Schärenmorde

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16

Malin Skogh war müde, rastlos und leicht irritiert. Sie wanderte in der Wohnung herum und konnte sich nicht richtig damit abfinden, dass sie zuhause saß mit einer Tasse Tee und Joyce Carol Oates, mit ihren Gedanken aber ganz woanders war. Sie machte ihren Laptop an, öffnete Facebook und las, was einige ihrer alten Schulkameraden über Mittsommer gemacht hatten, was sie zu Mittag gegessen hatten, wessen Kind sich den Magen verdorben und sich im neuen Auto übergeben hatte.

Malin seufzte. Sie klickte »Mitteilungen« an und sah, dass sie eine Einladung von der Kunsthalle erhalten hatte. Es ging um eine Sonderführung durch die Ausstellung des Gräddö-Künstlers Sander Karlsson, eines alten Bekannten von ihr. Da ihr im Moment jede Art von ablenkung entgegen kam, beschloss sie spontan, an der Führung teilzunehmen.

Sie duschte. Dann schlüpfte sie in das schwarze Kleid mit ein wenig zu viel Rückenausschnitt, putzte sich die Zähne und trank ein eiskaltes Starobrno, während sie am Computer saß. Sie rief Fatima an und sprach ihre Pläne auf den Anrufbeantworter. Sie rief Erik und Elin an, die gerade bei einer Thai-Mahlzeit saßen und fernsahen. Sie musste alleine gehen.

Sie zog ihre Jeansjacke über das kleine Schwarze und rundete das Ganze mit einem dünnen Halstuch aus indischer Seide ab. Eine richtige Frau kommt selbst zurecht, hatte ihre Großmutter immer gesagt und ihr Moa-Martinson-Bücher und fünfhundert Kronen zu Weihnachten geschenkt.

Einen Kuss für dich, Großmutter, dachte Malin, und war froh, dass sich die Großmutter keine Gedanken wegen Robert machen musste. Dass sie sich überhaupt keine Gedanken mehr machen musste.

Malin ging in den Juniabend hinaus und dachte an Elias und seinen Computerfund, und dass es vielleicht ganz gut sei, sich noch einmal mit diesem kleinen Jungen zu unterhalten, der sich ein wenig in seiner eigenen Welt umzusehen schien. Und dann dachte sie an Ronald Schneider und dass sie mit ihm diesen Karteikram vom Karateclub kontrollieren müsse.

Malin ging mit leichten Schritten die Hantverkaregatan entlang und überquerte den Lilla Torget in Richtung Norrtäljes Kunsthalle.

Solche Art von Abenden pflegten die besten zu sein, unvorbereitet und allein, dachte sie, als sie einen bekannten Rücken in Richtung Kunsthalle abbiegen sah.

Sie erwarteten ihn. Auf alte Bauernweise ruderte er stehend, mit dem Gesicht zum Bug hin. Er parierte die Wellen, die von den Sportbooten kamen, welche den Havspiren als Ziel hatten. Es war erstaunlich ruhig bei der Einfahrt. Die Silos wurden größer und der Schatten des Schornsteins der S/S Norrtelje zeichnete sich gegen die noch hoch stehende Sonne ab.

Er fühlte sich ein wenig unwohl. Aber das war nichts Ungewöhnliches, wenn solche Veranstaltungen anstanden. Der Chef der Kunsthalle hatte schon seit dem letzten Frühjahr darauf gedrängt, dass er etwas tun solle. Das widerstrebte ihm. Er war am liebsten zuhause auf seinem Hof.

Beim Holz. Drehte seine Runden um die Werkstatt. Las. Wusch ab. Kümmerte sich um die Kinder, wenn Wilma Tagesdienst im Krankenhaus hatte.

