Emma Roth und die fremde Hand

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Emma atmete tief durch und winkte den Ober für eine weitere Runde heran. Nachdem wieder volle Tassen und Gläser vor ihnen standen, begann sie zu erzählen: „Ich hatte gerade die Matura hinter mir und angefangen, Medizin zu studieren. Meine Eltern waren furchtbar stolz auf mich. Deshalb luden sie mich und meine kleine Schwester Viola auf eine Frankreichreise ein. Viola war erst sieben Jahre alt, ein Nachzügler und das verwöhnte Nesthäkchen der Familie.“

Emmas Augen begannen bei der Erinnerung zu glänzen. Viola war ein lustiges, hübsches Mädchen gewesen. Bei dem Bild ihrer Schwester zog sich ihr Magen zusammen. Sie stieß saure Flüssigkeit auf und fürchtete, erneut umzukippen. Aber sie riss sich zusammen und fuhr fort: „Zwei Tage vor der Heimreise besuchten wir den berühmten Fischmarkt in Marseille. Es war ein Samstag im Hochsommer und es war die Hölle los. Ich quetschte mich mit Viola an der Hand durch die Menschenmenge, während meine Eltern ein Stück hinter uns spazierten. In diesem Gedrängel spürte ich plötzlich einen Ruck an meiner Hand, stark genug, dass ich mich zu Viola drehte. Sie war weg! An meiner Hand hielt ich ein kleines dunkelhäutiges Mädchen, das mich frech angrinste und dann weglief.“

Emma blickte versteinert ihre Hand an. Es war ihr, als könnte sie immer noch den Händedruck ihrer Schwester spüren. Ein Schluchzen stieg die Kehle hoch und trug all die verdrängten Gefühle mit sich. Sie nahm eine Bewegung wahr, sah, dass Malin sich näherte, und wich ihrem Arm aus, der sich tröstend um sie legen wollte.

„Ist sie jemals wieder aufgetaucht?“, fragte Malin vorsichtig, während sie wieder zurückwich, weil sie wusste, dass ihre Chefin selbst in emotionalen Momenten stets die hierarchischen Grenzen aufrechterhielt.

Emma schüttelte resigniert den Kopf. „Nein, bis heute haben wir kein Lebenszeichen von ihr erhalten. Das ist jetzt 24 Jahre her. Ich war damals 18 Jahre alt. Viola war gerade mal sieben.

Sie wäre im Herbst in die Schule gekommen. Genau wie … “ Emma schloss die Augen.

„ … genau wie Marie“, beendete Malin den Satz. „Wir haben sofort die Gendarmerie geholt, aber Viola blieb verschwunden, genauso wie das fremde Mädchen. Später erfuhren wir, dass sie nur ein Fall in einer langen Kette von ähnlichen Entführungen war, die damals aus der Region gemeldet wurden. Meine Eltern reisten jedes Jahr aufs Neue in die Stadt – erfolglos. Irgendwann hat meine Mutter aufgegeben. Sie ist Ende der Neunzigerjahre an Krebs gestorben. Mein Vater sitzt seit Jahren mit Demenz in einem Pflegeheim. Die Geschichte hat unsere Familie zerstört. Und ich – ich habe mein Medizinstudium geschmissen und bin zur Polizei gegangen. Das erschien mir als das einzig Richtige!“

Sie verfielen wieder in Schweigen und jede hing ihren eigenen, verwirrenden Gedanken nach. War es möglich, dass die Fälle zusammenhingen? Warum hatte der Täter sich dann zwanzig Jahre Zeit gelassen, um wieder zuzuschlagen?

Nach einer Weile richtete Malin sich auf. „Wir müssen zurück, sonst werden zu viele Fragen gestellt. Bist du so weit?“ Emma nickte. Es würde gehen.

Malin trank den letzten Schluck Espresso, winkte den Kellner für die Rechnung herbei und wandte sich wieder an Emma: „Und jetzt? Willst du den Fall abgeben? Wird das zu persönlich?“

Emma schüttelte entschieden den Kopf und erwiderte: „Sicherlich nicht! Jetzt habe ich vielleicht die Chance, auf die ich über zwanzig Jahre lang gewartet habe.“

****

Emma und Malin hatten sich darauf geeinigt, in ihrer Abteilung erst mal nichts von der persönlichen Verbindung zu erzählen, die Majorin Roth zu diesem Fall hatte. Höchstens Musch mussten sie einweihen, da er es früher oder später bei seinen Onlinerecherchen sowieso herausfinden würde. Da Rotten und Emma sich zu der Zeit, als Viola entführt worden war, bereits gekannt hatten, war es aber ohnehin nicht auszuschließen, dass auch er bald die richtigen Schlüsse ziehen würde. Nachdem sie in ihr Büro zurückgekehrt waren, rief Emma sofort alle Mitarbeiter zusammen und verteilte die Aufgaben, die für den nächsten Tag anstanden.

