Der blaue Strand

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Das Böse

An diesem Tag war Kristina mit dem Knecht Per Stensson draußen gewesen. Sie hatten gemeinsam auf einer der Heuwiesen des Hofes gearbeitet. Nach einigen Stunden verließ sie Per und ging in den Stall, um zu melken. Der Kater wartete wie gewöhnlich. Kristina fragte sich, wie er die Zeit wissen konnte. Vielleicht war es aber auch so, dass er immer wartete. Früher oder später wurde er ja für seine Mühe belohnt.

Sie selbst wusste auch ohne Uhr, welche Stunde am Tag es war. Sie spürte, wie der Tag voranschritt, sah die Sonne und das Tageslicht. Zu Hause auf dem Hof gab es eine Wanduhr, die Kristinas Mutter mitgebracht hatte, als sie Markus heiratete. Die Uhr schlug, dumpf und öde, ein tiefer Erzklang, den man bis auf den Hofplatz hinaus hörte. Wenn man am Stall ganz still stand, konnte man den Klang auch bis dorthin hören.

Kristina hatte ihre Mutter nie gesehen; sie war bei der Geburt gestorben. Es gab keine Bilder von ihr. Kristina stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor. Ein älterer Verwandter hatte gesagt, dass Mutter und Tochter einander ähnelten. Aber das Fantasiebild, das Kristina sich gemacht hatte, war ein anderes: eine dunkelhaarige Frau mit braunen Augen und schmaler Nase. Dieses erdachte Bild behielt sie für sich.

Sie aßen zu Abend. Sie waren zu viert am Tisch; Per Stenssons Verlobte war gekommen. Sie sollte ebenfalls einige Tage bei der Heuernte helfen und in Nygården übernachten. Das Mädchen sollte bei Kristina in der Küche schlafen und Per konnte die eine Kammer nehmen; Großmutter Johanna schlief ja in der anderen. Und wenn die beiden jungen Leute in der Nacht hinausgingen und blieben, was sollte Kristina dann machen?

Sie hatte über die Sache nachgedacht und beschlossen, sich nicht einzumischen. Sie war ja selbst nur einige Jahre älter, sie verstand sie, und es gehörte wohl dazu, dass Verlobte während der Heuernte in irgendeiner Feldscheune schliefen.

Sie wollte auch bei dem schlafen, nach dem sie sich sehnte. Abends und nachts gab es nichts, wonach sie sich mehr sehnte. Tagsüber konnte es anders sein, da sah sie Robert vor sich, er lächelte sie an, sie gingen zusammen, redeten und verstanden sich so gut. Ihre Sprache war lautlos, aber dennoch erfüllt von Wörtern. Ihre Gedanken hatten Wörter und weil die Gedanken keine Grenzen kannten, bewegten sich die kleinen Wörter zwischen ihnen wie flatternde Schmetterlinge.

Wenn Kristina die Augen schloss, sah sie die Schmetterlingswörter, und wenn sie dann weiterging oder Heu rechte oder melkte, sah sie die fliegenden kleinen Wörter immer noch. Sie hieß ihre Sehnsucht willkommen, die in sie hineinwuchs, und was sie träumte, das wurde zu lebendigen Bildern.

Am Nachmittag war sie unten in Marviken an der Räucherei. Sie machte sauber, sah nach dem Boot und sprach mit einem Nachbarn, der mit seinem Fang an Land kam. Dann setzte sie sich eine Weile hin und sah auf das Meer hinaus. Es lag etwas Drückendes in der Luft.

Sie ging auf dem schmalen Waldweg nach Hause, kam hinauf zur Dorfstraße und hatte gerade die Stelle erreicht, wo der Weg sich verzweigte. Sie blieb stehen, hatte plötzlich Schwierigkeiten zu atmen und spürte einen merkwürdigen Druck von der Brust bis in den Hals hinauf.

Aber der Druck kam nicht aus ihrer eigenen Brust. Es war, als halte eine unsichtbare Kraft sie von außen umfasst, eine Kraft, die ihr übelwollte.