»Des Holzes eingeborene Authentizität« untersuchen, wie der Rezensent geschrieben hatte. Genau, dachte Sander Karlsson und duckte sich unter der Norrtäljebrücke. Das Holz hatte seine Form. Dagegen konnte man nichts machen. Am allerwenigsten er selbst. Er folgte ihm. Oder besser, er nahm dessen ausgestreckte Hand und wurde weiter in den Gegenstand geführt, um »dessen einzigartige Historizität« zu entdecken, wie der Rezensent weiter ausgeführt hatte.

Sander Karlsson setzte sich und machte noch ein paar kräftige Ruderschläge, ehe er am Kai unterhalb der Kunsthalle anlegte. Er dachte an seinen Vater, der sich nie für Sanders Segeltouren interessiert hatte, außer dass er hören wollte, wie er angelegt hatte. »Seid ihr auf Grund gelaufen?«, hatte er gefragt, und das gefurchte, freundliche Gesicht sah neugierig aus.

»Ja, zweimal«, pflegte er zu sagen. Auch wenn es nicht stimmte. Aber dem Vater gelang es immer, die Wahrheit aus ihm herauszulocken.

Sander machte das Boot fest und ging die 35 Treppenstufen bis zur Kunsthalle hinauf.

»Jetzt kommt er.«

Ein vereinzelter Palästinenserschal war zwischen den Jacken und Röcken der gedämpft murmelnden Versammlung sichtbar.

Sie hatten auf ihn gewartet. Der Chef der Kunsthalle hatte schon eine kleine Einleitung in Sander Karlssons Kunst gegeben und empfing ihn nun mit offenen Armen. Sander war nass nach seiner Rudertour und wirkte sichtlich gerührt über den spontanen Applaus, der ihn empfing. Er bekam ein Glas Wein und wurde durch die Besuchermenge geführt. Einige kannte er flüchtig. Andere waren alte Bekannte. Das hier war ungefähr das Schlimmste, was er sich vorstellen konnte.

Sich unter die Leute mischen. Reden. Das endete meist damit, dass er gewissermaßen durch die Leute sank und wie zu einer Struktur in der Wand wurde, bis er verschwinden und nach Haus fahren konnte. Er hatte inzwischen ein Dutzend Leute begrüßt, genauso viele Gespräche begonnen und abrupt beendet, als sich dieser fast außerirdische Tunnelblick wieder bei ihm bemerkbar machte.

Jetzt war er auf dem Weg in die Wand, als er plötzlich eine Hand auf seinem Arm fühlte.

»Hallo, Sander! Was für eine schöne Ausstellung.«

Malin Skogh stand lächelnd vor ihm. Das weiße Lächeln war durch die Beleuchtung der Kunsthalle leicht gefärbt, aber sie sah sowohl froh als auch erleichtert aus. Trotz allem, was passiert war.

»Hallo, Malin … es tut mir leid …«

»Ja, danke. Im Augenblick ist alles etwas durcheinander.«

Erst jetzt bemerkte Sander den Mann an ihrer Seite.

»Angenehm«, sagte Schneider und hob eine Augenbraue. »Deine Kunst erinnert mich an einen Künstler, dessen Namen ich im Moment vergessen habe. Aber genau wie ihm ist es dir gelungen, die eigentliche Seele der Natur in deinen Werken beizubehalten«, sagte Schneider und trank einen Schluck Wein.

»Danke«, erwiderte Sander und wurde rot.

»Als ich dich mit dem Ruderboot kommen sah, habe ich geglaubt, du würdest es mit reinbringen, um eine Art Vorstellung zu geben«, sagte Schneider und zog die Augenbraue noch ein wenig weiter nach oben.

Sander kam nicht umhin, sich über den Akzent des Mannes zu wundern. Amerikaner vielleicht. Er klang jedoch wie jemand, der wusste, wovon er redete.

»Sander arbeitet ganz und gar nicht auf solche Art und Weise.«

Der Chef der Kunsthalle Wachtenfelt mischte sich in die Unterhaltung und musterte den dunkel gekleideten Mann.