Rotten bedachte sie mit einem spöttischen Blick, als er in den Konferenzraum geschritten kam. „Weichei“, wollte er ihr damit sagen, „du bist hier völlig fehl am Platz! Erträgst nicht einmal die Arbeitsbelastung, die jeder andere hier locker stemmt! Von wegen Menstruation!“

Aber Emma wies ihn mit erhobenem Finger sogleich in seine Schranken: „Spar dir dein dämliches Grinsen, Rotten! Sogar horizontal und ohnmächtig auf dem Fußboden liegend schaffe ich noch eine bessere Aufklärungsrate als du!“

Worauf Rotten noch dümmlicher grinste und sofort den Ball zurückschmetterte: „Mit dem Horizontalen kennst du dich ja gut aus, Roth!“

Musch zuckte kurz mit den Mundwinkeln, aber Malin rettete die Situation, indem sie die Neuzugänge, die zwei Streifenpolizisten und den Praktikanten, auf ihre Plätze wies und die Besprechung für eröffnet erklärte.

Emma stellte sich an den Kopf des Tisches und fasste die Fakten zusammen. Da bereits die Presse informiert war und die Entführung genau 48 Stunden zurücklag, mussten sie Gas geben. „Rotten, du gehst mit den zwei netten Kollegen von der Streife zum Brunnenmarkt und grast die Gegend dort ab. Befragt jeden Markthändler. Klappert die Häuser rund um den Tatort ab, vielleicht hat ja gerade jemand zum Fenster herausgeschaut, als die Entführung passierte. Versucht Touristen zu finden, die am letzten Samstag den Markt besichtigt haben. Der Brunnenmarkt ist schließlich eine Attraktion und am Wochenende gut besucht. Von denen bekommen wir am ehesten frische Tatortfotos. Ruft also in den Hotels und Hostels an und lasst die Gäste befragen. Irgendjemand muss etwas gesehen haben.“

Karl Rotten konnte seine Wut nicht verbergen. Seine Augen verengten sich, als sie Emma taxierten. Ärgerlich zischte er ihr zu: „Für solche Laufarbeiten haben wir die Nieten von der Streife hier. Warum soll ich da meine Zeit verschwenden?“

Doch Emma warf ihm nur ein fröhliches „Viel Erfolg“ an den Kopf und wandte sich dann Computer-Ass Musch zu: „Du hockst dich an deine Tastatur und klimperst mir eine Sinfonie aus Fakten zusammen: Such online nach analogen Fällen in der letzten Zeit in Österreich, aber auch europaweit. Geh in die Vergangenheit zurück. In den Achtzigerjahren gab es eine ähnliche Entführungswelle in Südfrankreich. Stell mir dazu alles Relevante zusammen. Außerdem brauche ich Profile der Familienmitglieder des entführten Mädchens. Der Praktikant kann dir dabei helfen.“ Dabei nickte sie dem schüchternen jungen Mann zu, der neben Musch saß und nervös auf seinem Bleistift herumkaute. „Ich befrage solange die Eltern des Kindes. Malin ist unser Knotenpunkt, wo alle Informationen zusammenlaufen. Alles klar?“ Emma blickte in die Runde. „Morgen treffen wir uns um 17 Uhr wieder hier. Viel Erfolg!“ Sie drehte sich zur Tür.

Rotten stand auf und stützte beide Hände auf den Tisch: „Und was ist mit dem Handkiller? Tomschak will auch hier Ergebnisse. Keine Anweisungen zu diesem Fall, Frau Chefin?“

Roth war schon fast zur Tür hinaus, drehte aber nochmals um und sagte scharf: „Tomschak kann nicht Unmögliches von uns erwarten. Wir haben nur begrenzte Kapazitäten. Wir halten die Augen offen und bleiben dran. Aber ein verschwundenes Kind hat erst mal Priorität.“

Damit schlug sie die Tür hinter sich zu und ließ einen kochenden Rotten zurück.

