Schärenmorde

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

10

In vielen Strafsachen gelangen die Ermittler irgendwann an einen Punkt, von dem aus sie und die Öffentlichkeit plötzlich in eine gänzlich neue Richtung schauen. Dinge, die zwar von Anfang an bekannt sind, aber eher am Rande wahrgenommen werden, rücken schlagartig in den Fokus und die Ermittlung nimmt neue Wege.

Man kann nicht voraussagen, wann das passiert. Es ist ein wenig so wie bei diesen verdammten Wildschweinen, wenn sie wie aus dem Nichts auftauchen und über die Straße donnern. Und es ist durchaus nicht angenehm, wenn zweihundert Kilo kompaktes Schwein auf die Motorhaube krachen.

Kriminalinspektor Keith Holtha nahm den Fuß vom Gaspedal und blickte in den Rückspiegel.

Hansson und Randin drängten sich auf dem Rücksitz zusammen. Das war durchaus keine optimale Situation, aber an diesem Abend war in der Täbygarage kein anderes Farhrzeug zu haben gewesen. Das Derby in Råsunda und eine Studentendemonstration auf dem Valhallavägen hatten es notwendig gemacht, den Kollegen auszuhelfen. Als Norrtälje mit seiner verspäteten Anfrage kam, mussten sie sich mit dem begnügen, was noch aufzutreiben war.

Das verflixte Schiff lag ja schon mindestens einen halben Tag im Hafen. Man musste nur noch über die Reling klettern und die Papiere kontrollieren.

Holtha war von Fatima Barsawi kurz über die Lage in Kenntnis gesetzt worden. Sie kannten einander von der Polizeihochschule. Er war an ihr interessiert gewesen. Sie hatte sich nur für das Thema interessiert, über das er einen Vortrag gehalten hatte: Strategien zum Umgang mit Demonstranten. Sie hatte mit einem gewissen Nachdruck behauptet, dass die Polizei in Göteborg das meiste falsch gemacht hatte. Er stimmte nicht zu, meinte jedoch, dass sie in einigen Punkten Recht hatte und – was teilweise auch durch die Forschung gestützt wurde – es tatsächlich von großer Bedeutung war, wie die Polizei die Demonstranten betrachtete: als »richtige Demonstranten« oder als Aktivisten.

Jetzt merkte er, dass sie ziemlich empört war, dass das Ganze so lange gedauert hatte. Sie selbst hatte das Schiff schon morgens gesehen. Aber dann hatte es gedauert, bis etwas unternommen wurde. Der Durchsuchungsbefehl kam erst, als die M/S Sertem Explorer schon abgelegt hatte. Jetzt mussten sie mit der Wasserschutzpolizei zusammenarbeiten.

Holtha kannte jeden Meter des Weges, jede Kurve zwischen Gillinge und Norrtälje. Das, was Zeit kostete, war die Wegstrecke hinaus nach Kapellskär, die Linkskurve in Richtung Rävsnäs, wo das Schiff an der Brücke angelegt hatte.

Holtha stieg aus und stellte fest, dass die Lokalzeitung schon zur Stelle war. Und dieses Mal war es wirklich nicht er gewesen, der geplaudert hatte.

»Willst du mit hinaus zum Fischfang fahren?« Holtha grinste und ahnte, dass dieser Journalist vermutlich eine ganze Menge wusste.

Unter gewissen Umständen blicken alle in dieselbe Richtung, dachte Keith Holtha zum wiederholten Male an diesem Abend.

»Hat diese – nennen wir es Hausdurchsuchung – irgendetwas mit dem Mord im Hafen zu tun?«

Die Frage wurde als reine Formalie gestellt. Nicht etwa, weil Kriminalreporter Olle Kärv eine ausführliche Antwort erwartete.

»Nein, wir wollen nur ausfahren und fischen«, grinste Hansson und ging auf die Brücke hinaus zu dem dort wartenden Schiff.