Schicke Jacke, dachte Fredrik von Wachtenfelt und stellte sich vor.

»Ronald Schneider«, antwortete der andere und fasste Malin leichter unter den Arm.

»Und das ist Fräulein Malin Skogh.«

Wachtenfelt brach in ein großes Gelächter aus, das auf Schneider und Malin ansteckend wirkte.

»Ja, sie hat mir die letzten acht Jahre die Haare geschnitten«, sagte Wachtenfelt, »schneidet sie sie Ihnen auch?«

Wachtenfelt wartete die Antwort nicht ab, sondern fasste Sander am Ellbogen und führte ihn an dem groß gewachsenen Kulturchef vorbei, der neben Sanders großer Skulptur »Der Stier« Hof hielt.

Malin sah zu Schneider auf und lächelte.

»Ronald, alle Achtung. Verstehst du so viel von Kunst?«

»Ach was. Aber Torsten Rehnqvist ist doch einer von euern Großen«, sagte Schneider und wandte sich Malin zu. »Und du? Monet oder Kandinsky? Rembrandt oder Malevitsch?«

»Nein. Ich bin mehr für Fotografie. Sarah Moon, Sally Mann.«

Schneider nickte. Sally Mann war ihm etwas zu realistisch, aber er sagte nichts, sondern holte Malin noch ein weiteres Glas Rotwein.

»Du erwähntest etwas über Probleme mit einem Register?«

Jetzt war Malin an der Reihe, rot zu werden. In einem schwachen

Augenblick hatte sie versprochen, eine gute Lösung für das Mitgliederregister des Karateclubs zu finden. Obwohl sie sich eigentlich nicht allzu sehr für Computerlösungen oder die Einrichtung von Registern interessierte, war sie es leid, dass immer irgendein Mann auftauchte und sich erbot, das etwas angeschlagene Programm in Ordnung zu bringen, das danach ein halbes Jahr hielt, um dann auszufallen und noch mehr durcheinanderzubringen, als vorher.

»Wie gut kennst du dich mit Registern aus?«, fragte sie Schneider.

»Register? Ich bin ein Register«, sagte Ronald Schneider und zog ein Zigarettenetui aus seiner Jackentasche.

»Smoke?«, fragte er und lächelte breit.

Malin sah ihn an und lachte.

»Warum nicht? Es ist wohl nie zu spät, um wieder anzufangen«, sagte sie und zog eine Zigarette aus dem kleinen silbernen Etui mit einem kleinen vergoldeten Raubvogel.

Adler, dachte Malin, ehe sie Schneider hinaus in den Juniabend folgte.

17

Als Olle Kärv nach dem Mittagessen wieder zurück in die Redaktion der Norrtelje Tidning kam, hatte er eine recht detailreiche, aber ziemlich überladene Geschichte im Kopf. Er begriff, dass er nun zusammenfassen musste, was er über diese kriminellen Machenschaften, die sich in Norrtälje abspielten, wusste. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und begann, seine Aufzeichnungen durchzulesen, als der Nachrichtenredakteur zu ihm kam und sagte, dass er auf den Bericht über den Immobilienmakler warte, der wegen Steuerhinterziehung angeklagt war.

Olle antwortete, dass er ihn in einer Stunde fertig haben würde. Er schrieb schnell, und obwohl er nicht richtig zufrieden mit dem Artikel war, lieferte er ihn trotzdem ab und sagte, dass er jetzt an der anderen Sache arbeiten wolle.

»Wo du nicht richtig weißt, um was es sich eigentlich handelt?«

 

»Genau.«

Olle hatte schon über den toten Mann im Hafen geschrieben, über Robert Skogh und über mysteriöse Schiffe, und er hatte seinem Chef gesagt, dass noch mehr kommen würde. Jetzt begriff er, dass er so langsam Resultate vorweisen musste.

