er sich auf die Erde und verbirgt den Kopf in den Armen. Die Holokrieger zielen über ihn hinweg und treffen sich gegenseitig. Ein roter Regen ergießt sich über Kohen. Eine Fanfare ertönt: Spiel gewonnen.

Nach Kohens beeindruckender Vorführung sind wir an der Reihe. Ich folge den anderen in den Waffenraum und nehme mir eine Pistole aus dem Regal. Sie ist überraschend leicht. Ihr Gewicht scheint sich zu verdoppeln, wenn man das Magazin einlegt. In der Trainingshalle suche ich nach der richtigen Fingerstellung. Obwohl der Griff Einkerbungen für Mittel-, Ring- und kleinen Finger hat, passt es bei mir einfach nicht. Meine Hände sind wohl zu klein. Bis auf die Größe ähneln meine kurzen, dicken Finger denen meines Vaters. Ich schlucke hart.

Kohen demonstriert, wie man die erste Kugel in den Lauf einlegt. Das klappt schon mal. Waffe einschalten – ich höre ein ansteigendes Pfeifen, das abrupt abbricht, eine Oktave über dem Startgeräusch von Tarmos Geschütz. Oberhalb des Abzugs glimmt eine grüne Leuchte auf und zeigt an, dass der Magnet bereit ist. Die Waffe vibriert.

Wir sollen ein Übungsziel anvisieren, wobei ein roter Laserpunkt den Einschlag markiert. Meiner taumelt wie betrunken über die Scheibe. Mist, warum kann ich das Teil nicht ruhig halten?

Zu allem Überfluss genügt es nicht, auf feststehende Scheiben zu schießen – wir bekommen auch Hologegner. Felix wippt ungeduldig auf den Zehenspitzen, bis er dran ist. Erst schießt er daneben, aber dann landet er einen Treffer nach dem anderen. Er scheint meine Bewunderung zu genießen, denn nach jedem Treffer zwinkert er mir zu. Nur widerwillig macht er dem Nächsten Platz. Als ich dran bin, habe ich immer noch nicht den richtigen Griff gefunden. Ich blinzle, das Ziel schlingert. Ich greife die Pistole fester, den Zeigefinger am Abzug.

Kohen tritt neben mich. Er wirkt ungehalten. „Wie ich vorher schon gesagt habe: Die linke Hand unterstützt die rechte, greift über die Finger der Führungshand, Zeigefinger fest unter den Abzug, Daumen nach vorne.“ Warum erklärt er das nur mir? Die anderen sind doch auch noch keine Profis.

„Waagrecht halten!“

„Tu ich doch.“

„Lass mich es dir zeigen.“ Er fasst mich am Arm. Ich stehe stocksteif, doch seine Hand liegt warm auf meinen Fingern. Die sind so verkrampft, dass er sie einzeln lösen muss, um sie in die richtige Position zu bringen. Vorsichtig dreht er die Waffe in die Waagrechte. Inzwischen starren mich alle an. Und alle sehen, dass ich am Schießstand eine Null bin, der man die Hand führen muss.

Der erste Gegner taucht aus dem Nichts auf. Mein Puls schießt in die Höhe.

„Ausatmen – Energie“, meint Kohen.

„Was?“ Nicht so schnell.

Der Gegner zielt auf mich. Ich stehe da wie angewurzelt. Im selben Moment trifft mich das Holoprojektil. Ein Stromstoß wirft mich zurück, und mein Nomen sendet ein Warnlicht aus, ich nehme einen Schuss wahr, meinen Schuss, höre mich schreien und die anderen auch. Ein Lampenpaneel über dem Schießstand brummt, flackert und erlischt.

Kohen reißt mir die Waffe aus der Hand. „Das reicht für heute“, meint er knapp. „Zwanzig Minuten Pause, dann Übungsraum zwei.“

Geknickt schleiche ich hinter den anderen her, wobei mir das Klirren der abgeschossenen Lampe und Olyas Gekicher noch in den Ohren hallen. Warum musste ich mich gleich am ersten Tag so blamieren? Gerade vor Kohen! Als er meinen Arm berührt hat, hätte ich vor Schreck fast einen Schuss ausgelöst. Ich glaube beinahe, seine ruhige Hand noch auf meinen zitternden Fingern zu spüren. Die Erinnerung löst ein leichtes Kribbeln in mir aus, das aber gleich wieder erstirbt. Nach diesem glorreichen Auftritt hält mich Kohen bestimmt für eine hoffnungslose Niete.

