Schärenmorde

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

13

Im selben Augenblick, als Fatima und Malin im Dienstzimmer von Kriminalkommissar Harry Lindgren Platz nahmen, verließ Kriminalinspektor Keith Holtha die Polizeiwache in Täby. Fatima hatte noch keinen Bericht geschrieben, weder über das, was Malin und ihr auf der Eckerö-Fähre zugestoßen war, noch über ihre Untersuchungen auf dem Autodeck. Sie wusste nicht, ob sie es tun sollte, da sich ja alles an ihrem freien Tag zugetragen hatte.

Nachdem sie an Land gegangen waren, hatte sie sofort Harry angerufen, der trotz der späten Stunde im Dienst war.

»Kommt her und erzählt, damit ich verstehe, worüber du sprichst«, hatte er gesagt, als Fatima ziemlich zusammenhanglos zu berichten versuchte, was sie und Malin erlebt hatten.

Sie hatten sich in Fatimas kleinen Golf gesetzt, und waren direkt zur Polizeiwache in Norrtälje gefahren. Ehe sie Harrys Aufforderung nachkamen, alles von Anfang an zu erzählen, holten sie sich jede eine Tasse Kaffee aus dem Automaten.

Keith Holtha wurde von einem Kollegen bis zur Bushaltestelle in Roslags Näsby mitgenommen. Als er sieben Minuten gewartet hatte, kam die Linie 676 an. Der Bus war nur halbvoll, und er bekam einen Fensterplatz auf der linken Seite. Der Bus fuhr die E18 in Richtung Norrtälje.

Keith Holtha wohnte in Riala. Warum, wusste er nicht, es war ein Ort, der ihm eigentlich nicht gefiel. Er war jedoch dort aufgewachsen, seine Eltern lebten dort, und er war irgendwie dort hängen geblieben. Trotzdem ist es unpraktisch, dachte er, während er tiefer in seinen Sitz hineinrutschte, den Kopf gegen die Lehne legte und versuchte, ein wenig zu schlafen. Das war der Vorteil beim Busfahren: etwas Ruhe. Meist nahm er das Auto zur Arbeit, da war er unabhängiger, aber gelegentlich meinte er, er müsse, wie andere Leute auch, den Bus nehmen.

Er stieg in Ledinge aus und nahm den Fußweg bis hin zum Parkplatz, der eingeklemmt zwischen einer ehemaligen Kiesgrube und dem Rialavägen lag. Der Parkplatz war von der E18 aus kaum zu sehen und die Wagen, die dort abgestellt wurden, waren oft Opfer von Zerstörungswut. Deshalb hatte Keith Holtha sein Auto auch ganz hinten am Wildsperrzaun abgestellt. Er bildete sich ein, dass es dort sicherer stand. Vorsichtshalber untersuchte er das Fahrzeug, ehe er einstieg. Hatte jemand versucht, die Türen aufzubrechen oder Benzin abzuzapfen?

»Verdammt noch mal!«

Der Hinterreifen an der Fahrerseite war platt. Genervt holte er den Wagenheber und den Reservereifen aus dem Kofferraum, hob den Wagen an und tröstete sich damit, dass es wenigstens warm war, während er den Reifen wechselte. Er schraubte den beschädigten Reifen ab und dachte an Mittsommer und daran, dass er fast das ganze Wochenende arbeiten würde.

»Ich muss mir endlich ein Leben schaffen mit einer Frau und einer Familie, ich bin ja bald über das Alter hinaus«, murmelte er.

Als er den Reservereifen aufgezogen und den Wagen wieder abgesenkt hatte, streckte er eine Weile den Rücken, um anschließend den beschädigten Reifen und den Wagenheber wieder zurück in den Kofferraum zu legen. Er hatte gerade den Kofferraumdeckel geschlossen und sich hingehockt, um die Schrauben nachzuziehen, als ein Wagen auf den Parkplatz einbog. Nicht nur einer, es kamen drei Autos, die sich nebeneinander hinstellten, mit der Vorderseite zur Straße. Keith Holtha reckte sich ein wenig und konnte durch die Scheiben seines Wagens erkennen, dass es sich um einen weißen Transporter und zwei kleinere Kombis handelte. Er bildete sich ein, dass es vielleicht irgendeine Bande sei, die auf die Parkplätze zu fahren pflegte, um dort abgestellte Wagen zu demolieren. Er entschloss sich, vom Hinterrad seines Wagens verborgen, die Ankömmlinge zu beobachten. Aufgrund des Straßenlärms, der besonders von den Lastwagen herrührte, die auf der Schnellstraße direkt über seinem Kopf vorbeidonnerten, konnte er nur Teile ihrer Unterhaltung verstehen, aber er merkte trotzdem recht schnell, dass es sich um etwas völlig anderes handeln musste, als um das Klauen von Autoreifen oder Benzin.