Er legte eine Liste über Fakten und Überlegungen an, er schrieb mit der Hand, strich durch, hatte zum Schluss eine Übersicht über plausible Vermutungen. Dann rief er Fatima an. Ob sie sich treffen könnten?

Sie hatte wenig Zeit, wenn er allerdings am folgenden Morgen um sieben mit ihr eine Runde joggen wollte, könnte er das gerne tun.

Er wusste, dass er nicht über ihre Energie und Ausdauer verfügte, sagte aber trotzdem zu. Es war halb drei. Schweden hatte begonnen, in die Ferien zu fahren, und Büros und Behörden machten früh Schluss. Viele waren schon weg. Aber er gab nicht auf, hatte Glück, erreichte Alvar Vantanen, der die M/S Melchior in den Hafen von Norrtälje gelotst hatte.

Ja, Vantanen hatte auch gedacht, dass mit dem Schiff etwas seltsam sei, und dann war der Kapitän übereilt aufgebrochen, so als ob er etwas zu verbergen hatte.

Darauf rief Olle das Zollamt in Stockholm an. Er kannte dort seit langem Inspektor Ingvar Lund. Der war allerdings im Urlaub. Olle wusste, dass er ein Sommerhaus auf Arholma hatte, und rief dort an.

Es wurde ein langes Gespräch. Lund wollte nicht genannt werden, aber er erzählte, dass Interpol vor neuen Schmuggelrouten von Russland in den Nahen Osten gewarnt hatte, und diesmal waren es andere Waren als üblich.

Via Schweden?

Nicht unmöglich.

Vielleicht sogar via Roslagen?

Vielleicht. Und in diesem Fall war das wohl eine Folge all der geschlossenen Küstenstationen und der Stellenkürzungen beim Zoll in Schweden, nicht zuletzt in Roslagen.

Olle bedankte sich, und Ingvar Lund wünschte ihm Erfolg. Olle merkte, dass der alte Zollbeamte nicht damit einverstanden war, was sich vor seinen Augen abspielte.

»Schreib etwas Gutes«, sagte er.

»Ich schicke dir ein Exemplar«, antwortete Olle.

Um zehn vor sechs klingelte der Wecker. Olle stellte sich unter die Dusche, drehte vorsichtig das warme Wasser zuerst auf lauwarm, dann auf eiskalt.

Die Norrtelje Tidning lag neben Dagens Nyheter an der Tür. Er trank Kaffee und las seinen eigenen Artikel über die Steuerhinterziehung. Na ja, nicht unbedingt das Beste, was er bislang geschrieben hatte.

Als er die Wohnung verließ und auf die Kungsgatan trat, rief er Fatima an. Er sagte, dass er in fünfzehn Minuten vor ihrer Haustür auf der Bangårdsgatan stehen würde. Dann begann er langsam in Richtung Zentrum zu joggen.

Sie trug einen blauen Trainingsanzug. Die Hosenbeine waren aufgekrempelt, und er sah, dass sie an den Beinen und am Hals braungebrannt war. Vielleicht war es auch ihre natürliche Hautfarbe, das wusste er nicht. Das Haar hatte sie hochgesteckt.

»In Richtung Hafen?«, fragte sie.

»Das kannst du bestimmen«, antwortete er.

Sie liefen langsam, joggten an der S/S Norrtelje vorbei, liefen weiter in Richtung Silo bis zu der Stelle, an der der tote Lars Gustavsson im Wasser gefunden worden war. Sie liefen schweigend nebeneinander her und bogen dann auf kleinere Wege hinaus nach Grind und Långgarn ein.

»Eine kurze Pause?«, keuchte Olle.

Sie blieben stehen, gingen dann am Rand der sumpfigen Strandwiese entlang. Fatima atmete ruhig. Olle versuchte, sein Keuchen zu unterdrücken, was ihm aber nicht gelang.