Ich schniefe und erschrecke vor meinem zerzausten Spiegelbild im Fenster. Da knufft mich Felix freundschaftlich in die Seite. Ich muss wirklich elend aussehen, so fest, wie er mich daraufhin in die Arme schließt. Seitdem er mich das letzte Mal auf diese Art getröstet hat, ist er um einen halben Kopf gewachsen. Ich verschwinde fast in seiner Umarmung. „Denk dir nichts wegen der kaputten Lampe“, sagt er. „Dieser Kohen hat dich aus dem Konzept gebracht. Der hatte die Finger noch viel zu nah an dir dran. Der ist an dem Schaden schuld, nicht du.“

„Er hat es doch nur gut gemeint“, erwidere ich schniefend. „Der Versager bin ganz allein ich.“

Den tiefen Stirnfalten nach ist Felix anderer Ansicht, doch er verfolgt das Thema nicht weiter. „Hauptsache, du lässt dich nicht runterziehen, Emo. Da kommen bestimmt auch noch Übungen für dich. Als Nächstes gibt es angeblich einen Reaktionstest. Bei dem kannst du es allen zeigen – ist schließlich keiner so auf Zack wie du.“

Ich bin mir da nicht so sicher, lächle Felix aber dankbar an. Ohne seinen Optimismus würde ich hier gnadenlos untergehen.

„Schnarchnasen können wir nicht gebrauchen“, beginnt Tarmo seine Einführungsrede zu dem nächsten Test. „Wir stellen jetzt die laute und hektische Arbeit im Kontrollraum eines Kraftwerks nach. Adopten müssen bei der Arbeit hellwach sein. Hinhören, hinschauen, schnell und korrekt reagieren. Ich zeige euch mal, wie man das macht.“

Kohen steht reglos an einem Schaltfeld in der Ecke des Raums, den Blick in die Ferne gerichtet. Wahrscheinlich wünscht er sich ganz weit weg, an einen Kletterfelsen in den Bergen hinter Polaris, wo er sich ungestört von Griff zu Griff vorarbeiten kann und keine Meute nervöser Rauringsiedler am Hals hat.

Auf Tarmos herrisches Zeichen hin drückt er einige Knöpfe an seinem Schaltfeld. Sofort taucht vor Tarmo ein großes Spinnennetz von eineinhalb Metern Durchmesser auf, in dem rote Holokugeln hängen. „Wenn ein Ball aufleuchtet, tippe ich ihn an.“ Lässig streckt Tarmo mal den einen, mal den anderen Zeigefinger nach den Kugeln aus, die in immer kürzerem Abstand aufblitzen. Immer schneller sticht er in die Luft, bis ich mit meinen Blicken kaum mehr nachkomme. Selbst von dem schrägen Piepen der Anlage lässt er sich nicht stören. Widerstrebend muss ich zugeben, dass mich das beeindruckt. Das hätte ich dem plumpen Muskelprotz nicht zugetraut. Die Anzeige stoppt bei hundert Treffern, ohne dass er nur einmal danebengegriffen hat.

Olya applaudiert begeistert. Tarmo wirft ihr einen amüsierten Blick zu und winkt Taiga herbei, das spitznasige Mädchen mit der Bobfrisur aus meinem Schlafsaal, das Olya ständig wie ein Schatten begleitet. „Jetzt ihr. Jeder hat drei Versuche. Der beste zählt.“

 

Taiga gibt sich einen Ruck und stellt sich vor das Spinnennetz. Anfangs erwischt sie die Leuchtkugeln noch ganz gut. Piepsen, blinken, piepsen, blinken. Gerade als Taiga glaubt, alles im Griff zu haben, wird der Rhythmus schneller. Ihre Bewegungen werden hektisch, sie erwischt die falsche Kugel. In dem Moment knistert eine elektrische Entladung. Ein Stromschlag trifft Taiga, und sie kreischt auf. Ihr Nomen registriert die Gefahr und projiziert eine gelbe Alarmleuchte in den Raum. Befriedigt schaut Tarmo in unsere fassungslosen Gesichter.

Kohen beobachtet uns, wobei er die Arme vor der Brust verschränkt.

