Das Erbe von Samara und New York

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Mein neues Land und auch deines

Carl wohnte in Quincy, an der Küste südlich von Boston. Er hatte ein Dachzimmer in einem Wohnblock, der der Schuhfabrik Brigman and Bull gehörte. Ein Teil der Stiefel, die hier hergestellt wurden, gingen nach Skandinavien. Carl arbeitete jeden Vormittag im Büro der Fabrik. Er war bei der Korrespondenz mit Käufern aus Schweden und Dänemark behilflich. Er verfügte über eine schöne Handschrift.

Carl stellte dem Bürovorsteher seine Schwester vor, fragte, ob es erlaubt sei, dass sie für eine kürzere Zeit bei ihm wohne.

Ja, dagegen war nichts einzuwenden. Die Schwester konnte vielleicht in der Fabrik helfen, sie benötigten Leute.

Hedvig bekam also sofort Arbeit. Sie verdiente einen Dollar und zehn Cent pro Tag, das Essen war billig. Sie konnte schon nach einer Woche etwas Geld zurücklegen.

Eines Sonntags nahm Carl Hedvig auf einen Spaziergang durch Quincy mit. Quincy war eine kleine aufblühende Stadt mit vielen neuen Häusern, gute zehn Kilometer von Boston entfernt. Ja, die Entfernung war ungefähr dieselbe wie die zwischen Råberga und Örebro.

Könnte man sagen, dass Örebro Schwedens Boston war?

»Meine liebe kleine Schwester«, antwortete Carl, »unser altes Örebro wirkt neben Boston wie ein jämmerliches Dorf.«

»Wie groß ist denn Boston?«

»Eine riesige Stadt. Da lebt eine halbe Million Menschen, und es heißt, dass die Hälfte von ihnen in anderen Ländern geboren worden sei.«

»Dann gehören wir zu dieser neuen Hälfte?«

»Das nehme ich an.«

»Gibt es viele Schweden unter den Zugereisten?«

»Ich habe eine ganze Reihe von Landsleuten getroffen.«

»Trotzdem warst ausgerechnet du derjenige, der in der Fabrik als schwedischer Briefschreiber eingestellt worden ist.«

»Das war zu gleichen Teilen Glück und Hartnäckigkeit. Ich habe überall nach Arbeit gefragt, und sie brauchten gerade so einen wie mich.«

»Aber du hast auch eine schöne Handschrift.«

»Genau wie du, wir kommen auf unsere Mutter.«

»Ja, Vater hat selten geschrieben.«

Carl wurde still. Er hätte gerne etwas über Vaters Krankheit und Tod erfahren, aber er wusste nicht richtig, was er sagen sollte. Hedvig hatte das Schweigen ihres Bruders richtig verstanden, sie erzählte, was sie wusste. Aber sie schämte sich dafür, dass sie nicht zu der Beerdigung gekommen war.

»Ich hätte da sein müssen«, sagte sie.

»Aber du hast es ja nicht gewusst.«

»Ich hätte mich auf dem Laufenden halten müssen, man kann es nicht auf andere schieben.«

Es wurde ein langer Spaziergang, es war kühl, aber der Boden war trotzdem trocken, und die Wege gut zu begehen. Sie kamen an einen Fluss, fanden einen Pfad, der am Ufer entlangführte. Carl wusste, dass vor ihnen eine Meeresbucht lag. Er wollte Hedvig gerne die kleinen Ruderboote, die dort lagen, zeigen, man konnte sie mieten, auf jeden Fall im Sommer.

Sie gingen weiter. Aber das Meer schien noch ziemlich weit entfernt zu sein. Sie gingen an hübschen Holzhäusern inmitten von Gärten vorbei, an schattigen Gehölzen mit Ahornbäumen, die rotgelb leuchteten. Es war drei Uhr, die Zeit wurde knapp. An einer Wegkreuzung stand ein Schild: Quincy Point, 3 miles.

»Noch fünf Kilometer bis zum Meer«, sagte Carl, »das schaffen wir heute nicht mehr.«

»Ich habe trotzdem viel von deinem neuen Land gesehen«, antwortete Hedvig.