Sie umrundeten Tunholmen, erhöhten die Geschwindigkeit auf 30 Knoten und steuerten hinaus in Richtung Söderarmsleden.

Wonner war zufrieden. Die Durchsuchung hatte nichts ergeben. Die Polizei hatte ein bisschen Kleinkram mitgenommen, ein wenig herumgesucht und sich etwas zerstreut für das Logbuch interessiert.

Alles war in Ordnung.

Natürlich.

Das Schiff war auf dem Rückweg nach Sankt Petersburg, dann sollte es demontiert werden. Es hatte seinen Dienst getan, ebenso wie die Melchior den ihrigen getan hatte. Jetzt befanden sich die Reste auf dem Weg in das Stahlwerk von Magnitogorsk.

Wonner zupfte an seinen Augenbrauen und ermahnte sich, dass er das nächste Mal, wenn er wieder in Sankt Petersburg sein würde, die Isaakskathedrale besuchen musste.

»In dieser Situation ist es gut, dass sie alle in dieselbe Richtung blicken. Deshalb können wir die beiden letzten Lieferungen mit kleinen Schiffen holen«, sagte Wonner.

Er legte auf, tauschte die SIM-Karte in seinem Handy aus und tätigte noch zwei kurze Anrufe. Die zweite Sendung war gesichert und mit einem Lastwagen auf dem Weg nach Göteborg. Jetzt musste nur noch festgestellt werden, ob die Polizistin Barsawi und ihre blonde Freundin irgendetwas von entscheidender Bedeutung wussten.

Fatima Barsawi war wütend. Sie hatte Malin Skogh unten an der Freimaurerloge getroffen und ihr zugeraunt, sie solle mitkommen.

Jetzt saßen sie in Fatimas Einzimmerwohnung in der Bangårdsgatan. Fatima sah hinaus über den Mariagården und die Kirche. Die hitzige Debatte, die dem Bau von Norrtäljes neuem Gemeindehaus vorausgegangen war, war wie weggeweht. Es ging damals nicht nur darum, dass das neue Gebäude den Anblick der Kirche und die Aussicht über den Friedhof bis hinunter zum Hafen stören würde. Das neue Gemeindehaus sollte auch auf einem Platz errichtet werden, von dem man annahm, dass es sich dabei um eine alte Grabstätte handelte.

Jetzt stand es da. Und die meisten schienen zufrieden zu sein. Es war praktischer und ansprechender geworden, als die Kritiker angenommen hatten. Was mit diesen Knochenresten passiert war, hatten die meisten vergessen.

Fatima war empört.

»Jemand hat eine unverschämt lange Kaffeepause gemacht, sowohl auf der Polizeiwache als auch bei der Staatsanwaltschaft, und deshalb wurde aus dem Ganzen eine richtige Schlamperei«, sagte sie.

Die Melchior war immer noch ein Mysterium, und jetzt war noch ein Schiff im Hafen von Norrtälje gewesen und niemand wusste, was sich da vor ihren Augen abspielte.

Dass Malins Bruder in die Angelegenheit verwickelt war, war nicht leicht zu verdauen, dachte Fatima und überlegte, ob Malin etwas vor ihr verbarg. Ob sie etwas über die Schiffe wusste, das sie Fatima nicht erzählen wollte? Was hätte sie selbst getan, wenn es sich um ihren eigenen Bruder handelte? Wenn es Aslan wäre, der unter Mordverdacht in Untersuchungshaft säße?

Fatima schauderte und öffnete das Fenster, um den Sommerabend hereinzulassen. Draußen war es noch nicht dunkel. Unten in der Stadt spielte eine Jazzgruppe. Eine Frau sang: »All of me, why don’t you take all of me.«

Das Handy klingelte.

Der allgegenwärtige Olle Kärv rief an und fragte, ob sie ihm etwas über die Aktion auf dem Schiff sagen könne.