SEIT 60 STUNDEN VERMISST

Als Emma an diesem Abend die Wohnungstür aufsperrte, fühlte sie sich, als ob eine schwere Last auf ihr ruhe. Es war spät geworden und sie hatte als Letzte das Büro verlassen. Ihr Zuhause war leer. Der Banker war natürlich gegangen, nicht ohne vorher die Küche aufzuräumen und eine Botschaft mit seiner Handynummer und der Bitte um einen Anruf zu hinterlassen. Unterschrieben hatte er mit Stephan. Stephan, dachte Emma, der hat sich nicht nach einem Stephan angefühlt. Das war ein Gerald, höchstens ein Herbert, aber nie im Leben ein Stephan! Entschlossen zerknüllte sie den kleinen Zettel und kickte ihn zielsicher in den Mistkübel. Dann ließ sie heißes Wasser in die Badewanne laufen, schüttete etwas Lavendelessenz hinein und entkorkte eine Flasche Amarone. Sie fühlte sich völlig leer. Ausgebrannt. Nach dem Bad würde sie direkt ins Bett fallen, hoffentlich vom schweren Rotwein ausreichend schläfrig. Sie schlüpfte aus ihrer Jeans und dem Batikhemd. Das Badezimmer war eingerahmt von großen Spiegeln, die ihr nacktes Bild dutzendfach durch den Raum warfen. Sie ließ die Augen an ihrem Körper entlanggleiten. Die Jahre hatten eindeutig an ihr genagt. Obwohl sie immer noch eine gute Figur und eine schlanke Taille hatte, gruben sich an den Schenkel kleine Löcher ins Fleisch. Ihr Bauch war zwar fest und flach, doch die Brustwarzen senkten sich bereits in Richtung Bauchnabel. Sie öffnete ihren Pferdeschwanz, sodass die roten Locken über die schmalen Schultern fielen und sich über den kleinen Brüsten kräuselten.

Wie Viola jetzt wohl aussehen würde?

Die beiden Schwestern waren immer grundverschieden gewesen. Die eine blond mit lachenden blauen Augen, einem Stupsnäschen und Grübchen, die andere rothaarig, mit stechenden grünen Augen, einer markanten Nase und hohen Wangenknochen. Viola hatte einem Engel geglichen, sie mehr einer attraktiven Hexe.

Emma seufzte und tauchte vorsichtig einen Zeh in das Badewasser. Dann strich sie sich eine Locke aus dem Gesicht und stieg in die Wanne. Doch die gewünschte Entspannung stellte sich nicht ein. Kaum lag sie im heißen Wasser, stieg ihr der Lavendelduft in die Nase und eine unaufhaltsame Gedankenkette spann sich fort. Lavendel – die farbenprächtigen Felder, an denen sie im Lubéron vorbeigefahren waren. Viola hatte damals kleine Sträußchen gebunden, die sie ihren Freundinnen im Kindergarten mitbringen wollte. Sie waren so glücklich gewesen. So glücklich. Und dann kam der schreckliche Tag in Marseille. Es war heiß auf dem Fischmarkt. Genauso wie es gestern am Brunnenmarkt heiß gewesen war. Sie hatte ihr neues kurzes Blumenkleid an. Das erste Mal in ihrem Leben fühlte sie sich richtig erwachsen. Jeden Abend saß sie mit den Eltern an irgendeinem Strand oder in einem tollen Restaurant und genoss ihr Leben einfach nur. Auch die Blicke der südländischen Männer, die das junge Mädchen mit den feuerroten Locken und dem kantigen Gesicht auf sich zog! Damals lebte sie nach dem Prinzip „Nach mir die Sintflut“. Und plötzlich schwappte die Sintflut über ihrer Familie und sie waren hilflos darin verloren.

 

Emma tauchte unter. Das Badewasser schlug über ihrem Kopf zusammen. Sie bewegte die Finger und spürte das Kind an ihrer Hand, das dort nicht hingehörte. Hörte ihre eigenen Schreie, als sie erkannte, dass die Schwester nicht mehr da war, und sah die erschrockenen Gesichter ihrer Eltern vor sich, als diese den Ernst der Lage erkannt hatten – diese Fratzen der reinen Angst.

In den Jahren danach hatten sie sich an eine vage Hoffnung geklammert: Vielleicht lebt sie noch, vielleicht wird sie sich eines Tages melden, vielleicht, vielleicht, vielleicht. Und dann, mit den Jahren ohne eine Nachricht, das Sterben der Hoffnung, die Resignation im leeren Blick ihrer Mutter. Und mit dem Eingestehen der Niederlage, dem Bewusstsein, dass der Kampf verloren war und ihr kleines Mädchen nie mehr wiederkommen würde, hatte das Sterben eingesetzt. Erst das körperliche der Mutter und dann das geistige des Vaters. Und sie selbst? Sie hatte ihr ganzes Leben umgeworfen und infrage gestellt, bis sie zur Polizei gegangen war. Sie war totunglücklich gewesen. Wenn sie ehrlich war, musste sie sich eingestehen, dass sie wegen Violas Schicksal niemals eigene Kinder bekommen hatte. Und jetzt war es zu spät dafür.