»Auch von deinem neuen Land, nehme ich an?«

»Ich weiß es noch nicht.«

Hedvig dachte an Karl Gustaf. Sie hatte ihn in der letzten Zeit nicht besonders vermisst. Und sie hatte auch nicht geschrieben. Jetzt wollte sie es tun, gleich heute Abend. Sie hatte es immer wieder aufgeschoben, sie wusste nicht warum.

Als sie auf das Fabrikgelände zurückkamen, begann es schon dunkel zu werden. Sie aßen jeder ein Butterbrot und tranken etwas Tee, ehe sie sich hinlegten. Carl hatte sich auf dem Fußboden unter dem Fenster einen Schlafplatz hergerichtet. Hedvig hatte das Bett an der Wand bekommen. Sie hatten ein hellblaues Baumwolllaken an einer Leine quer durch den Raum gehängt.

Im Februar hatte Hedvig drei Monate in der Fabrik gearbeitet. Man hatte ihr angeboten, länger zu bleiben. Aber es war eine schwere Arbeit an einer Schneidemaschine. Hedvig würde lieber etwas im Haushalt arbeiten oder in einem Büro, wo sie schreiben und rechnen konnte, darin war sie tüchtig.

Sie schrieb ihrer Tante Clara in Montreal einen Brief. Gab es dort irgendeine Büroarbeit für sie?

Clara antwortete, dass Hedvig sicher eine Schreibarbeit finden könnte, aber hierfür benötigte man Englisch- und Französischkenntnisse.

Hedvig zögerte. Sie sprach ein wenig Englisch, aber Französisch? Sie kannte kein einziges Wort in dieser Sprache. Trotzdem entschloss sie sich zu fahren. Sie wollte einmal etwas andres ausprobieren.

Dann erhielt Hedvig einen Brief von Karl Gustaf. Er machte eine Schuhmacherlehre zuhause in Eskilstuna. Er schrieb, dass sein Bruder Alfred bei einem Schneider arbeite, Fredrik hatte in einer Tischlerei angefangen. Über Amerika schrieb er nichts.

Carl hatte gehofft, Hedvig die prachtvolle Statue von Columbus, die gerade vor der Kathedrale mitten in Bosten errichtet worden war, zeigen zu können. Dazu jedoch kamen sie nicht mehr. Hedvig fuhr in der Woche vor Ostern aus Quincy ab. Als sie in Montreal ankam, war es kalt, fast wie im Winter in Schweden.

Hedvig würde im Sommer achtzehn Jahre alt werden.

Ein sehr warmer Tag im Park

Clara Nilsdotter war 1880 nach Amerika gefahren. In Boston hatte sie Steven Clark kennengelernt, einen Bäcker aus Schottland, der zehn Jahre zuvor herübergekommen war. Steven war ganz vernarrt in Clara, sie zogen zusammen, reisten nach Montreal, wo Stevens Bruder Mitinhaber einer kleinen Bäckerei war. Sie hatten sich auf grobes Roggenbrot spezialisiert, verkauften an die Einwanderer, die aus England und Schottland gekommen waren. Die meisten Einwohner von Montreal waren Französisch sprechende Kanadier, die helles Brot bevorzugten.

Die Brüder Clark hielten nicht viel von fein gebackenem Weißbrot. Sie waren mit Roggenbrot und harter Arbeit aufgewachsen, sie sagten oft, dass sie Brot für Leute mit Zähnen im Mund backten. Es wurde zu einer Art geflügeltem Wort: Das Leben ist hart wie ein Laib Brot von Clarks.

Nach drei Jahren verließ Clara ihren Schotten. Er wollte Kinder, das wollte Clara nicht. Sie lieh sich Geld, machte eine eigene Bäckerei auf. Clara stellte einen Bäcker und einen Konditor ein, sie brachte ihnen bei, wie man schwedischen Kuchen backte, Apfeltorten und Erdbeergebäck. Claras Feinbäckerei konnte sich bald eines vermögenden Kundenkreises erfreuen. Unter den Kunden waren englische Bankiers und französische Ärzte. Das Geschäft lag an einem Park in der Nähe des St. Lawrence-Flusses. Im Erdgeschoss befand sich die Bäckerei neben einem kleinen Laden, in dem Clara auch manchmal selbst stand. Sie wohnte in der darüberliegenden Wohnung, in vier Räumen mit einer Küche.