Aha, Harry hat ihm die kalte Schulter gezeigt, dachte Fatima und überlegte schnell, was Kärv wissen konnte. Er wusste natürlich, dass die Polizei den Schiffsverkehr aus Sankt Petersburg untersuchte. Wusste er auch, dass Robert Skogh mehr auf dem Kerbholz hatte als alte Besäufnisgeschichten von der Fahrt nach Paldiski?

Fatima hatte von Kriminalkommissar Harry Lindgren noch keinerlei Informationen über die Aktion erhalten. Sie kannte Harry aber gut genug, um zu wissen, dass er gerade ziemlich aufgebracht war, weil sie in diesem Fall so übereilt vorgegangen waren. Jetzt befanden sie sich wieder im Nachteil. Und es würde eine ganze Menge gedanklicher Arbeit erforderlich sein, um diesen Nachteil wieder aufzuholen.

»Denkt zum Teufel daran, dass wir es sind, die das Pferd reiten, und nicht das Pferd mit uns durchgeht«, hatte er bei der morgendlichen Besprechung gesagt.

Jetzt galt es, wieder die Zügel anzuziehen.

Jetzt war es notwendig, in eine andere Richtung zu ermitteln, dachte Fatima und entschloss sich, ehrlich zu Kärv zu sein.

»Wenn du die Durchsuchung der M/S Sertem Explorer meinst, dann habe ich überhaupt keine Informationen.«

Kärv war für ein paar Sekunden still.

»In zehn Minuten habe ich meine Deadline. Wir hatten vor, über dieses Feuerzeug mit den Initialen RS zu berichten, das man bei einem der Besatzungsmitglieder gefunden hat. Und über ein Handy mit einer Telefonnummer von einem gewissen Robert Skogh unter den geführten Gesprächen.«

Fatima strich sich schnell mit der Hand durchs Haar und sah zu Malin hin, die auf dem Sofa saß und sie fragend anblickte.

»Das musst du mit Harry Lindgren besprechen«, sagte Fatima ruhig, legte auf und ging in die Küche.

11

Sie tranken wie immer gegen zehn Uhr Kaffee. Fatima, der Kollege Bertilsson und ihr Chef Harry Lindgren. Bertilsson bekam einen Anruf auf seinem Handy und verließ den Raum. Fatima und Harry blieben sitzen. Sie füllten ihre Tassen nach, Harry sah auf die Uhr und sagte, dass er in einer Viertelstunde ein Gespräch aus Täby erwarte.

»Sie haben wenig Leute«, sagte er.

»Das scheint überall so zu sein«, antwortete Fatima.

»Ja, und du hast noch eine Menge Überstunden abzufeiern. Du musst jetzt einen Teil davon nehmen, sonst bekomme ich Probleme, und du ebenfalls.«

»Einen freien Tag, meinst du?«

»Ja, zum Beispiel. Und sieh zu, dass du ihn jetzt nimmst, wo niemand sonst von uns weg ist.«

»Wie wäre es mit Freitag?«

»Lieber nächste Woche Montag.«

»Gut, dann machen wir es so.«

Harry trank den letzten Schluck Kaffee aus und wollte gerade vom Tisch aufstehen, als Fatima ihn aufhielt.

»Noch etwas«, sagte sie.

Harry stellte die leere Kaffeetasse ab, blickte auf die Uhr und nickte seiner jungen Kollegin zu.

»Olle Kärv von der Norrtelje Tidning scheint einiges über den Fall zu wissen.«

Harry hörte zu, nickte wieder.