»Der Zoll glaubt, dass von Russland aus Schmuggel via Schweden in die übrige Welt betrieben wird«, sagte er. »Glaubst du, dass das stimmen kann?«

»Meinst du, ob ich es persönlich glaube oder ob es die Polizei glaubt?«

»Was auch immer, such es dir aus.«

»Okay, ich selbst glaube, dass das stimmen kann.«

»Es hängt offenbar alles zusammen. Die Melchior, die Sertem Explorer und das, was Holtha gehört hat, und vielleicht auch der Mann, der tot im Hafen lag, und der Alte, der verschwunden ist.«

»Das ist eine Theorie.«

»Ja, aber ist es eine einleuchtende Theorie?«

»Ich beginne fast, es zu glauben.«

»In diesem Falle tut sich ja hier in Norrtälje einiges, oder?«

»Ja, in diesem Fall ist das wohl so.«

»Und du und Malin, ihr wurdet beschattet und seid mit ein paar krummen Typen aneinandergeraten, ausgerechnet auf der Eckerö-Fähre. Ich weiß, dass eine neue Art Schmuggelware auf diesem Wege kommt, jedenfalls glauben meine Quellen beim Zoll das.«

»Ja, Interpol nimmt es auch an.«

»Herrgott, Fatima, was passiert denn eigentlich?«

»Was soll ich sagen? Aber es ist doch nur eine Theorie, die du dir zusammenreimst. Ich weiß davon nichts.«

»Nein, du weißt ja wie immer überhaupt nichts, Fatima.«

Sie lachte, Olle ebenfalls. Sie blieben stehen, er berührte sie kurz an der Schulter. Sie lächelte, er versuchte zu lächeln. Dann drehte sie sich um und begann zu laufen, er lief hinterher.

Wonner fuhr an diesem Tag einen kleineren silbergrauen Mercedes. Er trug einen Leinenanzug, einen hellen Hut und eine Sonnenbrille, und hörte Mozarts 23. Klavierkonzert. Es war eines seiner Lieblingsstücke, besonders gefiel ihm der Übergang vom zweiten in den dritten Satz, von gedämpftem Moll zu einem auffordernden Lebensgefühl. Das machte ihm Hoffnung.

Er parkte vor dem Busbahnhof, um die Norrtelje Tidning zu kaufen. Die schwarze Überschrift auf der ersten Seite sprang ihm sofort ins Auge:

Ausländische Liga fasst Fuß in Roslagen

Er kaufte alle Tageszeitungen, setzte sich wieder ins Auto und begann mit dem Text, der auf der ersten Seite der Norrtelje Tidning stand. Der Text fasste Dinge zusammen, die eigentlich nur Wonner wissen konnte. Seine Mitarbeiter hatten immer nur begrenzten Einblick. Er selbst hatte den Überblick, und nur er, denn er leitete die Organisation vor Ort. Jetzt jedoch hatte sich sogar die Lokalzeitung auf irgendeine Weise einen Überblick verschafft.

Wonner schlug die zweite Seite auf und las den Artikel, den Olle Kärv geschrieben hatte. Wonner hatte schon gemerkt, dass dieser Mann zu viel wusste. Fast alles stand da: die Melchior, die Sertem Explorer, der Überfall auf einen Polizisten, die ungeschickte Attacke auf der Fähre. Und das Schlimmste war, dass der Reporter einige der Transportwege herausgefunden hatte.

Wonner blätterte schnell die übrigen Zeitungen durch. Die brachten jedoch nichts über seine Geschäfte. Offenbar hatten sie die Neuigkeiten noch nicht aufnehmen können. Aber das würde schon noch kommen.

Er fuhr vom Parkplatz und hörte auf dem Weg zurück in seine Wohnung wieder Mozart. Er überlegte und fasste einen Entschluss, der schon längere Zeit in ihm gereift war.