Nach drei Jahren stellte Clara ein Mädchen als Verkäuferin für den Laden ein. Im Jahr darauf vermehrte Clara ihr Personal um einen weiteren Konditor und noch ein Mädchen, das sie als Verkäuferin und als Dienstmädchen für ihre Wohnung beschäftigte.

Im April 1893 kam Claras Nichte Hedvig Eriksson nach Montreal. Clara hatte sie ja gebeten zu kommen. Aber es war lange her, seit Clara diesen ermunternden Brief geschrieben hatte. Da hatte sie gerade ihr eigenes Geschäft eröffnet.

Was sie damals gemeint hatte, war, dass für denjenigen, der bereit war anzupacken, nichts unmöglich war. Nur das hatte sie sagen wollen.

Na ja, jetzt war Hedvig nun einmal in Montreal. Vielleicht könnte sie im Laden helfen?

»Natürlich will ich das«, antwortete Hedvig, »aber ich will mir auch eine richtige Arbeit suchen.

»Ist das denn keine richtige Arbeit, im Laden zu stehen?«

»Ja, das ist es schon, aber ich habe mir vorgenommen, mir etwas in einem Büro zu suchen.«

»Das schaffst du nicht, dort werden Sprachkenntnisse verlangt.«

»Ich will es trotzdem versuchen.«

Das fing nicht gut an. Hedvig fühlte sich unerwünscht. Sie half wirklich mit, putzte Claras Wohnung, wusch die Wäsche, verrichtete Botengänge. Das Dienstmädchen wurde hinunter in den Laden geschickt. Aber es schien, als ob Clara ihrer jungen Verwandten nicht traute. Hedvig verstand das nicht. Sie hatte ihre Tante nicht mehr gesehen, seitdem sie selbst fünf Jahre alt gewesen war. Sie waren sich natürlich nur einige wenige Male begegnet, aber Hedvig erinnerte sich an Clara als eine fröhliche und verspielte Person, die ganz und gar nicht so barsch und verschlossen wie Hedvigs Mutter Matilda war.

Jetzt jedoch hatte sie eine völlig andere Frau vor sich. Clara sprach nur, wenn sie Befehle erteilte, fragte nie danach, wie es der Nichte ging.

Hedvig wohnte in einer kleinen auf den Hof hinausgehenden Kammer neben der Bäckerei. Im Stockwerk darüber gab es ein großes helles Gästezimmer mit gemachtem Bett und herausgelegten Handtüchern. Dieses Gästezimmer wurde nie benutzt. Hedvig betrachtete das als eine Art Markierung: Sie war nicht der Gast ihrer Tante.

Jede Woche nahm sich Hedvig die Zeitungen vor, buchstabierte sich durch die Stellenangebote. Sie war auch bei einer Arbeitsvermittlung gewesen und hatte gefragt. Ihre schlechten Sprachkenntnisse waren wirklich ein Hindernis. Sie erzählte es Clara nicht, sie antwortete ausweichend. Aber Clara verstand es auch so, ihre Ungeduld wuchs, sie gab Hedvig zu verstehen, dass ihre Zeit bald abgelaufen war.

Es war Anfang Juni, an einem Sonntag. Hedvig hatte die Bäckerei und den Laden gefegt. Die Tante war nicht zuhause, sie würde später am Nachmittag zurückkommen.

 

Hedvig war mit dem Fegen fertig geworden. Sie hatte noch einen Fleck auf dem Boden neben der Hintertür der Bäckerei entdeckt, vielleicht verschüttete Sahne, die angetrocknet war. Sie kratzte und rieb, war nicht zufrieden, fand ein Messer und kratzte weiter.

Sie schwitzte, es war warm, mehr als fünfundzwanzig Grad. Sie kniete auf dem Boden und bearbeitete den Fleck.

Dann machte sie eine Pause. In dem Schrank, in dem Marzipan und Butter verwahrt wurden, fand sie eine Flasche Erdbeersaft und drei nicht ganze frische Plunderstücke. Hedvig vermischte etwas Saft mit Wasser und aß das erste Plunderstück. Sie saß barfuß mit baumelnden Beinen auf der Kante des Knetbrettes. Sie biss in das zweite Plunderstück. Da wurde leise die Türe geöffnet. Hedvig bemerkte es nicht. Sie hatte den Kopf nach hinten gebeugt und ließ die letzten Safttropfen aus dem Glas in den Mund fließen. Hedvig hatte nicht gesehen, dass Clara in den Raum gekommen war.