»Beeilt euch, die Hälfte der Kisten in jedes Auto … ihr nehmt ganz unterschiedliche Routen … miserabel, klar … an Malmö vorbei vor dem Wochenende … unnötiges Warten in Deutschland … die Kiste passt nicht unter den Boden … verdammt, sie muss passen … zu schlecht gepackt … alles muss versteckt sein.«

Keith Holtha kam die Durchsuchung in den Sinn, die er an Bord der M/S Sertem Explorer letzte Woche vorgenommen hatte. Sie hatten nicht gewusst, nach was sie suchen sollten, und sie hatten auch nichts von Wert gefunden. Aber der Gedanke, dass es einen Zusammenhang gab mit dem, was sich gerade circa 20 Meter von ihm entfernt abspielte, tauchte plötzlich auf. Sollte er eingreifen? Sich aufrichten und »Still gestanden! Polizei!« schreien wie in einem amerikanischen Film? Ihm fiel ein, dass er seine Dienstwaffe in seinem Spind auf der Arbeit eingeschlossen hatte. Er kroch etwas weiter an der Seite seines Wagens entlang und konnte noch die Satzfetzen »wir ziehen ab« und »pinkeln« hören, als einer der Männer um seinen Wagen herumkam, die Finger am Reißverschluss. Keith Holtha sah gerade noch, dass der Mann breitschultrig war, kurzgeschnittene Haare hatte, und dass er die Hände von seinem Hosenschlitz in die Jackentasche steckte, eine Pistole herausholte und zielte.

Ihre Blicke, die für einige Sekunden so voller Gedanken waren, dass sie versteinert wirkten, trafen sich. Dann bemerkte Keith, wie der andere an seiner Schulter vorbeiblickte.

Der erste Schlag traf Keith am Hinterkopf, ehe er noch richtig begriffen hatte, dass sich jemand hinter ihm befand.

Direkt danach, als für Keith alles schwarz geworden war, hielt ein blauer Bus an der Haltestelle oberhalb des Parkplatzes. Eine Frau in einem hellen Sommermantel stieg aus. Sie war Krankenschwester und arbeitete in der Notaufnahme des Danderyd-Krankenhauses. Sie nahm immer den Bus zur Arbeit und wieder zurück. Während sie den Gehweg hinunterging, verließen die drei Wagen den Parkplatz. Einer davon bog auf die Schnellstraße ein, während die anderen beiden in verschiedene Richtungen auf dem Rialavägen davonfuhren.

Als die Frau in dem hellen Sommermantel den Schlüssel in ihr Wagenschloss steckte, hörte sie einen Klagelaut vom hinteren Teil des Parkplatzes. Sie dachte, es handele sich um eine kleine Katze und ging hin, um nachzusehen. Während sie noch dachte, hier innerhalb des Wildsperrzaunes kann sie nicht bleiben, hier wird sie überfahren, erblickte sie Keith Holthas zusammengesunkene Gestalt.

Die Frau hatte zwölf Jahre in der Notaufnahme gearbeitet. Sie reagierte genauso geistesgegenwärtig, wie sie es getan hätte, wenn der Klagelaut von einer verirrten kleinen Katze gekommen wäre.

Fatima und Malin waren gerade bis zur Hälfte ihres Berichtes gelangt, als der Wachhabende in Harry Lindgrens Büro kam.

»Ein Rettungswagen ist unterwegs zum Parkplatz Ledinge. Dort liegt ein Mann. Nach Auskunft desjenigen, der den Notruf getätigt hat, ist er übel zugerichtet. Ich habe auch einen Wagen hingeschickt.«

»Tot oder lebendig?«, fragte Harry Lindgren.