Als er nach Hause kam, verfasste er eine Mail. Er schrieb auf Englisch, erzählte ein wenig von der netten Stadt Norrtälje, vom Wetter, vom Straßenleben, den Parks und den Häusern. Es waren einfache Beobachtungen, die sich für den Uneingeweihten alltäglich und normal lasen. Für den Eingeweihten bedeutete Wonners Text jedoch etwas ganz anderes.

Er stellte die Probleme dar, die entstanden waren. Und er teilte mit, dass er die Mitarbeiter auf die übliche Weise von ihren Aufgaben trennen wolle. Er empfahl seinen Auftraggebern gleichzeitig, die Lieferungen einzustellen, und ab sofort andere Wege zu nutzen.

Zwei Stunden später bekam er Antwort. Der Absender bestätigte den Vorschlag, teilte jedoch mit, dass die letzte Lieferung schon unterwegs sei.

Wonner bestätigte es, indem er über das schöne Mittsommerwetter in Roslagen berichtete. Er benutzte einfache Wörter, die für denjenigen, der sich mit dem abgesprochenen Vokabular auskannte, eine Doppelbedeutung hatten.

Jetzt wartete er nur noch auf die letzte Lieferung und auf den Techniker, der kommen sollte, um die notwendigen Sicherheitsarbeiten auszuführen.

18

Fatima saß an einem Tisch auf der Terrasse des Restaurants Havspiren. Sie nippte an einem Bier, während sie ein Schwanenpaar beobachtete, das langsam quer über die Bucht flog. Sie sah aus wie eine normale Touristin. Entspannt. Leicht zurückgelehnt. Niemand konnte ahnen, was für ein Wirrwarr an Gedanken durch ihren Kopf raste. Gerade als sie ihre Schicht beenden wollte, hatte Harry Lindgren sie in sein Dienstzimmer gebeten. Er sagte kein einziges vernünftiges Wort, war jedoch trotzdem außerordentlich deutlich.

»Gleichgültig ob du arbeitest oder frei hast: du musst äußerst vorsichtig sein. Von jetzt an kannst du das als deine Hauptaufgabe betrachten.«

Fatima versuchte, etwas aus ihm herauszubekommen, erfuhr jedoch nur, dass bei Keith Holtha Komplikationen aufgetreten waren. Als er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war er immer noch sehr verwirrt gewesen, und man konnte kaum irgendeine Information von ihm erhalten. Jetzt hatte er eine Hirnblutung bekommen und lag auf der Intensivstation. Was am Anfang wie eine normale Gehirnerschütterung ausgesehen hatte, hatte sich zu einer schlimmen Angelegenheit entwickelt.

»Ich habe eben mit dem Krankenhaus gesprochen, und man glaubt dort, dass er wieder gesund wird. Aber wir wissen nicht, ob er zufällig überfallen worden ist oder ob das Ganze geplant war. Es war ja auf jeden Fall Holtha, der die Durchsuchung der Sertem Explorer vorgenommen hat, als das Feuerzeug mit den Initialen RS auftauchte. Und wenn du daran denkst, was dir auf der Fähre zugestoßen ist, kann es sein, dass jetzt du an der Reihe bist.«

»Weißt du etwas? Hast du inzwischen erfahren, mit wem wir es eigentlich zu tun haben?«, hatte Fatima gefragt, aber Harrys Telefon hatte geläutet, und er hatte sie mit den Worten »Sei vorsichtig. Nimm dich in Acht!« aus dem Zimmer gewinkt.

Sie konnte noch hören, dass er Englisch sprach, als er antwortete.

Fatima sah auf. Und lächelte. Olle Kärv setzte sich ihr gegenüber. Auch er lächelte.

»Hast du schon bestellt?«

»Nein, ich habe auf dich gewartet. Habe hier nur gesessen und nachgedacht.«

Sie lächelten einander weiter an und unterhielten sich ein wenig verlegen. Wenn das Gefühl zu stark wurde, sahen sie hinaus aufs Wasser, so als ob sie sagen wollten, es sei ihnen gleichgültig, die Wasseroberfläche sei interessanter und schöner als der Mensch, den sie vor sich hatten.