»Du bedienst dich«, sagte Clara.

Hedvig zuckte zusammen, sprang schnell vom Tisch herunter. Sie trocknete sich den Mund ab.

»Ich habe mir ein Plunderstück genommen«, sagte sie.

»Du hast dir wohl ein paar Plunderstücke genommen, oder?«

»Ja, es waren zwei.«

»Und dann das da, das macht zusammen drei.«

Hedvig nickte, sie schämte sich etwas. Aber nicht deshalb, weil sie die Plunderstücke genommen hatte, sondern weil sie überrascht, ertappt und zurechtgewiesen worden war.

Clara verließ die Backstube, ohne noch ein weiteres Wort zu sagen. Hedvig stand noch eine Weile da und überlegte, ehe sie den Entschluss fasste. Eigentlich hatte sie ihn schon gefasst. Nun blieb ihr nur noch eines übrig.

Sie packte ihren Koffer, zog den Mantel an, dann ging sie hinauf in Claras Wohnung, klopfte leicht an die Tür, wartete jedoch nicht, bis Clara sie hereinrief.

»Vielen Dank für alles, ich gehe jetzt«, sagte Hedvig.

Clara schwieg, sie sah nicht erstaunt aus; nur das, was sie schon hatte kommen sehen, kam etwas plötzlich.

»Vielleicht melde ich mich einmal«, sagte Hedvig und streckte ihr zum Abschied die Hand hin.

Clara ergriff die Hand. Hedvig drückte Clara kurz die Hand, ließ sie jedoch sofort wieder los, drehte sich um und ging zur Türe hinaus.

Als sie auf die Straße hinaustrat, schlug ihr die Sommerhitze entgegen. Sie ging schnell mit dem Koffer in der Hand die zwei Häuserblocks bis zum Park mit der Reiterstatue hinunter. Zuerst stellte sie den Koffer ab, dann zog sie den dicken Mantel aus.

Hedvig wohnte im Hotel. Für die ersten beiden Nächte blieb sie in einer kleinen Pension am Fluss, dann zog sie um in eine Herberge, die die katholischen Schwestern des Monklandklosters betrieben. Sie hatte von ihrer Arbeit in der Schuhfabrik noch etwas Geld übrig. Jetzt konnte sie ihre gesamte Zeit darauf verwenden, Arbeit zu suchen. Aber sie sah bald ein, dass niemand sie als Bürogehilfin haben wollte. Sie stellte sich darauf ein, alles, was sich anbot, nehmen zu müssen. Die Tage vergingen, nach zwei Wochen wohnte sie immer noch in der Herberge. Ihre Tante hatte sie nicht mehr gesehen.

Jeden Tag las Hedvig die Zeitung Montreal Gazette. Sie kaufte sie an der Windsorstation oder an einem Stand neben einem Bankpalast in der St. James Street. Dann setzte sie sich auf eine Parkbank und las. Ein paar Mal gönnte sie sich auch eine Tasse Kaffee in der Konditorei am Park hinter dem Rathaus, wo man auch im Freien sitzen konnte.

Eines Sonntagnachmittags saß sie allein an einem Kaffeetisch in der Nähe des länglichen kleinen Teichs, der an die Konditorei angrenzte. Der Tisch stand direkt neben dem Spazierweg, der in einem Bogen zum Teich hinunterführte. Einige Paare gingen vorbei. Hedvig hatte sich in ihre Zeitung vertieft.

Dann blickte sie auf, ein Mann mittleren Alters und eine junge Frau waren am Teich stehen geblieben, sie betrachteten die Seerosen, die auf der Wasseroberfläche schaukelten. Vermutlich gab es in dem Teich auch Fische, denn es plätscherte ein wenig. Der Mann sagte etwas zu der Frau, sie antwortete und lächelte ihm zu. Hedvig vermutete, dass es sich um Vater und Tochter handelte.

Sie gingen weiter und ließen sich an einem Tisch ganz in Hedvigs Nähe nieder. Der Mann nickte Hedvig freundlich zu, nahm den Hut ab und legte ihn auf den Tisch.