»Wie weit darf ich mich mit einem Reporter einlassen? Er könnte ja etwas haben, was auch wir wissen müssen.«

 

»Das ist eine heikle Frage«, antwortete Harry. »Wenn du diesem Burschen vertrauen kannst, dann solltest du wohl mit ihm reden.«

»Und Äpfel gegen Birnen tauschen?«

»Als ich vor ziemlich langer Zeit beim Dezernat für Gewaltverbrechen war, hatte ich eine sehr gute Zusammenarbeit mit einem Reporter von Sveriges Television. Wir haben einander vertraut, und wir haben hin und wieder Informationen ausgetauscht. Viele Polizisten tun das, manchmal haben wir ja dieselben Interessen. Wir wollen an Straftäter herankommen, die unschuldige Menschen gefährden.«

»Ich sehe das genauso, ich wollte mich nur vergewissern.«

»Ich habe jedoch nichts gesagt, das dürfte dir klar sein«, gemahnte Harry sie.

»Selbstverständlich.«

Fatima saß den restlichen Vormittag über an ihrem Schreibtisch. Sie schrieb Berichte, suchte im Internet nach Angaben über Schiffe auf der Ostsee und las ein wenig über russische Wirtschaftsverbrechen. Ehe es Zeit für eine Mittagspause war, überlegte sie, ob sie Olle Kärv anrufen sollte. Sie zögerte, schob die Entscheidung hinaus, aß im Aufenthaltsraum Köttbullar aus der Mikrowelle und trank die vierte Tasse Kaffee des Tages.

Viertel nach eins rief sie bei der Norrtelje Tidning an. Olle Kärv klang freudig überrascht.

»Wir sollten uns vielleicht einmal treffen«, sagte Fatima.

»Sag wann und wo«, antwortete Olle.

»Wie wäre es heute etwas später hier bei mir, du findest ja her. Sag am Empfang Bescheid, wenn du da bist. Sagen wir um drei?«

»Um drei. Bis dann.«

Sowohl für Fatima als auch für Olle stieg der Kaffeekonsum an diesem Tag. Denn sowohl Journalisten als auch Polizisten wissen, dass Kaffee nicht nur eine Arbeitspause verheißen kann, sondern oft auch wichtige Informationen.

»Ich hole uns beiden eine Tasse aus dem Aufenthaltsraum«, sagte Fatima, als Olle sich in ihrem Zimmer gesetzt hatte. »Mit oder ohne?«

»Mit allem«, antwortete Olle.

Als Fatima mit den Tassen zurückkam, steckte Olle gerade seinen Notizblock in die Innentasche.

»Danke für den Tipp mit dem Schiff«, sagte er.

»Danke für deinen Bericht, der war nicht ganz falsch«, antwortete Fatima.

»Wir sind auf derselben Spur, nicht wahr?«

»Ja, es sieht so aus. Und wir geben niemals unsere Quellen preis.«

»Nein, nie, das ist eine heilige Regel.«

»Und was hältst du von der Geschichte? Hat Robert Skogh etwas damit zu tun?«

»Vielleicht, in diesem Falle jedoch nur am Rande. Er war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort, so etwas passiert ja recht häufig.«

»Leider gibt es aber eine ganze Reihe belastender Tatsachen.«

»Die da wären?«

Fatima erzählte einiges von dem, was sie wusste, jedoch nicht alles. Auch Olle berichtete, ließ jedoch ebenfalls einiges aus. Beide sahen sich vor. Fatima wollte in der nächsten Zeit erst einmal die Norrtelje Tidning lesen, ehe sie sich weiter mit Olle Kärv unterhielt.

Bevor er ging, erzählte er noch etwas, das er gerade erfahren hatte. Aus einer sicheren Quelle, wie er sagte. Es ging um einen neuen Schmuggelweg aus den östlichen Ländern von der anderen Seite der Ostsee, via Grisslehamn.

Es kamen Waren mit der Fähre, manchmal auch in Autos mit baltischen Kennzeichen.

»Und was wird geschmuggelt?«

Olle wusste es nicht, er hatte nur gehört, dass es sich nicht um Rauschgift handele, eher um Alkohol oder Zigaretten. Einige Transporte waren vielleicht gerade in dieser Woche unterwegs.