»Weiß ich nicht.«

Olle Kärv konnte nicht schlafen. Er lag auf dem Rücken und dachte darüber nach, dass es so schwer sein würde, es zu schaffen. Jetzt war er schon drei Jahre Kriminalreporter bei der Zeitung und hatte hauptsächlich über Anzeigen wegen Schlägereien vor Kneipen und gegen Männer, die ihre Frauen verprügelten, wenn sie sich samstagabends hatten volllaufen lassen, geschrieben. Er ging mindestens einmal in der Woche aufs Gericht und las die Urteile genau durch. Und er versuchte, alle Gerichtsverhandlungen zu besuchen, die vielleicht etwas ergeben könnten. Doch bislang hatte er noch nichts geschrieben, das ihm den sehnlichst erhofften Freifahrtschein für die Redaktion des Aftonbladets hätte einbringen können. Dort wollte er hin. Großstadtleben. Puls. Ganz Schweden, ja die ganze Welt als Arbeitsfeld. Da konnte er sicher sein, über Verbrechen von ganz anderen Dimensionen schreiben zu dürfen. Das war es, was er wollte. Dabei sein dürfen, herumschnüffeln, ein wenig eigene Untersuchungen vornehmen, vielleicht sogar ab und an der Polizei um eine Nasenlänge voraus sein, nicht immer nur den lächerlichen Mist bearbeiten, den sie von ihren Untersuchungen herausgaben.

Er konnte nicht schlafen, weil er sich einbildete, es sei etwas im Gange. Die Polizei führte Kontrollen durch. Aber warum? Sollte er einen Knüller landen können? Er durfte nur nichts verpassen. Er durfte nicht etwas direkt vor der Nase haben und es nicht merken. Wo sollte er anfangen?

Kurz nachdem er gedacht hatte, dass er am nächsten Tag Fatima Barsawi anrufen und sie fragen würde, ob sie nicht zusammen Pizza essen gehen könnten, schlief er ein.

14

Einige Tage vor dem Mittsommerfest bildete sich ein Hochdruckgebiet über den Britischen Inseln aus. Es verstärkte sich weiter auf seinem Weg über Dänemark und gelangte schon am Mittwoch mit Temperaturen über 30 Grad nach Schonen. Am Tag vor dem Mittsommerabend erreichte das Hochdruckgebiet sogar Uppland, an der Messstation in Svanberga wurden gegen Mittag ganze 31,2 Grad gemessen.

Kriminalkommissar Harry Lindgren fand das absolut grässlich.

Er saß in seinem Büro im Polizeigebäude, blätterte in den Tageszeitungen und verfluchte sich selbst dafür, dass er immer und immer wieder alles, was mit Feiern zu tun hatte, bis auf den allerletzten Moment aufschob. Weihnachten war es genauso. Harry Lindgren kaufte die Weihnachtsgeschenke am 23. Dezember und hatte Mühe alles zu schaffen, ehe die Geschäfte zumachten. Und jetzt müsste er sich, genauso wie letztes Weihnachten, mit tausend anderen auf dem Flygfyren drängen, um Essen für das Mittsommerfest einzukaufen. Sein Hemd würde durchgeschwitzt sein, bis er an der Reihe war, sein Geld in der staatlichen Verkaufsstelle für Alkoholika abzugeben. Wenn er mit allem fertig war, würde er vermutlich an einem Herzinfarkt sterben oder an Erschöpfung.

 

Dann erspare ich mir auf jeden Fall den Weihnachtseinkauf, dachte Harry.

Er schlug die Seite zwei der Norrtelje Tidning auf und konnte feststellen, dass die Zeitung von der Sache auf dem Parkplatz in Ledinge erfahren hatte. Die Information, die die Zeitung veröffentlichte, war jedoch genauso knapp wie die Information, die die Polizei selbst über den Vorfall erhalten hatte. »Polizist an der E18 niedergeschlagen – Täter spurlos verschwunden«. Das war eigentlich alles, was die Polizei wusste. Auf jeden Fall im Augenblick. Keith Holtha hatte dem Anschein nach ohne Grund von unbekannten Tätern einen Schlag auf den Kopf erhalten und war dann ohnmächtig geworden.

Die Autodiebe waren auch schon mal netter, dachte Harry.

Keith Holtha hatte zwar eine kräftige Beule am Hinterkopf, war aber mit einer kleineren Gehirnerschütterung davongekommen. Er lag noch im Norrtäljer Krankenhaus, würde jedoch vor dem Mittsommerwochenende entlassen werden. Keith selbst war keine große Hilfe gewesen. Er hatte fürchterliche Kopfschmerzen und eigentlich nur gesagt: »Es wurde mir einfach schwarz vor Augen«, als er gefragt wurde, was passiert sei.