Dass es so schwer ist, den ersten Schritt zu machen, dachte Olle und ärgerte sich über seine Feigheit. Er betrachtete Fatima, die eine Pommes frites etwas zerstreut in ihre Sauce béarnaise tauchte. Sie blickte auf. Eine ganze Weile wagten sie, einander in die Augen zu sehen. Es war nicht nur die Abendsonne, die wärmte. Trotz Harrys Worten fühlte sich Fatima so sicher und froh, wie lange nicht mehr. Sie erzählte Olle von Harrys Warnung. Olle meinte, sie müsse sie ernst nehmen.

»Da ist noch etwas«, sagte er. »Ich habe einen Tipp bekommen, einen anonymen Tipp, den ich nicht nachgeprüft habe, und von dem ich auch nicht weiß, wie ich ihn nachprüfen könnte.«

»Was denn?«, wollte Fatima wissen.

»Sollen wir noch ein Bier trinken?«, fragte Olle.

Ehe Fatima antworten konnte, war er aufgestanden, um das Bier zu holen. Sie sah ihm nach, während sie zustimmend nickte. Sie mochte ihn, sie mochte das Gefühl, dass sie ihn gewissermaßen auf ihrer Seite hatte.

»Was für einen Tipp?«, fragte sie, als er zurückkam.

»Ein Mann hat angerufen. Er meinte, ich solle mich einmal auf Robert Skoghs Arbeitsstelle umsehen. Das Lager, in dem er arbeitet, untersuchen.«

»Ist das üblich, dass jemand anonym bei der Zeitung anruft und Tipps gibt?«

»Das kommt vor. Aber wenn sie zu undurchsichtig sind, haben wir selten die Möglichkeit, dem nachzugehen. Der Chef will erst einmal wissen, ob es sich lohnt, ob ein Artikel in der Zeitung dabei herauskommt. Meist machen wir nichts, wenn wir nicht mindestens einen Namen und etwas mehr Substanz bekommen. Was allerdings das mit der Leiche im Hafen betrifft, so habe ich die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, dass eine richtig große Geschichte dahintersteckt, und deshalb habe ich rund um die Uhr versucht herauszufinden, um was es sich handelt.«

Fatima betrachtete ihn eine Weile, ehe sie sich entschloss, die Frage zu stellen, obwohl sie es eigentlich nicht wollte.

»Und deshalb sitzen wir jetzt hier? Bin ich ein möglicher Zugang zu einem Scoop?«

Olle hatte ehrlich antworten wollen, dass es wohl so angefangen habe. Aber dass sich jetzt noch etwas anderes daraus entwickelt habe. Dass die Rangfolge vertauscht war. Dass Fatima an erster Stelle kam und dann erst der Artikel. Aber er war zu feige und antwortete nur mit einem spöttischen Lächeln:

 

»Das kann man nie wissen.«

Fatima ließ das Thema fallen.

»Und wie willst du jetzt weiter vorgehen? Was willst du mit dem Tipp machen?«

»Weiß ich noch nicht, aber du bist doch hier aufgewachsen und kennst alle Leute. Kennst du nicht jemanden, der im selben Lager wie Robert Skogh arbeitet, jemand, der mich vielleicht dort hineinlassen könnte?«

»Nein«, antwortete Fatima.

Die Antwort kam schnell. Schneller als sie vielleicht gekommen wäre, wenn sie nicht diesen Stich im Magen gefühlt hätte, die neu entstandene Unruhe, dass er vielleicht doch nicht auf ihrer Seite stand, sondern ein ganz eigenes Spiel spielte, dass sie vor einem gerissenen Journalisten saß, der sie nur als Mittel zum Zweck benutzte. Olle merkte die Veränderung in ihrem Tonfall, stellte auch fest, dass sie sich etwas aufrichtete, die Schultern etwas anspannte. Nein war ein kurzes Wort, aber es vermochte ihre Haltung zu ändern: nicht mehr einladend und freundlich, sondern abwartend und distanziert.