Eine kleine Weile stand sie still und fühlte, wie das Böse Macht über sie bekam. Sie versuchte zu schreien, aber ihre Kehle war ganz trocken und es kam kein Laut aus ihrem Mund.

Dann lockerte die böse Kraft ihren Griff, nicht ganz und gar, aber sie bekam wieder Luft und konnte einige Schritte machen. Und jetzt kam ihr der Gedanke, dass die Kraft vom Uferwald her kam, von den niedrigen Kiefern und den Wacholderdickichten. Es war, als zöge die Kraft sie in diese Richtung, zum Meer.

Sie machte einen Schritt auf die Bäume zu und da ließ der Druck etwas nach. Sie machte noch einen Schritt und wieder ließ der Druck etwas nach. Da ging sie langsam in den Wald hinein und folgte dem Weg nach Skatudden. Und während sie ging, verringerte sich langsam der Druck auf die Brust.

Jetzt sah sie das Wasser. Sie ging weiter bis auf die höchste Klippe Skatuddens hinauf. Das Meer breitete sich vor ihr aus, der Wind war schwach, die Oberfläche kräuselte sich nur. Der Himmel war hoch und blau. Weit weg sah sie die Rauchfahnen von zwei verschiedenen Dampfschiffen, eines im Süden und eines im Norden.

Das Böse war fast ganz fort. Aber stattdessen schlug Kristinas Herz schneller. Sie drückte die Handfläche gegen das Medaillon; es fühlte sich wärmer an als gewöhnlich. Als sie auf das Meer hinaussah, war es, als berühre etwas weit Entferntes am Horizont den Punkt in der Brust, an dem das Böse am stärksten gewesen war.

Sie blieb stehen, ohne an die Zeit zu denken. Langsam verschwand all das Böse, das sie gespürt hatte, das Herz fand seinen ruhigen Rhythmus wieder, die Unruhe ging in Sehnen über.

Die zehn Schläge

Die Hecla fuhr nach Süden auf die finnische Bucht zu. Auf dem Weg begegnete sie einem Schiff aus der englischen Flotte, das Post und neue Befehle für Kapitän Hall mit sich führte. Er sollte auf das Åländische Meer hinausfahren, zum Leuchtturm Lågskär, und mit zwei anderen Schiffen zusammentreffen, der Odin und der Valorous. Gemeinsam sollten sie sich der Festung Bomarsund auf Åland nähern, Späher aussenden und herausfinden, wo im Sund die Russen verborgene Kanonen hatten. Kapitän Hall wurde zum Befehlshaber der Gruppe ernannt.

Mit der Post aus England kamen auch Zeitungen. Und jetzt konnten die Seeleute lesen, wie unzufrieden die englische Regierung und die Allgemeinheit mit den Leistungen der Flotte waren. Man verlangte einen ordentlichen Sieg. Am liebsten sollte die Flotte Kronstadt, die große Festung der Russen draußen vor Sankt Petersburg, in die Luft schießen oder Suomenlinna, das die Einfahrt nach Helsinki schützte.

Die Zeitungen enthielten auch Neuigkeiten über den Krieg. Die Times berichtete, dass die Alliierten, England und Frankreich, Russland mit einer großen Armee auf der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer angreifen wollten. Viele hatten ja geglaubt, dass der Angriff im Norden erfolgen würde, auf Sankt Petersburg. Schweden hatte darauf gehofft und sogar geplant, am Krieg teilzunehmen. Jetzt zögerte Schweden, aber der Seekrieg auf der Ostsee ging weiter. Und England wartete mit wachsender Ungeduld auf einen ordentlichen Sieg.

Das spornte Kapitän Hall an. Sein Befehl war es, die Lage auszukundschaften, aber er ging noch weiter.