„Keller!“ Tarmos Ton lässt mich zusammenzucken, als hätte er mir schon jetzt einen Stromschlag verpasst. Ich kriege den Beginn der Übung nur halb mit, lausche auf die Tonfolgen und muss tatenlos zuschauen, wie ein Holoball nach dem anderen wieder erlischt, bevor sich meine Finger zu einer Bewegung entschlossen haben.

„Null Punkte. Absoluter Rekord. Der Nächste!“

Mein Magen verkrampft sich. Wie durch einen Schleier schaue ich zu, wie sich die anderen durch den Test kämpfen und den Schmerz bei Fehlgriffen zähneknirschend ertragen, ohne aufzugeben. Keiner stellt sich so blöd an wie ich.

Das kannst du auch, sage ich mir vor. Die Töne kommen immer zuerst, du musst nur hinhören. Ich hole tief Luft und warte auf mein nächstes Startsignal.

Eins, zwei, drei, vierfünf, sechssiebenacht … Horchen, schauen, tippen. Geht doch, denke ich ermutigt.

Ah, verdammt! Der Stromschlag wirft mich fast um.

„Fünfzehn Treffer für Keller“, meint Tarmo und wirft einen scharfen Blick auf Felix, der mir den Siegerdaumen zeigt.

Der Schmerz verebbt schneller als gedacht. Jetzt bin ich hellwach. Konzentriert verfolge ich die Blinkmuster bei den anderen. Morry bewegt sich fahrig, anscheinend bringt ihn das durchdringende Piepsen komplett aus dem Konzept. Nach dem Stromschlag schleicht er wie ein geprügelter Hund auf seinen Platz zurück.

Ich schnaufe gereizt. Das ist alles so unnötig, so würdelos! Stirnrunzelnd sehe ich zu Kohen hinüber. Der weicht meinem Blick aus.

„Kann man wenigstens den Ton mal ausschalten?“, fragt Felix. „Das Gefiepe tötet mir noch den letzten Nerv.“

„Das würde dir so passen“, entgegnet Tarmo knurrend. „Der Ton gehört dazu.“

Der Ton gehört dazu. Dreimal wiederhole ich den Satz im Stillen, ohne dass sich eine einzige Feuerameise rührt. Das stimmt also wirklich. Piepsen und Blinken gehören zusammen. Steckt da vielleicht ein System dahinter? Hat Tarmo eine feste Abfolge einprogrammiert, damit er locker abräumen und den großen Macker spielen kann, während wir hier verzweifeln? Zutrauen würde ich es ihm.

„Ist das wirklich ein Zufallsmodus?“, frage ich halblaut in Kohens Richtung. „Komplett unvorhersehbar?“

Tarmo hat es gehört und wirft Kohen einen drohenden Blick zu. Der steht immer noch mit verschränkten Armen und versteinerter Miene da. „Jawohl, ein Zufallsmodus“, antwortet er tonlos.

Ich horche auf. Seine flache Stimme lässt meine Ohrläppchen kribbeln. Aaa-ha! Wenn es ein System gibt, kann ich es knacken.

Konzentriert höre ich auf die Geräusche und beobachte die Abläufe aus Argusaugen. Die schrille Melodie frisst sich in mein Ohr. Sie wiederholt sich – und mit ihr die Positionen der Leuchtkugeln! Immer nach zwölf, nein, nach elf Tönen ändert sich das Blinkmuster. Wie genau ändert es sich? Die Holgramme tanzen vor meinen Augen.

Ich hab’s! Das Muster wird nach elf Tönen gespiegelt, erst horizontal, dann vertikal. Mit verbissener Anspannung verfolge ich die Übungen der anderen und zucke vor Mitgefühl, wenn sie unnötige Stromschläge einstecken, weil sie sich nur auf ihre Augen verlassen.

Als ich wieder dran bin, muss ich erst meine schweißnassen Hände am Overall abwischen, bevor ich mich in Position stelle. Ich lausche, spreche im Kopf die Abfolge mit, weiß, wie es weitergeht, und tippe mit schlafwandlerischer Sicherheit auf die Hologramme. Es läuft, es läuft, ich erwische alle Leuchtbälle und blinzle perplex, als sich die Anlage abschaltet.