Entfernt hörte sie das Telefon leise verschwommen klingeln – nicht jetzt! Jetzt gab es nichts außer dem Rauschen um sie herum. Viola – Viola! Die letzten Jahre hatte sie immer weniger an ihre Schwester gedacht. Es gab Tage, an denen der Name ihre Gedanken nicht einmal mehr strich. Und jetzt war er wieder da – mit voller Wucht. Viola – Marie!

Mit einem lauten Prusten stob Emma aus dem Wasser empor und rieb sich die brennenden Augen. Sie wusste, was sie jetzt zu tun hatte. Sie nahm einen tiefen Schluck Amarone und stieg dann aus der Wanne. In ihren flauschigen Bademantel eingehüllt ging sie an ein Bücherregal und zog einen unscheinbaren Karton heraus. Er war verstaubt und seit Jahren nicht mehr geöffnet worden. Emma setzte sie sich an den Küchentisch, zündete eine Gitanes an und starrte eine Ewigkeit auf die Kiste. In ihr hatte sie alles über ihre kleine Schwester gesammelt: Zeitungsausschnitte, Zeugenaussagen, den Ausschnitt der Stadtkarte mit dem Fischmarkt, Fotos, die sie damals gemacht hatte – eine kleine Schatztruhe mit Erinnerungen.

Schmerzhaften Erinnerungen.

Entschlossen zog sie an ihrer Zigarette, dann öffnete sie sie und holte einen Schwung Notizzettel heraus – die Zeugenaussagen, die unmittelbar nach der Entführung aufgenommen worden waren. Ein Fischhändler meinte, einen Mann beobachtet zu haben, der vor der Entführung mit einem dunkelhäutigen Kind, ähnlich dem vom Fischmarkt, gesprochen hatte, eine Barfrau behauptete steif und fest, Viola kurz danach gesehen zu haben. Eine holländische Familie hatte eine verdächtige Gruppe Halbwüchsiger auf Mopeds erspäht – alles Spuren, die ins Leere liefen. Emma durchsuchte weiter den Karton. Sie fand eine Fotoreihe, Aufnahmen vom Fischmarkt, entnommen verschiedenen Touristenkameras nach der Entführung. Doch auch hier: keine Hinweise. Schließlich stieß sie auf Briefe, die andere Betroffene damals ihrer Mutter geschrieben hatten: eine französische Mutter, deren Kind in einem Kino entführt worden war. Eine belgische Familie, deren Sohn beim Stadtspaziergang durch Aix-en-Provence abhandengekommen war. Dokumente unbeschreiblicher Verzweiflung. Auf einem karierten Blatt hatte Emma damals eine Zeitleiste der Entführungen skizziert. Zwei Dutzend solcher Fälle hatte es in den Achtzigerjahren in Südfrankreich gegeben. Doch dann schien die Entführungsreihe plötzlich vorbei zu sein. Warum? Ein kranker Serienmörder, der es auf Kinder abgesehen hatte und auf einmal starb? Ein Krimineller, der die letzten zwanzig Jahre wegen irgendetwas anderem in Haft gesessen war und jetzt, wieder auf freiem Fuß, munter weiter Kinder verschleppte? Fragen über Fragen! Auf die sie heute keine Antwort mehr finden würde. Sie nahm die angebrochene Flasche und die Gitanes mit in ihr Schlafzimmer und trank sich in einen unruhigen Schlaf.

SEIT 72 STUNDEN VERMISST

Am nächsten Morgen wachte Emma mit einem schmerzenden Kopf und schweren Gliedern auf. Verschlafen ließ sie ihre Hand unter dem dünnen Laken hervorgleiten, das in diesen heißen Tagen als Bettdecke diente, und fuhr mit den Fingerspitzen über den Fußboden neben ihrem Bett. Wo hatte sie gestern die Zigaretten liegen gelassen? Stöhnend setzte sie sich auf und ließ ihren Blick durch das schummrige Zimmer gleiten. Die dichten blauen Vorhänge schirmten das Licht des noch jungen Tages völlig ab. Es roch nach kaltem Rauch und Alkoholdunst schwebte in der Luft, von dem ihr übel wurde. Sie rieb sich die verklebten Augen und gähnte ausgiebig. Egal, wie abgeschlagen sie sich fühlte, heute hatte sie ein strammes Tagesprogramm vor sich. Eine Reihe von Befragungen stand an. Beim Gedanken an die sich sorgende, verängstigte Mutter von Marie wurde ihr noch schlechter.

Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und schlurfte ins Bad. Sie kletterte in die Duschkabine und stellte die Temperatur auf kalt. Als das eisige Wasser ihr verquollenes Gesicht wie Tausende kleine Nadelstiche traf, schrie sie kurz auf. Sie brauste ihren ganzen Körper ab und wickelte sich zitternd in den Bademantel. Nachdem sie zwei Tassen starken Kaffee und eine blanke Scheibe Toastbrot zu sich genommen hatte, fühlte sie sich einigermaßen in der Lage, sich in die Arbeit zu stürzen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es höchste Zeit war. Für halb elf hatte Malin einen Termin bei Carla Wolf gemacht. Zu Hause, in deren Villa auf der Hohen Warte. Diese schicke Gegend war Emma so fremd, als ob sie nicht zu ihrer Heimatstadt gehöre. In Anbetracht der reichen Politikerin, die sie heute treffen sollte, legte sie das Batikhemd allerdings wieder in den Wäschekorb zurück und entschied sich für eine blaue Cordbluse, die nur einen kleinen Kaffeefleck hatte, und Jeans ohne aufgewetzte Stellen und Löcher. Ein leichtes Make-up zauberte eine gesunde Frische ins Gesicht, die es dringend nötig hatte. Nachdem sie ihr blaues Notizbuch, mehrere Bleistifte, ihr iPad und zwei volle Packungen Gitanes in die übergroße Wildlederhandtasche gestopft hatte, machte sie sich auf den Weg.

Sie parkte direkt vor der riesigen Jugendstilvilla der Wolfs und blieb noch einen Augenblick sitzen, um sich alle Informationen, die sie zu Maries Mutter gesammelt hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Carla Wolf war eine Wiener Lokalgröße. Allein ihr Elternhaus, das der reichen Unternehmerfamilie Wolf, hatte sie von klein an regelmäßig auf die Klatschseiten der Boulevardblätter gebracht. Bei jedem Event der High Society stand sie in der ersten Reihe, sie tanzte am Opernball, saß in Talkshows und lächelte auf Wohltätigkeitsveranstaltungen in die Kameras. Als rechtsgesinnte Lokalpolitikerin hatte sich die 34-Jährige jedoch nicht nur Freunde gemacht. Besonders ihre brennenden Reden gegen Abtreibung und die Homosexuellenehe hatten die promovierte Juristin einige Anhänger gekostet. Trotzdem hielten genug Wiener die toughe Karrierefrau und Mutter für geeignet, die Hauptstadt zu repräsentieren, und demnächst würde sie daher wohl bereits zum zweiten Mal in den Stadtsenat berufen werden. Nach einer neunjährigen Ehe mit einem nicht standesgemäßen Gymnasiallehrer war sie seit zwei Jahren geschieden und lebte in einer neuen Beziehung mit dem Unternehmer Curd Hofer.

Als Emma den sauber angelegten, mit kleinen, pedantisch zugeschnittenen Buchsbäumen gesäumten Kiespfad zur Eingangstür der Villa entlangging, fragte sie sich unwillkürlich, wer solch einen Luxus eigentlich zum Leben benötigte. Das Haus war von einem ausladenden, parkähnlich angelegten Garten umgeben. Völlig geschmacklose Steinstatuen bewachten die spießig bepflanzten Beete. Nichts an dieser Anlage wirkte gemütlich. Oder gar kinderfreundlich. Sie konnte keine Schaukel entdecken, keinen Sandkasten. Nicht einmal ein Roller oder etwas Spielzeug lagen herum. Auf ihr Klingeln öffnete eine Haushälterin in einer steifen, weißen Schürze, die sie wortlos in einen Salon führte, wo die Hausherrin nachdenklich an einem der Flügelfenster stand, durch die helles Licht in den großen Raum strömte.

Carla Wolf war eine attraktive Frau. Kein Gramm Fett zu viel ließ sich unter dem perfekt sitzenden Kostüm ausmachen. Trotz des Ausnahmezustandes, in dem sie sich befinden musste, hatte sie ein zurückhaltendes Make-up aufgelegt. Nur die Leere und Trauer in ihren blauen Augen verrieten den Kampf, den sie gerade auszutragen hatte. Emma ging auf sie zu, während sie vorsichtig Fuß vor Fuß setzte. Die weißen Bodenkacheln wirkten so glatt wie eine Eisbahn. Sie streckte Carla Wolf die Hand hin. Ihre kleine, manikürte Hand war kühl und trocken, der Händedruck für eine so zarte Frau erstaunlich fest und selbstbewusst. Ohne ihre Augen von der Polizistin abzuwenden, herrschte sie die Haushälterin an, sofort Kaffee und Gebäck zu servieren. Dann zeigte sie auf eine kleine Sitzecke am Fenster, wo sie sich niederließen.