»Willst du die Fähre beobachten?«

Nein, dazu hatte er keine Möglichkeit, er war ja als Kriminalreporter allein bei der Zeitung. Und jetzt gab es mehrere Gerichtsverfahren, zu denen er ebenfalls musste.

Fatima begleitete Olle hinunter zum Ausgang. Er lächelte, Fatima gefiel sein Lächeln, und sie lächelte ebenfalls.

An diesem Nachmittag rief sie Malin an. Sie müssten sich treffen, konnte Malin sich am Montag freinehmen?

»Was hältst du von einem Ausflug? Wir könnten tagsüber die Fähre von Grisslehamn aus nehmen, gut essen und gegen Abend wieder zurück sein.«

»Das klingt verlockend«, antwortete Malin. »Aber Montag ist schlecht, ich habe Kunden, die ich nicht umbuchen kann. Können wir nicht am Sonntag fahren?«

»Sonntags ist immer so viel Betrieb auf der Fähre.«

»Ja, aber es ist trotzdem nett.«

Sie verließen Norrtälje gegen acht Uhr in Fatimas altem Golf. Es war ein warmer Tag, am Himmel waren leichte Wolken zu sehen. Fatima sagte nichts von dem Treffen mit Olle Kärv. Bisweilen dachte sie an sein Lächeln. Darüber würde sie gerne mit ihrer Freundin sprechen.

Am Väddo-Kanal mussten sie warten. Die Schranken an der Brücke senkten sich vor ihnen, hinter Fatimas Wagen bildete sich eine lange Autoschlange. Das Brückentor wurde hochgeklappt und drei große Segelschiffe glitten vorbei. Eines davon hatte achtern eine deutsche Flagge, eines eine dänische und eine war blaugelb. Malin betrachtete die Schiffe. Fatima sah in den Rückspiegel.

»Dieser schwarze Volvo fährt schon seit Norrtälje hinter uns her«, sagte sie.

»Bist du sicher?«, antwortete Malin.

»Ja, ziemlich sicher. Es wird sich ja zeigen, wenn sich die Schlange auflöst.«

Hinter den drei großen Segelschiffen kamen noch ein paar Segelboote. Dann senkte sich das Brückentor. Fatima fuhr über die Brücke, vor der Volkshochschule bog sie plötzlich auf den Parkplatz ein. Die Autoschlange glitt vorbei, große und kleine Wagen in allen Farben, unter ihnen ein schwarzer Volvo mit getönten Scheiben.

»Das ist er«, sagte Fatima.

Nachdem die Schlange vorbei war, fuhr Fatima wieder auf die Straße hinaus. Sie hielt sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Jemand überholte sie ziemlich riskant an der Kirche, und bei Edeby pressten sich zwei Wagen mit hoher Geschwindigkeit an ihr vorbei.

»Die hatten mindestens hundert drauf«, sagte Fatima.

»Lässt du das durchgehen?«

»Heute bin ich privat, es muss schon Schlimmeres passieren, damit ich mir einen arbeitsfreien Sonntag verderben lasse.«

Sie näherten sich Grisslehamn. Fatima blickte öfters in den Rückspiegel. Sie wurden noch ein paarmal von Autos überholt, die offenbar eilig zur Fähre wollten.

»Jetzt ist der Volvo wieder hinter uns«, sagte Fatima, als sie an einem griechischen Restaurant vorbeifuhren.

»Bist du sicher, dass es dasselbe Auto ist?«

»Ja, ganz sicher. Er muss irgendwo rausgefahren sein, um uns vorbeizulassen.«

»Was machen wir jetzt?«

»Wir versuchen, möglichst viel über den Volvo in Erfahrung zu bringen.«

Sie fuhren den langen Berg an der Einfahrt nach Grisslehamn hinunter und waren schon am Fußballplatz und an der Wegkreuzung vorbeigefahren, als Fatima plötzlich die Abfahrt nach Kvarnsand nahm. Sie standen jetzt direkt neben der langsam vorbeirollenden Autoschlange. Sie fuhr langsam, zuerst kam ein grüner Saab, dann ein grauer Lieferwagen, ein weißer Renault und dann der schwarze Volvo.