Der Morgen war diesig, die Sicht eingeschränkt. Markus stand mit Adler auf der Kommandobrücke der Hecla. Sie hatten eine Seekarte, aber sie war ungenau. Die größeren Inseln waren verzeichnet, die Mehrzahl der Untiefen jedoch nicht. Das Schiff fuhr mit ziemlich geringer Geschwindigkeit; es bewegte sich kaum durch das glatte Wasser. Es war völlig windstill an diesem Mittwochmorgen, dem 21. Juni. Hinter der Hecla folgten die Odin und die Valorous. Alle Schiffe waren mäßig bewaffnet; zusammen hatten sie achtunddreißig Kanonen. Sie waren auf dem Weg zur Festung Bomarsund, auf der es weit über hundert Kanonen gab, viele von ihnen waren schwer und von großer Reichweite.

Der Dunst lichtete sich etwas, aber die Hecla fuhr trotzdem weiterhin mit weniger als halber Kraft. Markus wusste, dass sie eine Reihe Untiefen voraus hatten. Einige von ihnen mussten eigentlich hervorragen, die Mehrzahl lag jedoch gleich unter der Wasseroberfläche. In einem Segelboot hätte er auf die Bewegung des Wassers um die Untiefen geachtet. Jetzt wurde er von dem Zischen der Maschine und dem Rauschen des Schaufelrads gestört.

Er spürte, dass sich voraus etwas befand und sagte es Adler, der übersetzte. Kapitän Hall schickte sofort einen Mann mit einer Lotleine nach vorne zum Bug. Das Rad blieb stehen.

»Sechs Faden«, rief der Mann an der Lotleine.

Markus zeigte auf der Seekarte, wo sie sich befanden. Kapitän Hall gab das Kommando ›Maschine zurück‹. Das Schiff blieb ganz stehen. Dann kam ein neues Kommando und die Hecla bewegte sich wieder vorwärts, jetzt mit geringstmöglicher Geschwindigkeit.

»Nach backbord steuern«, sagte Markus. »Wir sind am Rand des flachen Gebiets.«

Adler übersetzte, das Schiff gierte und fuhr langsam weiter vorwärts. Bald rief der Mann am Bug neue Wassertiefen, zehn Faden, sechzehn Faden. Sie waren an den Untiefen vorbei.

Jetzt lichtete sich der Dunst noch weiter. Sie erblickten eine Felseninsel, und noch eine, dann eine kleine Insel. Markus erkannte die Gegend wieder; sie waren auf dem Weg zur Südspitze von Lemland.

Eine Stunde später war die Sicht gut. Die Hecla fuhr mit halber Kraft nordwärts, hinauf nach Lumparland. Sie sahen jetzt gut, die Strahlen der Sonne drangen durch die dünnen Wolken. Die Felsplatten der Inseln glänzten, die morgendliche Feuchtigkeit lag noch auf dem Boden, aber die Wärme würde kommen.

»Die Russen sehen uns besser als wir sie«, sagte Adler. »Die Hecla kann sich nicht verstecken, aber sie können überall liegen und sich uns vornehmen.«

Sie fuhren in den engen Sund zwischen Lumparland und Tvegata ein. Das Wasser wurde wieder flach, aber hier fühlte Markus sich sicher, hier war er mehrmals mit dem Schiff durchgefahren. Dann kam Ängö an Steuerbord, Wald und Berg, fünfzig Meter bis zum Ufer auf der einen Seite, etwas mehr auf der anderen. Hier konnte der Feind sich verstecken.

Kapitän Hall gab den Feuerbefehl für die Kanonen der Hecla, auch die Gewehrschützen schossen auf das Land, in den Wald hinein, auf Büsche und Wäldchen. Das Kanonenfeuer war heftig, die Sprenggranaten dröhnten und loderten. Bäume wurden umgeworfen, das Blattwerk splitterte und flog hoch in die Luft. Die Hecla glitt langsam durch den Sund, die Kanonen schossen weiter. Und hinter der Hecla folgten die beiden anderen Schiffe. Auch sie feuerten.

 

Aber niemand schoss zurück. Als das Geschützfeuer von den Schiffen aufhörte, herrschte absolute Stille. Nicht ein Laut war zu hören. Alle warteten, die Wasserfläche weitete sich. Jetzt waren nur eine hohe Felseninsel und eine Landspitze zu sehen, auf der anderen Seite lag Bomarsund.