Emma räusperte sich. „Frau Wolf, ich weiß, wie schwer diese Situation für Sie sein muss. Trotzdem muss ich Ihnen jetzt einige Fragen stellen, und ich bitte Sie, sich zu konzentrieren. Jedes noch so kleine Detail kann unseren Ermittlungen weiterhelfen.“

Ihr Gegenüber griff nach einer schmalen Holzschachtel, aus der sie ein Zigarillo zog, den sie sich ansteckte. Kurz darauf erfüllte ein würziger Duft den Raum.

„Ich habe den Beamten am Samstag bereits alles gesagt, was ich weiß“, erwiderte sie kurz angebunden. „Ich wollte Marie zu ihrem Vater bringen. Er hatte den Treffpunkt auf diesem grässlichen Markt vorgeschlagen. Ich hatte am Nachmittag einen wichtigen Termin im Rathaus. Natürlich bestand Peter – also mein Exmann Peter Lehmann – darauf, dass ich Marie zu ihm bringe. Es war unglaublich heiß und der Markt war übervoll, sicher nicht der geeignete Ort für ein kleines Kind. Aber Peter hat schon immer diktiert, was wir zu tun haben. Na ja, auf jeden Fall habe ich auf einmal einen Ruck an meiner Hand verspürt und dann war Marie weg und irgend so ein dreckiges Kind – ein Zigeuner – stand an ihrer Stelle neben mir.“ Carla Wolf zog nervös an ihrem Zigarillo.

„Sinti oder Roma“, verbesserte Emma sie, während sie daran dachte, dass sich Gunilla, die bekanntermaßen der gleichen Partei wie Wolf angehörte, ebenfalls derart politisch unkorrekt ausgedrückt hatte.

Die Hausherrin warf ihr einen bösen Blick zu. Anscheinend war sie es nicht gewöhnt, dass jemand widersprach. Emma hakte, ohne den visuellen Giftpfeil zu beachten, nach: „Und ist Ihnen nichts Seltsames aufgefallen? Hat Marie sich an diesem Tag irgendwie anders verhalten als sonst?“

„Marie ist ein sechsjähriges Mädchen“, erwiderte Carla Wolf gereizt. „Sie verhält sich ständig anders, durchlebt wöchentlich eine neue Phase. Sie haben wohl keine Kinder?“

Emma überging diese Spitze und fuhr routiniert mit ihrer Befragung fort: „Und auf dem Brunnenmarkt? Haben Sie dort im Vorfeld irgendetwas beobachtet? Vielleicht einen Bekannten gesehen?“

„Nein, aber das habe ich doch schon mehrmals den anderen Beamten gesagt“, presste Wolf zwischen ihren rot bemalten Lippen hervor. Dann stutzte sie: „Als wir uns durch die Menschenmenge zwängten, hat Marie zweimal auf irgendetwas hingewiesen. Aber ich war so in Eile.“ Die Politikerin dachte kurz nach. Ihre Augen wurden feucht und sie wiederholte mit zitternder Stimme leise die Worte ihrer Tochter: „Aber Mama, schau doch nur, da vorne.“

Für einen kurzen Moment zerbrach die Fassade in tausend Stücke, ein Schluchzen stieg ihre Kehle empor und sie schlug die Hände vors Gesicht. Doch dieser Moment der Schwäche war schnell vorbei. Carla Wolf war darauf konditioniert, immer zu funktionieren, also zückte sie ein Spitzentaschentuch, wischte damit über die Augen und straffte ihren Rücken.

„Hören Sie“, wandte sie sich an Emma, „ich weiß ohnehin, wer hinter der Entführung steckt. Mein Exmann. Er ist krank – seelisch. Schon in unserer Ehe hat er täglich Unmengen an Beruhigungsmitteln und Psychopharmaka in sich hineingeschüttet. Und gesoffen hat er wie ein Loch. Nach der Scheidung wurde es dann immer schlimmer. Seit meine Anwälte ihn informiert haben, dass ich das alleinige Sorgerecht beantragt habe, scheint er jeden Bezug zur Realität verloren zu haben.“

 

Emma zog ihr Notizbuch aus der Tasche und machte einen Vermerk. Diesen Lehmann musste sie heute genauer unter die Lupe nehmen.