Fatima sah das Kennzeichen und ohne den Blick von dem Volvo zu nehmen, reichte sie Malin einen Notizblock mit einem Kugelschreiber, während sie das Kennzeichen diktierte. Malin schrieb, und Fatima konnte kurz zwei Männergesichter hinter den getönten Scheiben des Volvo erkennen.

Schließlich parkten sie den Wagen ein Stück vom Kai entfernt, aber der schwarze Volvo war nirgends zu sehen. Fatima rief die Kollegen in Täby an und bat um Hilfe bei der Feststellung des Autokennzeichens.

»Ein Mietwagen«, sagte sie nach einer Weile.

Es wehte ein leichter Wind und der Himmel war wolkenlos, als sie an Bord der Fähre M/S Eckerö gingen.

12

Als die M/S Eckerö rückwärts vom Kai in Grisslehamn ablegte, standen sie zusammen mit schwedischen Feriengästen und ausländischen Touristen auf dem oberen Achterdeck. Eine Schar Möwen umkreiste das Schiff und in dem hellen Licht leuchtete Albert Engströms Atelier weiß glänzend auf seinem Felsen.

Das Schiff drehte und hatte seine volle Fahrt noch nicht aufgenommen. Die Reisenden konnten in die waldbewachsene Insel Loskäret hineinsehen. Hoch oben auf einer Kiefer saß ein Seeadler. Malin stand an der Reling neben einem Deutsch sprechenden Paar. Sie zeigte auf den Adler und versuchte, etwas von einem »Adler« zu sagen. Sie glaubte zu wissen, dass der Vogel auf Deutsch so hieße.

Das Paar begann sofort mit Malin Deutsch zu sprechen, wodurch sie gezwungen war zu sagen, dass sie sie nicht verstand. Sie lachten, und der Deutsche fotografierte.

Dann gingen Malin und Fatima in die Caféteria. Sie holten sich zwei Tassen Kaffee und jede einen Zuckerkringel.

»Glaubst du, dass sie jetzt hier irgendwo sitzen?«, fragte Malin.

»Du meinst die Männer aus dem Volvo?«

»Ja, sie wissen vielleicht, wer wir sind, aber wir erkennen sie nicht.«

»Vielleicht, das werden wir bald wissen.«

»Wie denn?«

»Das merken wir sicher.«

Fatima betrachtete vorsichtig die Menschen im Raum, während sie sich mit Malin unterhielt. Fast alle Gäste befanden sich in Gesellschaft, es waren Familien mit Kindern, ältere Paare, junge Paare und einige Männer, die zusammensaßen. Zwei der Männer trugen Sportjacketts, zwei hatten Pullover an, zwei weitere waren mit hellen Sommerjacken und dunklen Hosen bekleidet.

»Ein paar schwedische Kerle«, flüsterte Fatima. »Außerdem zwei ausländische Herren, recht flott.«

»Die Flotten, sind das die aus dem Volvo? Was meinst du?«

»In diesem Fall ist es eigentlich etwas zu einfach. Ich werde mal losgehen und mir das Schiff ansehen. Bleib du hier sitzen und behalte die Männer im Auge.«

Fatima verließ den Tisch. Malin ließ ihre Blicke von Tisch zu Tisch wandern. Niemand schien sich um ihre Freundin zu kümmern.

Nach zwei Stunden kamen sie in Eckerö an. Sie eilten an Land und positionierten sich so, dass sie die Autos sehen konnten. Der schwarze Volvo erschien nach einer Weile, die Sonne fiel auf den Wagen, und Malin und Fatima konnten ganz kurz die Gesichter der beiden Männer etwas deutlicher erkennen. Keiner von beiden sah irgendeinem der Männer ähnlich, die in der Caféteria der Fähre gesessen hatten.