„Hundert Treffer, volle Punktzahl.“ Tarmo schaut zweimal auf seine Anzeige, erst erstaunt, dann angewidert, als wäre das ein schlechter Scherz. Während sein Blick von der Zahl zu mir wandert, verfinstert sich seine Miene immer mehr.

„Raus hier, alle“, befiehlt er knurrend. Schnell drehen wir uns zum Ausgang.

„Du nicht, Keller!“ Seine Anweisung trifft mich wie ein neuer Stromschlag.

Breitbeinig stellt sich Tarmo vor mir auf. „Was soll das? Von null auf hundert? Du willst mich wohl verarschen?“ An seiner glatt rasierten Schläfe pulsiert eine dunkelblaue Ader. Bevor ich zu einer Erklärung ansetzen kann, geht er auf Kohen los und sticht ihm mit seinem Zeigefinger fast in die Augen. „Das warst du! Du! Du hast ihr den einprogrammierten Code verraten! Steckst du mit ihr unter einer Decke?“

Kohen hebt beschwichtigend die Hände. „Lass uns in Ruhe darüber reden – unter vier Augen“, bittet er und bedeutet mir zu verschwinden. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.

Wenn Tarmo mir die Punkte streicht, falle ich auf den letzten Rang. Dann bin ich vom ersten Tag an als Loser abgestempelt. Der Gedanke verfolgt mich bis zum Abendessen. Über die Felix-Witze am Büffet kann ich nicht lachen, sie kommen mir vor wie sinnloses Geplapper. Ich achte nicht darauf, was ich mir auf den Teller lade, setze mich neben ihn und schiebe das Essen appetitlos hin und her. Mila scheint es genauso wenig zu schmecken, denn sie verabschiedet sich schon nach der Suppe. Als ich es auch nicht mehr aushalte, entschuldige ich mich bei Felix und verlasse den Speiseraum in Richtung Schlafsaal. Ich brauche dringend frische Luft.

Draußen auf dem Balkon ist es düster, dichte Regenwolken verdecken den Blick ins Tal. Aus dem grauen Dunst greifen die Äste großer Bäume wie riesige Finger nach mir.

Mila kauert auf dem Steinboden. Die Helligkeit, die aus unserem Schlafraum dringt, hat eine Schar grüner Geckos angelockt, die durch die Lichtflecken huschen. Geduldig wartet Mila mit kleinen Obststücken in der Hand. Die flinken Tiere beobachten sie aus glänzenden, orange umrandeten Knopfaugen. Meine Schritte allerdings schrecken die Geckos auf, und sie suchen Schutz in der Dunkelheit.

Mila schaut hoch. „Wie geht‘s dir?“

„Nicht so toll. Wenn mir Tarmo die Punkte vom Reaktionstest abzieht, gehe ich mit einer glatten Null aus den ersten zwei Übungen. Das hat vor mir noch keine geschafft.“

„Das wäre echt unfair“, entgegnet Mila. „Andererseits haben wir hier noch drei Monate. Was zählen da schon die ersten Übungen?“

„Eine ganze Menge! Der erste Eindruck bleibt hängen. Wenn ich von Anfang an als Loser dastehe, habe ich einen verdammt schweren Stand.“

„Hmm, da ist was dran.“ Während Mila überlegt, wagt sich der erste Gecko zu ihren Fingerspitzen vor, stibitzt schnell einen Obsthappen und flitzt davon. „Du könntest Kohen bitten, dass er sich für dich einsetzt“, meint sie.

Ich sehe Kohens Gesicht vor mir. Mila liegt wohl richtig -wenn ich von irgendwem Hilfe erwarten kann, dann von ihm. Seine warme Stimme hat mich durch die Operation geführt. Sogar beim Schießtraining hat er mir unter die Arme gegriffen. „Andererseits …“ Mila seufzt. „So wie ich Tarmo kenne, würde der Schuss nach hinten losgehen. Von Kohen lässt er sich aus Prinzip nichts sagen, ist mein Eindruck. Die beiden können sich wohl nicht ausstehen.“

„Das Gefühl habe ich auch.“

„Du musst also mit Tarmo selber sprechen.“

„Ich weiß nicht …“ Das Grinsen des glatzköpfigen Chamäleonkillers taucht vor meinem inneren Auge auf, aber Milas Zuversicht gibt mir Mut. „Du hast recht“, stimme ich ihr zu. „Ich rede mit ihm.“