„Meinen Sie, er würde so weit gehen, sein eigenes Kind zu entführen?“

Wolf nickte eifrig, sodass eine steife Haarsträhne sich verschob und die Symmetrie ihrer Frisur zerschnitt. „Peter ist kriminell. Er hätte letzten Sommer fast seinen Job verloren, weil er auf der Abschlussfahrt mit einigen Oberstufenschülern einen Joint geraucht hat. Natürlich wurden sie von einer anderen Lehrkraft erwischt und er hat eine dicke Abmahnung bekommen. So einer ist das, der Jugendliche zu Drogen verführt!“ Wolf verzog angeekelt ihr Gesicht.

Emma aber musste innerlich lächeln. Solch einen Lehrer hätte sie sich früher gewünscht.

„Abgesehen von Ihrem Exgatten – wer könnte noch infrage kommen? Ihr Beruf bringt sicher auch Feinde mit sich, oder?“ „Natürlich gibt es eine Reihe politischer Widersacher, die mir meinen Erfolg nicht gönnen. Als Person des öffentlichen Lebens ist man immer den Anfeindungen einiger Dummer ausgesetzt. Aber dass einer von denen so weit gehen würde, mein Kind zu entführen? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.“

Eine Verbindungstür auf der gegenüberliegenden Seite des Salons öffnete sich und ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann kam herein. Er ging zielstrebig auf die Sitzecke zu und streckte Emma die Hand hin.

„Curd Hofer, ich bin der Lebensgefährte von Frau Wolf. Sie sind sicher die kompetente Polizistin, von der uns unser Freund Heiko erzählt hat.“ Er lächelte.

Obwohl Emma bezweifelte, dass Tomschak auch nur ein gutes Wort über sie verloren hatte, nickte sie zustimmend und stellte sich ebenfalls vor: „Emma Roth. Ich befrage Ihre Partnerin gerade zu den Vorfällen am vergangenen Samstag, als die kleine Marie verschwand. Können Sie sich an irgendwelche außergewöhnlichen Vorkommnisse in den Wochen vor Maries Verschwinden erinnern?“

Hofer schien angestrengt zu überlegen. „Nein, eigentlich nicht. Marie ist so ein lebensfrohes, lustiges Kind. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand ihr schaden möchte.“

„Hat sie sich ungewohnt verhalten? Oder haben ihre Erzieherinnen irgendeine Verhaltensveränderung erwähnt? Entführer nehmen oft schon lange vor der eigentlichen Tat Kontakt zu ihren Opfern auf, ohne dass das nächste Umfeld es bemerkt.“

Emma erinnerte sich, dass sie in den Unterlagen gelesen hatte, dass Marie den Blumenhof, eine private Montessori-Einrichtung, besuchte.

Hofer schüttelte abermals den Kopf.

„Wo waren Sie denn, als das Ganze passierte?“, fragte Emma und bemerkte, wie Hofer seine Körperhaltung veränderte. Das war typisch: Sobald Menschen befürchteten, verdächtigt zu werden, benahmen sie sich anders, selbst wenn sie unschuldig waren. Sie sendeten nervöse Zeichen aus – ein flatterndes Auge, eine zitternde Hand oder ein sich versteifender Rücken. Emma kannte diese körperlichen Reaktionen nur zu gut.

Hofer fasste sich aber schnell: „Ich war verreist. Am Freitagabend bin ich mit dem Nachtflieger in die USA zu Vertragsverhandlungen geflogen. Mein Sekretär, David Rosen, kann das bestätigen.“ Er zog einen schicken, mattsilbernen Montblanc-Kugelschreiber hervor und schrieb eine Handynummer auf die Rückseite seiner Visitenkarte. „Rufen Sie ihn an, er wird alle Fragen beantworten.“

Emma steckte die Karte ein und stand auf. Für heute hatte sie genug erfahren. Es ging bereits auf Mittag zu und um 14 Uhr hatte sie den nächsten Termin mit dem Exmann von Carla Wolf. Sie verabschiedete sich und war schon fast an der Tür, als Hofers Stimme sie zurückhielt.