Dann trat die Festung hervor, ein langer, grauer und mächtiger Steinwall mit Schießscharten, ein niedriger Turm ein Stück weiter oben an Land, Reihen von Holzgebäuden, noch ein niedriger und breiter Steinturm. Und überall gab es Schießscharten für Kanonen mit den Öffnungen auf die Förde hinaus, auf der die Hecla und die beiden anderen Schiffe vorwärtsglitten.

»Sie warten auf uns«, murmelte Adler. »Sie wollen uns näher herankommen lassen, damit sie uns in kleine Stücke schießen können.«

Die ganze Zeit über wurden Pulverkartuschen von der Pulverkammer der Hecla zu den Kanonen getragen. Und auch vor diesem Gefecht war Robert Blackstone zum Träger, zum Powdermonkey, ernannt worden. Er wusste nicht, ob das eine Ehre war, weil er beim letzten Mal seine Sache gut gemacht hatte, oder ob es eine Bestrafung war. Denn es war eine Plackerei, es war eng und sollte schnell gehen, und wenn das Batteriedeck unter feindlichem Beschuss lag, durfte er nicht stehen bleiben und in Deckung gehen, das Pulver musste ankommen. Ein Fehltritt war nicht erlaubt, das geringste Zögern wurde bestraft.

Während der Passage durch den Sund bei Ängö waren viel Pulver und eine ganze Anzahl Sprenggranaten verbraucht worden. Nun lief Robert zwischen dem Pulvervorrat und den Kanonen hin und her. Er stolperte, tat sich den Fuß weh und setzte sich in aller Hast hin, aber niemand sah es.

Jetzt waren sie vierhundert Meter vom Land entfernt. Kapitän Hall betrachtete die Festung durch seinen Feldstecher. Auch Markus hatte einen Feldstecher ausleihen dürfen. Gefahren auf See rechtzeitig zu sehen war die Pflicht des Lotsen, Feldstecher und Seekarte waren seine Arbeitsgeräte. Er sah den mächtigen Steinwall und nun konnte er die Kanonenmündungen in den Schießscharten erkennen. Sie waren auf die Hecla gerichtet. Und er sah die russische Flagge und einige Männer, die einen Steg entlanggingen.

Dann eröffnete plötzlich die Hecla das Feuer. Die Valorous und die Odin taten es ihr nach. Alle Schiffskanonen waren mit Sprenggranaten geladen. Markus folgte der Bahn der Granaten und sah die Einschläge. Feuergarben breiteten sich am Ufer aus, vor der Steinwand und den Holzhäusern. Eines der Häuser begann zu brennen.

Neue Schüsse, neue Einschläge, dasselbe Ergebnis. Noch mehr Feuer und Rauch, Flammen, Funken. Aber die Steinfestung hielt stand, noch ein Holzhaus fing Feuer.

Plötzlich erwiderten die Russen das Feuer. Eine Reihe von Rauchwolken und Mündungsflammen zeigte, dass viele Kanonen gleichzeitig abgefeuert wurden. Das Feuer war schlecht gezielt, die Kugeln schlugen im Wasser vor den englischen Schiffen ein. Neue Schüsse, neue Einschläge, ebenso weit von den Zielen entfernt.

Aber es gab weitere Schüsse und sie schlugen immer näher ein. Dann krachte eine Kanonenkugel direkt in die Valorous, riss einen Schornstein nieder und verletzte einen Matrosen. Ein anderer Kanonenschuss traf das Deck der Odin, jedoch ohne jemanden zu verletzen.

Unmittelbar danach wurde auch die Hecla getroffen. Eine Sprenggranate explodierte in der Luft über dem Schiff. Splitter flogen umher, zwei Männer wurden verletzt, einer von ihnen ernsthaft. Er blieb, das eine Bein zerfetzt, auf dem Deck liegen. Blut lief aus der Wunde, sein Oberschenkel war aufgeschlitzt, der Knochen ragte heraus. Später wurde das Bein amputiert, aber das Leben des Mannes konnte gerettet werden.