Sie verließen das Hafengelände und gingen am Strand entlang. Beide kannten sich von mehreren Sommerbesuchen her gut auf Eckerö aus.

»Es sieht nach Badewetter aus«, sagte Fatima.

»Wenn wir das spätere Schiff zurücknehmen, können wir noch baden und uns sonnen«, antwortete Malin.

Sie gingen auf dem Strandpfad über die Landspitze herum bis nach Käringsund und sahen bald den langen Sandstrand und all die planschenden Kleinkinder und sonnenanbetenden Touristen.

Malin trug einen zweiteiligen Badeanzug, ein etwas älteres Modell, Fatima einen hellblauen Bikini. Beide hatten schon etwas Sonnenbräune, beide waren schlank und durchtrainiert. Sie baten die Mutter eines Kleinkindes, ein Auge auf ihre Sachen zu haben, und liefen dann ins Wasser, tauchten, schwammen ein Stück weit hinaus, drehten um und kehrten zum Strand zurück.

Oberhalb des Strandstreifens befand sich ein kleines Kiefernwäldchen. Zwischen zwei Kiefern stand der schwarze Volvo. Die Männer standen versteckt hinter einigen Büschen, einer von ihnen hielt ein Fernrohr in der Hand. Sie unterhielten sich über die beiden jungen Frauen, die gerade aus dem Wasser kamen.

Malin und Fatima lagen noch eine Stunde am Strand, ehe sie sich wieder anzogen und einen Spaziergang durch die Gegend machten. Sie aßen in einem Lokal gebratenen Hering und Kartoffelbrei, tranken Leichtbier, blieben noch eine Weile sitzen und machten dann einen weiteren Spaziergang, ehe es Zeit wurde, zur Fähre zurückzukehren.

Wieder stellten sie sich ein Stück von der Rampe entfernt hin, auf der die Autos an Bord fuhren, und schrieben auf, was sie sahen: Automarke, Kennzeichen.

»Ich werde die ganze Liste von der Reederei anfordern«, sagte Fatima. »Aber es kann ja auch sein, dass irgendeines der Autos mitfährt, ohne dass die Nummer notiert wurde.«

Sie sahen drei Wagen mit baltischen Kennzeichen, eines mit einer polnischen Nummer und ein weiteres mit einer Nummer, die sie nicht zuordnen konnten.

»Von weither kommende Gäste«, sagte Fatima. »Und außerdem kommen sie auf einem ziemlich ungewöhnlichen Weg nach Schweden.«

Die Fähre legte ab und sie ergatterten einen kleinen Tisch an dem Fenster im Speisesaal, an dem die Leute vorbeiliefen. Ein Strom von Menschen kam vorbei, ohne auf die beiden Frauen hinter dem Restaurantfenster zu achten. Ein Mann jedoch sah sie, und drehte sein Gesicht zur Seite, als er vorbeiging.

 

Sie aßen noch einmal Fisch, gebackene Flunder mit Hummersoße, und tranken wieder Leichtbier. Nach einer Stunde verließen sie den Tisch. Inzwischen befand sich die Fähre mitten auf dem Åländischen Meer.

Fatima ging voran, Malin folgte ihr. Sie stiegen die Treppen hinunter und gingen durch mehrere Flure hindurch. In einem der unteren Stockwerke hatten die Besatzungsmitglieder ihre Kabinen. Auf einem Schild stand: Nur für Personal. Als Fatima die Tür aufschob, fragte Malin, ob sie hier durchgehen dürften.