„Warten Sie! Da war doch etwas. Fast hätte ich es vergessen, weil es keine weiteren Konsequenzen gab. Vor zwei Wochen ist Maries kleine Reisetasche, die immer im Kindergarten steht, plötzlich verschwunden. Darin befanden sich verschiedene Wechselkleidungsstücke, Hausschuhe, ihre Kuscheldecke sowie der Schmusehase. Anfangs nahmen wir an, die Tasche habe versehentlich ein anderes Kind mitgenommen. Aber nachdem sie letzte Woche immer noch nicht aufgetaucht ist, haben wir uns schon sehr gewundert. Meinten Sie so etwas, als Sie von außergewöhnlichen Vorkommnissen sprachen?“

„Vielleicht.“ Emma hatte bereits ihr Handy in der Hand. „Wo wurde die Tasche im Kindergarten aufbewahrt?“

„Sie hing an Maries Garderobenplatz.“

Emma winkte den beiden zu, dann verließ sie schnell das Haus. Kaum saß sie hinterm Steuer, rief sie Malin an: „Schick die Spurensicherung in den Kindergarten Blumenhof im ersten Bezirk. Die sollen an Maries Garderobenplatz alle Fingerabdrücke nehmen, die sie finden können.“

Malin schwieg am anderen Ende der Leitung für einen Moment. Dann meine sie: „Emma, du weißt schon, wie viele Personen da ihre Abdrücke hinterlassen haben könnten? Bei Jule in der Krippe hat jeder Zugang zu den Plätzen, die Kinder spielen dort … “

„Ich weiß“, unterbrach Emma sie ungeduldig, „und wenn es umsonst ist, nehme ich es auf meine Kappe. Aber momentan ist es die einzige wirkliche Spur, die wir haben. Also leg los! Ich bin gleich da!“

****

In der Zwischenzeit stand Karl Rotten vor einem Stehimbiss am Anfang des Brunnenmarktes und war schlecht gelaunt. Er hatte den zwei Streifenpolizisten schnell deutlich gemacht, wer hier das Sagen hatte, und sie mit dem Auftrag losgeschickt, alle Markthändler im näheren Umkreis zu befragen. Daraufhin war er dem Ruf seines knurrenden Magens gefolgt und hatte am Imbiss ein Croissant und einen Kaffee bestellt. Und dort wurde ihm das Ausmaß von Emma Roths Fehlverhalten erst richtig bewusst. Was bildete sich dieser rote Teufel eigentlich ein, ihn wie ihren Lakaien herumzuschicken und zu schikanieren? Immerhin war er Abteilungsinspektor der Wiener Polizei und ein enger Vertrauter von Tomschak. Warum der dieses Weibsbild noch nicht aufs Land versetzt hatte, war ihm ein großes Rätsel. Gut – sie hatte im letzten Jahr den Zwillingsfall alleine gelöst, aber das war mehr mit Glück als mit ihrem Verstand zu erklären. Sie zeichnete sich weniger durch Disziplin und Ehrgeiz aus als vielmehr durch Unstetigkeit und Schlampigkeit. Für ihn zählten dagegen klare Werte: Loyalität, Fleiß und Geradlinigkeit. Und Roth trat diese mit den Füßen: Sie blamierte ihn vor dem gesamten Team, verschlief regelmäßig, spazierte erst mittags ins Büro und war bei ihren Ermittlungen schon öfter vom rechten Weg abgekommen. Ihre Methoden ließen deutlich zu wünschen übrig. Sollte ein Polizist nicht ein Vorbild für die Gesellschaft sein? Diese kaputten Fernsehcops, die er aus den amerikanischen Vorabendserien kannte, die er oft mit seiner Freundin Birgit anschaute, entsprachen doch nicht der Realität. Er hatte seine Karriere straight aufgebaut, ohne größere Patzer oder Fehler, und trotzdem hatte sie ihn irgendwie auf der Karriereleiter überholt. Aber er hatte noch sein Ass im Ärmel: Tomschak. Mit seiner Hilfe würde er aufsteigen.

Rotten lächelte in sich hinein. Er setzte seine Kaffeetasse an die Lippen, nippte daran und prustete die braune Flüssigkeit wieder aus: Der Kaffee war eiskalt! Wie lange war er in seine Gedanken versunken gewesen? Oder war der Kaffee von Anfang an kalt gewesen? Gerade wollte er seine Wut an der dicklichen Angestellten auslassen, da klingelte sein Handy. Einer der beiden Streifenpolizisten war am Telefon. Sie hatten alle relevanten Stände im nahen Umkreis des Tatortes abgeklappert: Nichts Neues, keinem sei etwas aufgefallen. Was er denn inzwischen erreicht hätte? Rotten blickte auf seinen kalten Kaffee und das angebissene Hörnchen und schob alles von sich. Wenn er ehrlich war, hatte er nichts getan. Er überlegte kurz, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte, entschied sich dann aber zum Angriff und schnauzte den Polizisten an, dass es nicht seine Aufgabe sei, die Arbeit seines Vorgesetzten zu überprüfen. Dabei betonte er das Wort „Vorgesetzter“ mit Nachdruck.

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