Harry schüttelte den Kopf.

Zeit, ein wenig zu arbeiten, dachte er.

Harry stand von seinem Stuhl auf und holte die Mappe mit seinen Unterlagen. Er nahm ein paar Papiere aus der Mappe, sowie einen USB-Stick, den er in den Computer steckte. Er durchsuchte den Stick entsprechend dem Datum, bis er die Aufzeichnung von dem Verhör mit Robert Skogh vom Montag in der Österåker-Anstalt fand.

Während er das Programm startete, streckte er sich ein wenig. Er hörte seine eigene Stimme, die außerordentlich steif aufzählte, wer bei diesem Verhör anwesend war und aus welchem Grund. Er hörte die Stimme von Robert Skogh. Er hörte auch die Stimme von Robert Skoghs Anwalt. Ein Anwalt, dessen Namen er schon wieder vergessen hatte, obwohl er ihn sich selbst ein paar Sekunden zuvor hatte sagen hören.

Ich muss klar denken, dachte Harry. Der Mittsommerstress war plötzlich wieder da. Der Verkehr auf dem Stockholmsvägen und das Gedränge in den Schlangen.

Ich kann vielleicht Fatima bitten, in die Alkoholverkaufsstelle zu gehen, dachte er, während er den Blick hob und aus dem Fenster sah. Sie hat sicherlich nichts anderes vor.

Harry schüttelte den Gedanken ab, blickte wieder auf seinen Computer und hörte weiter die Tonaufnahmen ab. Irgendetwas hatte Robert Skogh gesagt, was Harry während des Verhörs nicht richtig verstanden hatte. Irgendetwas, was Robert gesagt hatte und worüber Harry während der Rückfahrt nach Norrtälje nachgedacht hatte, was er jedoch nicht richtig zu fassen bekommen hatte.

Ein Gefühl, dachte Harry. Ich taste mich in dieser Ermittlungssache vor und verlasse mich auf ein Gefühl.

Er war nun bei dem Abschnitt angekommen, wo über die Nacht, in der Lars Gustavsson im Hafen ermordet worden war, gesprochen wurde. Er hörte erneut seine eigene Stimme.

»Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«

Es folgten einige Sekunden Schweigen. Dann kam Robert Skoghs Antwort.

»Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«

Harry machte eine Pause und vergrub das Gesicht in den Händen. Er rieb sich die Augen und blinzelte, als er sie wieder öffnete. Er stand auf und ging in seinem Büro auf und ab, während er vor sich hin murmelte. Nach einer Weile setzte er sich wieder. Er spulte die Tonaufzeichnung einige Sekunden zurück und hörte sich denselben Abschnitt noch einmal an. Er sah auf die Uhr, als er seine Frage zum zweiten Mal hörte:

»Ist es nicht besser, du sagst, wie es gewesen ist, Robert?«

Harry sah auf die Uhr. Er zählte die Sekunden, indem er den Sekundenzeiger auf der analogen Uhr verfolgte. Nach zehn Sekunden kam die Antwort.

»Ich habe niemanden getötet. Ich habe nicht vor, etwas zu gestehen, was ich nicht getan habe.«

Das ist es, dachte Harry und stoppte die Tonaufzeichnung. Er erhob sich und begann wieder im Büro auf und ab zu gehen, die Stirn in tiefe Falten gelegt. Dann setzte er sich schnell wieder und hörte die Tonaufnahmen weiter ab. Jetzt war er eifriger.

Nun war wieder er selber zu hören. Dieses Mal klang er aggressiver. Er war absichtlich laut, um Robert Skogh unter Druck zu setzen.

»Du sitzt im Schlamassel, Robert! Du hattest Blutflecken auf deiner Jacke! Dafür musst du eine Erklärung abgeben, sonst wirst du hier lange sitzen. Glaub mir. Du wirst verurteilt werden. Du hast keine Chance!«

Harry sah wieder auf seine Uhr. Er zählte fünfzehn Sekunden. Dann war Robert Skoghs Stimme zu hören.

»Ich kann nicht gestehen, was ich nicht getan habe.«

Harry stoppte die Tonaufzeichnung. Da haben wir es wieder, dachte er. Warum? Warum wartet man fünfzehn Sekunden lang, um zu antworten, dass man unschuldig ist? Müsste diese Antwort nicht sofort kommen? Müsste Robert Skogh nicht empört sein und seine Antwort hinausschreien? Warum wartet er mit seinen Antworten?