»Das ist völlig in Ordnung, außerdem habe ich meine Vorbereitungen getroffen«, antwortete Fatima. »Und ich habe ja meinen Ausweis, wenn es nötig sein sollte.«

Sie trafen eine Frau in einer Kittelschürze. Fatima nickte, die Frau nickte zurück. Sie kamen an eine schmale Tür, die Fatima öffnete. Dahinter befand sich eine enge Wendeltreppe. Sie stiegen hinab, öffneten eine weitere Tür und blickten über das untere Autodeck.

»Wir trennen uns«, sagte Fatima. »Jede nimmt eine Reihe, und wir treffen uns am anderen Ende wieder.«

Sie schlichen zwischen den Autos entlang, erkannten einige wieder, schrieben neue Nummern auf, sahen durch die Scheiben und kontrollierten, was sich auf der Ladefläche der vereinzelten Lieferwagen befand. Fatima war als Erste mit ihrer Reihe fertig. Sie hockte sich hinter einen dunkelgrünen Transporter. Malin war noch auf dem Weg.

Nach ein paar Minuten richtete sich Fatima auf und hielt nach Malin Ausschau, konnte sie jedoch nicht entdecken. Dann ging sie hinüber zu der Autoreihe, die Malin abgegangen war und blickte bis ans Ende des Autodecks. Malin war nirgendwo zu sehen.

Rufen wollte sie nicht. Schnell lief sie zwischen den Wagen durch, blieb stehen, hockte sich hin, um unter die Wagen zu blicken, suchte weiter.

Da bemerkte sie Malin. Sie stand von zwei Männern bedrängt an einer Metallwand, wurde von dem einen festgehalten, der ihr die Arme auseinanderbog, und der andere stand daneben und hielt Malin den Mund zu.

Fatima ging langsam auf die Männer zu. Sie hob die Hände, so als ob sie aufgegeben hätte, als wolle sie verhandeln.

Der Mann, der Malin festhielt, sagte auf Russisch etwas zu seinem Kumpel. Fatima verstand ihn, aber das konnte der Mann nicht wissen. Fatima antwortete auf Schwedisch.

»Was wollt ihr?«, fragte sie und ging weiter auf die Männer zu. Einer von ihnen streckte ihr eine Handfläche mit einer Bewegung entgegen, die wahrscheinlich »Stopp« bedeuten sollte.

Fatima trat schräg zur Seite, wandte den Männern den Rücken so zu, als ob sie weggehen wollte, drehte sich dann jedoch plötzlich um, tat zwei schnelle Schritte nach vorn und trat mit dem rechten Bein zur Seite.

Sie zielte auf den Mann, der Malin festhielt, ihr harter Absatz traf ihn am Kinn. Sofort ließ er Malin los und fiel nach hinten. Der andere Mann trat einen Schritt auf Fatima zu, die sich schnell umdrehte und den Mann mit dem Fuß an der Brust traf.

Jetzt war der erste Mann wieder auf den Beinen. Beide gingen langsam auf Fatima zu. Sie wich ein wenig zurück.

Die Männer versuchten einen gemeinsamen Angriff. Fatima sprang zur Seite, aber einer der Männer traf ihr Bein und sie fiel hin. Sie sah, wie der zweite Mann seinen Fuß hochhob, um ihr ins Gesicht zu treten.

Der Mann kam jedoch nicht dazu. Er wurde von hinten von einem harten Schlag ins Genick getroffen, fiel hin und blieb liegen. Fatima blickte auf und sah Malin ins Gesicht.

Sie erhob sich schnell. Der Mann, der von Malin niedergeschlagen worden war, blieb liegen, der andere entfernte sich mit ein paar unsicheren Schritten von den Frauen.

»Gehen wir«, sagte Fatima.

Sie eilten zu der Wendeltreppe, die Männer blieben unten. Einer von ihnen sprach etwas auf Russisch, aber Fatima konnte nicht hören, was er sagte.

Um halb acht war die Fähre zurück in Grisslehamn. Malin und Fatima waren unter den Ersten, die an Land gingen.