Er sagte wieder etwas auf Französisch. Hatte er Hedvig angesprochen? Es war ihr so vorgekommen. Sie hatte es nicht verstanden, versuchte, eine fragende Miene aufzusetzen, runzelte leicht die Stirn.

»It’s a really hot day«, sagte der Mann.

Jetzt verstand Hedvig ihn, sie lächelte, nickte zustimmend, ja sicher war es heiß.

Jetzt lächelte auch die junge Frau Hedvig zu. Sie war in Hedvigs Alter, aber groß und schlank.

»I wish I were a fish«, sagte die Frau und lachte.

»I cannot swim so I prefer drinking water from my glass«, antwortete Hedvig.

Das Mädchen lachte laut auf; sie fand das, was Hedvig gesagt hatte, offenbar komisch. Auch ihr Vater lachte.

»Where are you from?«, fragte der Vater.

Hedvig vermutete, dass ihre Aussprache schlecht war, aber sie war froh, dass die beiden sie verstanden hatten.

»From Sweden«, erwiderte Hedvig.

»Really«, sagte der Mann, »that is interesting.«

Er erhob sich und kam an Hedvigs Tisch. Er fragte, ob sie sich nicht zu ihnen setzen wolle, vielleicht durfte er sie zu einem Stück Kuchen einladen, hier gab es eine vorzügliche Marzipantorte.

Das wusste Hedvig; ihre eigene Tante lieferte diese vorzügliche Torte, aber das sagte sie nicht. Sie nahm die Einladung an und stellte sich vor.

Der Name des Mannes war Marc Lorraine, seine Tochter hieß Laura. Er war Professor für Geschichte am McGill College, der größten Universität der Stadt. Hedvig sagte nicht, dass sie nur vier Jahre in eine kleine Schule auf dem Land gegangen war.

Sie saßen lange dort, amüsierten sich, es gab plötzlich so viel zu erzählen.

Es war der 27. Juli 1893. Hedvig sollte fast zwei Jahre als Hausmädchen bei Professor Lorraine verbringen. Hedvig freundete sich auch mit Laura an. Die Familie Lorraine war zweisprachig. Als der Professor merkte, wie leicht Hedvig das Erlernen von Sprachen fiel, begann er, mit ihr die englische und die französische Aussprache zu üben; er stellte ihr auch kleine Schreibaufgaben. In diesen zwei Jahren lernte Hedvig beide Sprachen zu sprechen und zu schreiben.

Jede Woche schrieb sie etwas in das Tagebuch, das ihr Karl Gustaf geschenkt hatte, sie schrieb mit ganz kleiner Schrift, damit der Platz lange reichte.

16. Juli 1893

Kleines Zimmer mit schöner Aussicht. Der Fluss, grüne Bäume, Wolken im Westen. Der Großstadtlärm verschwindet nie. Gute Menschen mit eigener Bibliothek in der Wohnung, zugänglich auch für mich. Jonathan Swift, Jane Austen, Daniel Defoe sind neue Freunde.

27. August 1893

Brief von Karl Gustaf. Ob er jemals kommt? Karte von Fredrik mit kleinem Vers. Wie ungleich die Brüder sind.

6. Oktober 1893

An KG geschrieben, um Antwort gebeten. Will er überhaupt kommen? Das Gespenst von Canterville von O. Wilde gelesen.

12. Dezember 1893

Schnee und Eis auf den Straßen. Von meinem Fenster aus kann ich sehen, dass der Himmel von drei Kirchtürmen geteilt wird, der Berg Mont Royal wie ein runder Hut darunter, die Flocken sind wie Puderzucker, der Fluss ist wie flüssiger Sirup, Eisschollen in der Nähe des Ufers.

7. Januar 1894

Ich lese David Copperfield von Ch. Dickens. Habe gerade Oliver Twist ausgelesen. In der Bibliothek der Familie gibt es eine Reihe von Büchern vom selben Verfasser.

Der Vogel ist frei, zieht vorbei mit seinem Schrei

In Marc Lorraines Arbeitszimmer gab es einen Kamin. Auf der einen Seite dieses Kamins stand ein langer Tisch, auf dem Bücher aufgestapelt waren, auf der anderen Seite befanden sich zwei kleinere Tische mit Bergen von Tageszeitungen. Einige waren aufgeschlagen, andere hatten eingeknickte oder ausgerissene Seiten, angestrichene Spalten. Der Professor las ununterbrochen, wenn er vor dem Kaminfeuer saß, wenn er am Fenster stand und rauchte, wenn er in der großen Wohnung herumging, während er aß.