Harry Lindgren stand zum vierten Mal innerhalb weniger Minuten auf.

»Ich habe nicht richtig auf das reagiert, was Robert Skogh gesagt hat«, sagte er leise vor sich hin, während er gleichzeitig bemerkte, wie der Schweiß unter den Armen so langsam durch das Hemd zu sehen war.

»Es war die Zeit, die er brauchte, ehe er antwortete.«

Es wurde Mittsommerabend und Norrtälje leerte sich. Boote mit aufgesetzten kleinen Birken verließen den Hafen und begaben sich mit den Feiernden hinaus durch die Bucht, begleitet von Ziehharmonikamusik. Wo nur einen Tag zuvor Hetze und Stress war, wirkte jetzt alles bedeutend ruhiger, auch wenn es immer noch sehr schwül und drückend in der Stadt war. Die Leute, die nur einen Tag zuvor gedrängelt und geflucht hatten, grüßten nun fröhlich und wünschten einander einen frohen Mittsommer. An der Busstation herrschte eine fieberhafte Aktivität, als Verwandte und Bekannte mit Taschen und Schlafsäcken umstiegen, um sich dann auf die Festlichkeiten in jeder Ecke der Gemeinde zu verteilen.

Wonner schlenderte die Strandpromenade im Societetspark entlang. Er setzte sich auf eine der Bänke und beobachtete das lebhafte Treiben unten bei den Sportbooten. Eine Gruppe junger Leute hatte schon das erste Bier geöffnet, saß mit nackten Oberkörpern in einem alten Holzboot und sang. Wonner dachte, dass dies sicher nicht das letzte Bier des Tages sein würde.

Er nahm sich die Zeitung vor, die er unter dem Arm trug, und las den Bericht über den Polizisten, der auf dem Weg zwischen Norrtälje und Stockholm überfallen worden war. Dann faltete er die Zeitung ruhig wieder zusammen, erhob sich, warf sie in den nächsten Abfallkorb und setzte sich wieder.

Das Boot mit den jungen Leuten legte ab und glitt durch das Hafenbecken. Einer der jungen Männer stand an der Reling und pinkelte ins Wasser.

Idioten, dachte Wonner. Ich habe es mit Idioten zu tun.

15

Ich kann ebenso gut arbeiten, dachte Malin Skogh. Dann habe ich nicht die Zeit, viel an Robert zu denken. Und an alles, was seit dem Mord an Lars Gustavsson passiert ist.

Sie hatte Olle Kärvs Artikel über den Fund an Bord der Sertem Explorer gelesen, und sie hatte am Tag vor dem Mittsommerabend mit Roberts Anwalt Tomas Fredriksson gesprochen.

»Du musst schon damit rechnen, dass Robert noch eine Weile im Gefängnis bleiben wird«, hatte er gesagt.

Viel mehr hatte sie nicht erfahren. Tomas Fredriksson war an die Schweigepflicht gebunden und durfte nichts über die Verhöre und die Haftverhandlungen sagen.

»Es tut mir leid, Malin«, hatte er geseufzt, »aber ich darf nicht erzählen, was Robert gesagt hat. Alles, was ich sagen kann, ist, dass es Umstände gibt, die für ihn belastend sind, aber er streitet den Mord ab. Und dass ich alles in meiner Macht Stehende tue, um ihn frei zu bekommen.«

»Wie geht es ihm?«, flüsterte Malin.

»Es ist hart, so lange im Gefängnis zu sitzen, das kannst du dir ja denken, aber er kommt trotzdem ganz gut zurecht. Er weiß, dass du an ihn glaubst, und das bedeutet ihm viel.«

Am Tage darauf hatte sie das Zubringerboot hinaus nach Norröra genommen, um zusammen mit ihren Freunden Elin und Erik Mittsommer zu feiern. Fatima Barsawi hatte das ganze Wochenende über Dienst und hatte sie gedrängt zu fahren, sie würden sich auf jeden Fall nicht sehen können.

Es wurde eine traditionelle Feier. Mittagessen mit Hering und Schnaps, ein Mittsommerkranz, Sackhüpfen. Kekse essen und Erdbeertorte. Baden. Gegrilltes Fleisch mit Rotwein. Gitarre und Calle Schewens Walzer. Noch mehr Wein.