Ein oder zwei Minuten nach der Explosion der Granate schlug eine massive Kanonenkugel in das hintere Deckshaus der Hecla ein und ließ die Bretter zersplittern, verletzte aber niemanden.

Auch Gewehrkugeln trafen das Schiff. Einem Soldaten wurde der Arm durchschossen, ein anderer bekam eine Kugel in den Fuß.

Und die ganze Zeit über feuerten die Kanonen der Hecla in Richtung Land. Robert lief hin und her, hob Pulverlasten hoch, übergab sie den Kanonenschützen, lief zurück, nahm Lasten entgegen, hob sie hoch, beeilte sich, kletterte, ließ eine Pulverkartusche fallen, bekam sie aber wieder zu fassen. Und auch dieses Mal sah niemand seinen Fehltritt.

Das Feuer vom Land kam immer noch. Kugeln und Granaten schlugen ein, die meisten ins Meer, aber einige trafen auch die drei englischen Schiffe. An Land brannten die Holzhäuser, die dem Wasser am nächsten waren. In dem Steinwall waren einige Löcher zu sehen, aber im Großen und Ganzen war die große Festung unversehrt.

Robert war mit einer weiteren Pulverkartusche auf dem Weg nach oben an Deck. Er blieb einen Moment an dem mittleren Deckshaus stehen und schaute zu der hinteren Backbordkanone hinüber. Aber war es der richtige Augenblick, um über das Deck zu stürmen, oder sollte er etwas warten? Er zögerte. Ein Oberschiffer hatte den Befehl an der Kanone, er wandte sich um und sah Roberts Zögern. Er machte eine befehlende Geste mit der Hand. Robert stürmte vorwärts.

In diesem Augenblick fiel eine Sprenggranate auf das Deck der Hecla nieder. Sie prallte zweimal gegen die Decksplanken, rollte gegen die Reling, prallte ab und blieb liegen. Die Zündschnur war angezündet, sie zischte, die Granate würde jeden Moment explodieren. Auf dem Deck befanden sich ungefähr dreißig Mann an den Kanonen, andere standen mit den Gewehren zum Land hin gerichtet da. Viele von ihnen schienen die Gefahr gar nicht zu bemerken.

Doch der Oberschiffer sah, was gleich geschehen würde. Innerhalb kürzester Zeit würde die Granate alle zerreißen, die aufrecht in der Nähe standen.

»Down, down!«, brüllte er.

Markus sah alles von der Kommandobrücke aus. Er verstand die englischen Wörter nicht, aber er verstand dennoch, was der Schiffer meinte. Die meisten warfen sich in Deckung, einige blieben wie versteinert stehen.

Da stürzte ein junger Mann zu der Granate hin. Er hob sie auf, schleppte die Last zur Reling und hievte sie über Bord. Alles geschah in ein paar Augenblicken.

Die Granate fiel und explodierte direkt über der Wasseroberfläche. Eine Wasserkaskade spritzte längs der Bordwand der Hecla hoch. Jemand schrie auf. Aber die Sprengkraft war durch das Wasser begrenzt worden. Die Seite des Schiffs hatte die Männer auf dem Deck geschützt. Die Bordwand war kaum beschädigt worden, zwei Männer hatten durch Splitter leichte Verletzungen erlitten.

Kapitän Hall hatte von der Kommandobrücke aus gesehen, was geschehen war. Jetzt eilte er hinunter zu dem jungen Mann, der die Besatzung gerettet hatte, dem zwanzigjährigen Marineaspiranten Charles Lucas. Er bedankte sich bei Lucas, gab ihm die Hand und salutierte dann. Lucas erwiderte den Gruß und stand in strammer Habachtstellung.