Er las und plauderte mit demjenigen, der gerade in der Nähe war. Oft war es Hedvig, die durch das Zimmer ging oder saubermachte. Zuerst hatte sie nicht geantwortet, da sie glaubte, dass der Professor laut dachte. Dann jedoch merkte sie, dass er eine Antwort erwartete, irgendeine Antwort, am liebsten eine durchdachte oder originelle.

Wie sollte Hedvig, die nur vier Jahre in eine Dorfschule zuhause in Råberga gegangen war, dem gelehrten Professor antworten können?

Eines Tages fragte er sie, was sie über die Folgen des nordamerikanischen Bürgerkrieges dachte. Sollte man von denjenigen, die Stimmrecht hatten, verlangen, dass sie lesen konnten?

»Das sollte man nicht verlangen«, antwortete Hedvig.

»Und warum nicht?«

»Derjenige, der Interesse hat, kann sich auf viele Arten Kenntnisse verschaffen, Bücher sind nicht alles.«

»Nein, sicher nicht, aber in unserer Zeit werden viele Kenntnisse in schriftlicher Form übermittelt, derjenige, der nicht liest, versäumt vielleicht etwas, was er wissen sollte, um sein Stimmrecht richtig wahrnehmen zu können.«

»In diesem Falle sollten die des Lesens Unkundigen auch das Recht haben, Schulen zu verlangen, in denen sie lesen lernen können.«

»Richtig, dieses Recht folgt daraus.«

»Also ist die Freiheit mehr wert als zersprengte Fesseln.«

»Sie reden ja wie ein Agitator, Hedvig.«

»Ich glaube, ich rede wie jeder, der nachgedacht hat.«

Der Professor widmete sich wieder seiner Zeitung oder dem Buch, das unter der Zeitung auf dem Schreibtisch lag. Hedvig trug den übervollen Aschenbecher hinaus.

Sie redeten meist englisch miteinander. Unvermutet konnte der Professor jedoch zum Französischen übergehen, um Hedvig zu prüfen. Ihr Französisch war schlechter als ihr Englisch, die Gespräche kamen ins Stocken, sie gingen wieder zum Englischen über.

Einmal machte Hedvig dasselbe. Sie wechselte mitten in einem Satz vom Englischen zum Schwedischen über.

Der Professor gab zu, dass Hedvig im Vorteil war, sie konnte drei Sprachen, er jedoch konnte nur zwei.

Er bat Hedvig um eine Einführung in die Grundzüge der schwedischen Sprache, kannte sie sich mit der Grammatik aus?

Nein, nicht sehr.

Er bestellte ein schwedisch-englisches Wörterbuch, gab Hedvig eine englische Grammatik. Sie lernte die Wortklassen und Satzteile, schlug im Wörterbuch nach, übersetzte Termini und Ausdrücke.

Sie erfanden eine Art Nonsenssprache, ein Dreisprachenspiel, hörten einander ab, wechselten die Sprache mitten in einem Satz, leierten Reihen von Reimen und Synonymen herunter.

Hedvig konnte mit einem Staubtuch durch das Zimmer gehen. Sie schlich auf Zehenspitzen, um den Professor, der mit einem Buch dort saß, nicht zu stören. Da murmelte er plötzlich:

»Today is too late to remember september.«

Hedvig blieb stehen, überlegte einen Augenblick, ehe sie antwortete.

»I morgon är hösten och trösten din vän.«

Der Professor sprach weiter, ohne von seinem Buch aufzusehen:

»Le fleuve comme la vie, la sortie comme un cri.«

»Även fågeln är fri, drar forbi med sitt skri.«

»Årrdet blir vatten på bårrdet till natten.«

Hedvig lachte. Sie hatte schon versucht, die schwedischen Vokale des Professors zu berichtigen, sie klangen genauso falsch wie ihre französischen Vokale. Sie lachten übereinander.