Malin hatte mitgemacht, so gut es ging, hatte sich jedoch meist nach Hause gesehnt. Und an Robert gedacht. Nachts, als sie nicht schlafen konnte, war sie hinunter zur Brücke an der Badestelle gegangen, die Måsberg genannt wurde, und hatte dort eine Weile in der lauen Sommernacht gesessen. Hatte die dünne Mondsichel betrachtet, die Mückenschwärme verscheucht und gesehen, wie das Licht wie eine bleichrosa Hoffnung zurückkehrte.

Jetzt hatte sie gerade die fünfte Kundin an diesem Montag verabschiedet, die Haare auf dem Boden zusammengekehrt und eine schnelle Tasse Kaffee getrunken.

Ich kann ebenso gut arbeiten, stellte sie wieder fest, als eine Frau in den Salon kam, zusammen mit einem Jungen mit hellem struppigem Haar.

»Hallo, Åsa. Und hallo, Elias. Du bist doch sicher Elias.«

»Hm«, murmelte Elias und überlegte, ob er Malin die Hand geben sollte.

Bisher hatte ihm seine Mutter zuhause in der Küche die Haare geschnitten. Jetzt hatte er jedoch einen Haarschnitt bei einem richtigen Friseur zum Geburtstag geschenkt bekommen. Spannend, dachte er, als er auf den Stuhl kletterte.

»Ich habe einiges zu erledigen. Wir sehen uns dann später zuhause, Elias«, rief Åsa Mellberg, die schon auf dem Weg hinaus war.

»Wie soll ich dir denn die Haare schneiden?«, fragte Malin, und strich mit der Hand durch Elias blonden Wuschelkopf.

»Weiß ich nicht. Ein bisschen cooler. So ein bisschen struppig oben auf dem Kopf.«

»In Ordnung. Das kriegen wir hin«, lächelte Malin.

Man kann sich gut mit Elias unterhalten, dachte sie. Er spielte Hallenhockey, genau wie Malin, und Fußball im BKV Jungen-01. Er erzählte von dem Schnorchel, den er gestern zum ersten Mal an der Kärleksudden ausprobiert hatte, vom Hamster Gunnar, der sich in verschiedenen Ecken seines Käfigs Nahrung suchte, und dem Call-of-Duty-Spiel, das er haben wollte.

Und schließlich auch über sein Interesse für Mysterien und Geheimnisse.

»Am liebsten möchte ich Detektiv werden. Ich sammle Spuren und all so Sachen, die mystisch sind«, erzählte er weiter.

Er blickte Malin im Spiegel an.

»Weißt du, was mit dem Mann passiert ist, der im Hafen gestorben ist?«

Malin merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog.

»Nein, das weiß ich nicht. Nicht mehr als das, was in der Zeitung gestanden hat.«

»Ich bin ein paarmal dort gewesen und habe nach Spuren gesucht.«

»Tatsächlich?«

»Hm, aber ich möchte noch mehr wissen.«

»Hast du denn etwas gefunden?«

Elias schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts Wichtiges.«

Malin dachte an ihre eigene »Spur«, das Stück Holz mit den russischen Buchstaben. Sie hatte es Fatima gezeigt, die gesagt hatte, dass es damit nichts Besonderes auf sich habe. Aber dass Malin vorsichtig sein müsse.

Ihr lief ein Schauer über den Rücken, als sie an den Überfall auf dem Siloturm und an die dramatischen Ereignisse an Bord der Eckerö-Fähre dachte. Ja, sie musste vorsichtig sein, aber sie konnte auch nicht aufgeben. Sie musste Robert helfen.

»So, Elias, bist du zufrieden?«, fragte sie und hielt ihm hinten den Spiegel hin.

Elias strahlte, als er sich selbst und seine neue Frisur sah.

»Cool.«

Elias war Malins letzter Kunde an diesem Tag. Sie verließen zusammen den Salon und gingen bis hin zur Hantverkaregatan.

»Willst du in den Spielzeugladen?«, fragte sie.