Und stehenden Fußes ernannte Kapitän Hall den jungen Lucas zum Feldwebel. Die Männer der Besatzung riefen Hurra. Aber gerade da zerschlug eine Kanonenkugel den Achtermastbaum und Holzsplitter wirbelten durch die Luft, woraufhin alle aufhörten, Hurra zu schreien und in den Kampf zurückkehrten.

Die Kanonen der Hecla waren glühend heiß vom schnellen Abfeuern. Sie wurden mit durchweichten Lappen und Streifen nassen Segeltuchs abgedeckt, aber das Kühlwasser verdampfte sofort. Das Feuer wurde fortgesetzt; noch hatte Kapitän Hall seine Munition nicht aufgebraucht. Er wollte einen anständigen Treffer auf die Festungsmauer erzielen. Am liebsten wollte er eine gehörige Bresche sehen, ein großes, gähnendes Loch in dem grauen Granit.

Bis zum späten Abend blieb die Hecla noch dort liegen. Aber jetzt waren die Granaten bald zu Ende. Kapitän Hall gab den Befehl zum Rückzug. Alle drei Schiffe glitten langsam zurück durch den Sund, durch den sie gekommen waren. Zwischen den Häusern an Land brannte es immer noch, aber die schwere Festung Bomarsund stand noch weitgehend unbeschädigt.

Das Meer lag wieder glatt und still, der Himmel war wolkenlos. Die Hecla ankerte zwischen zwei Inseln vor der westlichen Seite von Lumparland. Wachen wurden aufgestellt, und die Mannschaft und die Offiziere begaben sich zur Ruhe, die Offiziere in ihren Kabinen am Heck und die Seemänner in Reihen auf dem Boden auf dem Unterdeck. Aber nicht alle konnten schlafen. Robert gehörte zu denen, die wach waren und sahen, wie sich die Sonne zum Horizont neigte, bevor sie wieder stieg. Die Nacht gab es nicht. Es war ein Wunder. Er genoss die Stille. Und er lebte. Die allermeisten an Bord waren nach dem Kampf unverletzt.

Am Vormittag des 22. Juni lag die Hecla immer noch an ihrem Ankerplatz. An Bord sollte eine Andacht gehalten werden. Alle versammelten sich auf dem Achterdeck, ein älterer Steuermann fungierte als Schiffspfarrer. Er sprach ein Gebet, dann sangen alle einen Choral. Der Steuermann dankte Gott für den Sieg und stimmte einen weiteren Choral an. Er hatte einen kräftigen Bariton. Die Mannschaft fiel in den Gesang ein.

Für eine Weile breitete sich Schweigen aus, bevor die Mannschaft sich wieder rührte. Alle hatten Arbeiten und Befehlen nachzugehen. Das Schiff sollte bald ablegen. Aber dann wurde ein Befehl ausgerufen: Sammeln vorne bei den Kanonen.

Alle hörten zu und begriffen, was geschehen würde. Bei einer der Kanonen sollte eine Bestrafung vorgenommen werden. Vielleicht würde jemand die Tochter des Kanonenmeisters küssen dürfen, wie es hieß.

Der älteste und vertrauenswürdigste Oberschiffer stand an einer der Kanonen. Er hielt schon die neunschwänzige Peitsche in der Hand. Und nun wussten alle, was zu erwarten war. Einige der Zuschauer fühlten sich aufgeräumt, andere sahen verbissen aus.

Es war völlig still, als ein Oberleutnant auf einen der Männer der Besatzung zeigte, einen Burschen in den Dreißigern. Er sah ängstlich aus, aber er trat dennoch vor und hörte sich an, wessen er beschuldigt wurde: mehrmaliger Ungehorsam.

Der Mann wurde zu einer Kanone geführt. Man zog ihm das Hemd aus, beugte ihn nach vorne und fesselte ihm die Arme. Der nackte Rücken lag krumm über dem Kanonenrohr.