»Dein Chef hat dich nicht vor mir gewarnt«, sagte er leichthin, um die Situation zu retten.

»Wie soll ich das wissen, er hat nicht gesagt, vor wem«, antwortete Fatima und spürte, wie gut und entwaffnend es sich anfühlte, dass er gemerkt hatte, wie sie auf Abstand ging. Ja, er wollte es sogar mit einem Scherz überbrücken.

Olle lächelte und streckte die Hand über den Tisch. Fatima hatte das Gefühl, dass die Stimmung auf dem Weg war, wieder besser zu werden. Das Gefühl, mit Olle zusammen zu sein, war gut, sie konnte sich nicht irren, dachte sie, aber sie verriet den Gedanken trotzdem nicht, der gerade in ihrem Kopf auftauchte. Sie würde Harry vorschlagen, dass sie versuchen sollten, die Genehmigung zu einer Hausdurchsuchung auf Roberts Arbeitsstelle zu bekommen. Warum haben wir das nicht schon früher getan, dachte sie. Wir haben nur seine kleine Wohnung durchsucht, und dort haben wir nichts gefunden außer der blutverschmierten Jacke und einigen Fahrkarten von der Paldiskifähre.

Sie blieben noch eine Weile sitzen und genossen den Abend. Olle nahm seinen Mut zusammen und versuchte, Fatima näher zu kommen, aber es gelang ihm nicht so richtig. Stattdessen fragte er sie nach Norrtälje und ihren Erfahrungen in ihrer Heimatstadt und hörte aufrichtig interessiert zu, als sie davon erzählte. Dann erzählte er von seiner wenig spannenden Jugend in Hägersten, ein wenig über die Hochschule für Journalistik in Stockholm, und dass er eigentlich am liebsten eine Arbeit an einer Stockholmer Zeitung hätte. Und dann kam es wie von selbst:

»Aber das war, ehe ich dich kennen gelernt habe. Jetzt finde ich, dass sowohl die Norrtelje Tidning als auch Norrtälje ganz in Ordnung sind.«

Als sie das Restaurant verließen, war es trotz des hellen Sommerabends dunkler geworden. Sobald Mittsommer vorbei ist, schleicht sich die Dunkelheit wieder ein, dachte Fatima.

»Ich habe den Wagen mit«, sagte Olle und bog nach links auf den Parkplatz ein. »Ich fahre dich. Wir sollten daran denken, was dein Chef gesagt hat.«

Fatimas Blick war an zwei Rücken hängen geblieben, die in die andere Richtung unterwegs waren. Sie gingen auf dem Weg am Wasser entlang in Richtung Societetspark. Sie war sicher, dass der eine Malin gehörte. Malin erkenne ich immer, dachte sie. Wem der andere gehörte, wusste sie nicht. Einem Mann, mit breiten Schultern, dunkler Hose, hellem Hemd.

Hat Malin jemanden kennengelernt? Er legte gerade seinen Arm schützend um Malins Schulter.

Fatima fand, dass sie sich für ihre Freundin freuen sollte, aber als sie die beiden in dem dunklen Park verschwinden sah, überkam sie ein ungutes Gefühl. Kam ihr nicht doch etwas an dem Mann bekannt vor? Aus irgendeinem Grund fiel ihr das Wort »korrekt« ein.

»Weißt du, ich finde, es ist am allersichersten für dich, wenn du mit mir nach Hause kommst und dir meine Briefmarkensammlung anschaust«, sagte Olle.

»Hast du eine Briefmarkensammlung?«

»Natürlich habe ich keine, aber ich möchte, dass du mit zu mir nach Hause kommst.«

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