»Vielleicht. Und dann wollte ich noch zu IT Works gehen, du weißt, zu dem Mann, der sich mit Computern beschäftigt.«

»Ronald Schneider?«

»Kennst du ihn?«

»Ein wenig. Er hilft uns, wenn das Buchungssystem auf unserem Computer nicht funktioniert. Er kennt sich bestens aus. Außerdem haben wir ein paarmal zusammen zu Mittag gegessen. Er ist nett.«

 

»Ich wollte ihn etwas fragen.«

»Über Computer?«

»Hm. Ich habe etwas gefunden, von dem ich nicht weiß, was es ist. Aber er weiß es sicher, er arbeitet ja mit so etwas.«

»Sicher. Er ist sehr nett und hilfsbereit. Wiedersehen, Elias.«

Malin sah ihn mit seinem Rucksack und dem krummen Stück Holz weggehen, das er bei der Apoteksbro aufgelesen hatte. Er blieb an dem Spielzeugladen stehen und ging dann weiter bis zum Schaufenster des Computerfachmanns.

Er erinnert mich an Robert, als er klein war, dachte sie.

Die Mittsommerhitze war von einem Gewitter weggefegt worden, das den Himmel in der Nacht zum Montag mit seinen Blitzen erleuchtet hatte. Jetzt war die Luft klarer und die Wärme erträglicher.

Schön, dachte Olle Kärv, der mit Fatima in einem Straßencafé Pizza aß. Er hatte sich auf das Treffen mit ihr gefreut. Einerseits deshalb, weil er sich erhoffte, etwas mehr über die seltsame Schmuggelaffäre und den ebenfalls sehr merkwürdigen Überfall auf Keith Holtha zu erfahren, andererseits, weil er hoffte, wieder mit diesem speziellen Lächeln bedacht zu werden.

»Hat denn Keith Holtha etwas mehr darüber sagen können, was passiert ist?«, fragte er.

Fatima saß einen Augenblick schweigend da, ehe sie antwortete.

»Das hier hast du nicht von mir erfahren«, sagte sie und wartete auf das bestätigende Nicken von Olle.

»Er ist immer noch benommen, aber ein Teil seiner Erinnerung ist wieder da. Es waren mehrere Personen, die sich mit ihren Fahrzeugen auf dem Parkplatz von Ledinge getroffen hatten. Er erinnert sich an Fragmente ihrer Unterhaltung.«

Olles Puls stieg an.

»Was haben sie gesagt?«

»Es ging um Transporte. Irgendetwas über Deutschland. An mehr erinnert er sich nicht.«

Schmuggel, dachte Olle. Es muss mit den Dingen zusammenhängen, die mit den Fähren und Lastschiffen ins Land kommen, welche die Polizei untersucht hat.

»Es sieht so aus, als gebe es einen Zusammenhang zwischen dem Überfall auf Holtha und dem, was im Hafen passiert ist«, sagte er.

»Das kann ich nicht bestätigen.«

»Das verstehe ich, aber ich muss da weitermachen«, sagte Olle, der es jetzt eilig hatte. Das musste er herausfinden. Möglichst heute noch.

Aber er wollte auch dieses Lächeln wiedersehen.

»Danke für das nette Mittagessen, Fatima. Du, ich meine, wir könnten uns vielleicht abends einmal treffen. Und wir könnten über etwas anderes reden als über die Arbeit.«

»Vielleicht«, antwortete Fatima.

Und lächelte.

Wonner beendete das Gespräch und legte das Handy weg. Die Lieferung war angekommen, Adam war zufrieden. Ein Teil der Ausrüstung war noch in Deutschland und wartete auf die Weiterbeförderung, der Rest war schon auf dem Weg zu seinem Bestimmungsort.

Aber auf dem Parkplatz von Ledinge war es ziemlich knapp gewesen. Die Idioten hatten einen Polizisten niedergeschlagen. Unverzeihlich, dachte er.

Jetzt hatte er den Auftrag bekommen, eine neue Lieferung in Empfang zu nehmen. Auch dieses Mal müssen es kleine Schiffe sein, aber wir laden irgendwo anders auf der Strecke um, dachte er.

Fatima Barsawi und ihre blonde Freundin stellten ein Problem dar, das sah er ein.

Ein paar Stunden später saß er in seinem Wagen in der Bangårdsgatan und wartete darauf, dass Fatima aus ihrer Haustür kommen würde. Er wollte sie und ihre Vorhaben beobachten.

Geduld, dachte er, als sie in ihren Sportsachen herauskam und begann, in Richtung Vegagatan zu joggen. Wonner ließ den Motor an und fuhr langsam los. Lauf du nur, Fatima Barsawi, dachte er. Ich bin doch der Erste.