Aber Hedvig merkte, wie leicht ihr die Wörter fielen. Sie flogen ihr einfach zu, Wörter, Reime und Verse. Es war mit den Wörtern wie mit den Bildern, wenn sie kurz vor dem Einschlafen war. Sie brauchte nicht nachzudenken.

Karl Gustaf schrieb selten. Hedvig glaubte, dass es daran lag, dass er nicht gerne schrieb, im Gegensatz zu ihr, die bei jeder Gelegenheit gerne etwas zu Papier brachte.

Karl Gustaf hatte Amerika ein einziges Mal erwähnt. Er hatte sich den Gedanken, zu fahren, nicht aus dem Kopf geschlagen, aber es war ganz deutlich zu merken, dass er es nicht eilig hatte.

Hedvig hatte sich vorgenommen, nicht zu drängen. Sie hatte aufgehört, nach seinen Reiseplänen zu fragen, stattdessen berichtete sie, wie gut sie es hatte, wie hervorragend alles für sie gelaufen war. Das, was sie schrieb, war ja die Wahrheit. So gut wie bei der Familie Lorraine war es ihr noch nie in ihrem Leben ergangen.

 

Im Sommer 1895 war sie zwanzig Jahre alt geworden. Sie dachte so langsam daran, sich eine andere Arbeit zu suchen. Jetzt konnte sie die Sprachen, und sie schrieb auch mühelos. Sie müsste jetzt eigentlich eine Stelle in einem Büro finden können.

Im August schrieb Carl aus Boston. Er wollte sich verändern. Ein Freund in dem Büro der Schuhfabrik hatte eine Schwester, die bei einer Familie in New York angestellt war. Die Hausfrau suchte einen Gehilfen, der in der Schreibarbeit bewandert war. Sie bevorzugte Schweden, da sie schon einige tüchtige junge Leute aus Schweden in ihrem Haushalt beschäftigt hatte. Carl war von der Schwester seines Freundes empfohlen worden. Er konnte diese Arbeit bekommen.

Im September sollte er dort antreten. Jetzt war er dabei zu packen. In seinem Brief gab er die neue Adresse an: Die Straße hieß 5th Avenue. Hedvig fragte Professor Lorraine. Er erklärte ihr, dass das die Gegend war, in der die feinen New Yorker wohnten, in der Nähe des Central Parks.

»Wollen Sie dort hinziehen, Hedvig?«

»Ja, nicht direkt, aber ich denke so langsam daran, mich um eine Stelle in einem Büro zu bewerben.«

»Ich kann das verstehen. Sie wollen im Leben weiterkommen.«

»Ja, das ist so, aber besser als ich es hier gehabt habe, werde ich es niemals wieder treffen, das möchte ich Ihnen doch sagen.«

»Es ist ein besonderes Erlebnis gewesen, Sie im Hause gehabt zu haben, Hedvig, aber es gibt auch da draußen eine Welt, und die gehört Ihnen.«

Sie blieb noch zwei Monate dort. Dann kam wieder ein Brief von Carl. Hedvig könne vorübergehend eine Arbeit bei der Familie in New York erhalten. Sie hießen Graham, die Hausfrau brauchte ein Serviermädchen.

Carl schlug vor, dass Hedvig kommen solle. Sie könne sich in der Zeit, in der sie für Mrs. Graham arbeite, nach einer Büroarbeit umsehen.

Hedvig entschloss sich. In der letzten Novemberwoche verließ sie den Professor und die wunderbare Bibliothek in Montreal. Es war kalt geworden, aber Hedvig reiste in wärmere Gefilde.

Silvester 1895 servierte Hedvig Likör in der Bibliothek der Familie Graham. Es gab weniger Bücher als in Montreal, aber mehr Goldschnitte. An den Fenstern hingen schwere Samtvorhänge. Draußen lag der große Central Park mit seinen kleinen Seen und Hügeln und den gewundenen Spazierwegen.

Spät in der Neujahrsnacht glitzerten die Lichter zwischen den eisbedeckten Fichten des Parks.

Hedvig trank in der Küche zusammen mit den anderen Bediensteten ein Glas Wein. Die Familie Graham hatte sieben Angestellte. Hedvig war die Jüngste. An diesem Abend trug sie ein schwarzes Kleid und eine weiße Schürze. Auf dem Kopf hatte sie ein kunstvoll geklöppeltes Spitzenhäubchen.