Dann hob der alte Oberschiffer die Peitsche und schlug zu. Der Bestrafte zuckte zusammen, aber man hörte keinen Laut aus seinem Mund. Der nächste Schlag, dasselbe Zucken, ein weiterer Schlag, und jetzt stöhnte der Mann auf. Die Schläge gingen weiter; die Besatzung zählte mit leisen, beinahe flüsternden Stimmen: zehn, elf, zwölf …

Bei zwanzig hörten die Schläge auf. Der Mann wurde befreit. Er schwankte, hielt sich aber auf den Beinen. Er bekam sein Hemd. Der Rücken blutete. Er wurde von einem Kameraden gestützt und stellte sich in die Reihe der Zuschauer.

Der Oberleutnant erhob wieder die Stimme. Alle verstummten. Er meinte, dass die Disziplin an Bord schlecht sei. Alle wüssten, was verlangt würde, aber dennoch seien es zu viele, die nicht ihr Bestes gäben.

Markus und Adler standen zwischen den Matrosen und hörten zu. Adler flüsterte Markus einige Male ins Ohr, Wörter, die vielleicht schwer zu verstehen waren.

Der Oberleutnant sprach weiter, Markus flüsterte: während des Kampfes … sich versteckt … ist zu meiner Kenntnis gekommen … mehrere in der Mannschaft … verzögert … Feigheit gezeigt …

Der Oberleutnant, der sehr grimmig aussah, zeigte auf einen der Seemänner. Er zeigte auf einen anderen Mann, dann zeigte er auf Robert, ging weiter zu anderen Männern. Seine Absicht war wohl nicht, den Angeklagten Strafen aufzuerlegen, sondern sie zu warnen.

Robert fühlte sich ungerecht behandelt. Er hatte ja alles getan, was er konnte, um das Pulver ans Ziel zu bringen. Warum behauptete der Oberleutnant, er habe gefaulenzt? Das musste ein Missverständnis sein. Robert hob die Hand, um etwas zu sagen. Es wurde still, aller Augen richteten sich auf ihn. Wagte er zu widersprechen, wusste er nicht, was gut für ihn war?

»Sir, I did my very best«, sagte er.

Der Offizier erstarrte, dann zeigte er mit der ganzen Hand auf Robert.

»Ten lashes«, rief er.

»Er bekommt zehn Schläge mit der Peitsche«, flüsterte Adler. »Er hätte den Mund nicht aufmachen sollen.«

Robert wurde von zwei kräftigen Kerlen zu der Kanone geführt. Zuerst sträubte er sich, sah aber ein, dass es sich nicht lohnte. Schnell wurde er von seinem Hemd befreit und mit dem Rücken nach oben an die Kanone gebunden.

Die Schläge kamen langsam, einer nach dem anderen. Die Mannschaft zählte leise, mit heiseren, flüsternden Stimmen, ein Chor von murmelnder Bosheit, Drohung und Hohn: eins … zwei … drei …

 

Markus erkannte Robert wieder. Das war ja der junge Mann, der ihn und Adler weggeschubst hatte, als sie beinahe einer Kanonenkugel im Weg gestanden hatten. Er flüsterte es Adler zu, der bestätigte: aber ja, es war derselbe Mann.

»Sei bloß still«, flüsterte Adler.

Die letzten Schläge wurden ausgeteilt. Robert stöhnte. Als die Peitsche seine Haut zum zehnten Mal aufriss, schrie er auf vor Schmerz. Der Rücken blutete, als er von der Kanone befreit wurde. Er stellte sich in die Reihe und jetzt sagte er nichts mehr.

An diesem Tag wurden noch mehr Bestrafungen ausgeteilt. Auch einer der Schiffsjungen wurde ausgepeitscht, mit einer besonderen Peitsche, die aus einem etwas weniger verletzenden Material gemacht war. Der Junge wurde vornübergebeugt mit heruntergezogener Hose über die Kanone gebunden. Die Schläge richteten sich gegen seinen entblößten Hintern. Er wurde nicht blutig geschlagen, aber wo die Schläge trafen, zeigten sich blaurote Streifen. Und unter den Seemännern gab es mehrere, die der Bestrafung mit einem zufriedenen, feixenden Gesichtsausdruck zusahen.

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