Das Erbe von Samara und New York

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Hedvig, die Mutter meines Vaters

Man hat nur ein einziges Leben hier auf Erden

Die Fackel der Göttin leuchtet rot

Carl war mit dem Zug von Boston nach New York gefahren, um Hedvig abzuholen. Er hatte geschrieben und gesagt, er würde am Kai warten, sie brauche sich keine Sorgen zu machen.

Er war früh am Morgen eingetroffen, fragte sich nach Süd-Manhattan durch, suchte die Stelle auf, an der die Fähre von Ellis Island anlegen sollte. Er musste lange warten. Er konnte das Riesenschiff schon erkennen, mit dem Hedvig aus England gekommen war, es lag jetzt an einem Kai weit draußen im Hudson River. Aber die Passagiere waren gezwungen, zuerst durch die Kontrolle auf Ellis Island zu gehen. Carl wusste ja, dass das lange dauern würde. Er war selbst vor einigen Jahren auf diesem Weg gekommen. Damals allerdings hatte die Ankunftshalle in Castle Garden auf Manhattan gelegen. Die Station auf der Insel in der Hafeneinfahrt war neu eröffnet worden. Carl konnte das Gedränge dort draußen ahnen. Er hatte mehrere Ozeandampfer im Hafen gesehen, sie waren aus Europa gekommen, aus Frankreich und Italien.

Irgendwo da draußen auf der kleinen Insel war Hedvig.

Sie kam glimpflich davon. Sie war jung und gesund, und sie hatte etwas Geld mitgebracht. Sie erhielt ein Papier mit einem Stempel. Sie war nach Amerika hineingelassen worden. Bei anderen dauerte es länger. Einige wurden auf die Seite geführt, ein alter Mann weinte vor Verzweiflung.

Hedvig fand eines der Mädchen, mit denen sie vor der Abreise in Göteborg das Zimmer geteilt hatte. Es war Susanna aus Molkom in Värmland. Sie war unterwegs zu ihrem Onkel, der nach Minnesota ausgewandert war.

Susanna drückte Hedvigs Arm, als sie nebeneinander in der Schlange vor der Fähre standen. Es war am besten, wenn sie zusammen blieben; es waren ja so viele Leute hier draußen. Susanna hatte ihre Handtasche dicht an sich gedrückt.

Sie fragte Hedvig, ob diese glaube, dass es hier Diebe gebe.

»Das kann man nicht wissen«, sagte Hedvig, »richtig sicher sein kann man nie.«

»Man versteht nicht, was die Leute sagen«, sagte Susanna.

Hedvig nickte, es kam ihr so vor, als ob sämtliche Sprachen der Welt um sie herum gesprochen wurden.

»Hast du die da gesehen«, flüsterte Susanna, »die sehen aus wie Zigeuner oder Türken, sie haben ganz dunkle Haut.«

»Vielleicht Wallonen aus Eskilstuna«, sagte Hedvig.

Susanna verstand nicht, was Hedvig damit meinte. Sie blickte sich um, aber niemand sah zurück, alle schienen genug mit sich selbst beschäftigt zu sein. Der eine hatte kleine Kinder dabei, ein anderer kümmerte sich um seine alte Großmutter, eine junge Mutter trug ein kleines Mädchen zu einem Busch in der Nähe.

»Das müsste ich jetzt auch einmal«, flüsterte Susanna.

Hedvig versprach, auf die Koffer aufzupassen. Susanna schlich sich zu dem kleinen Gebüsch, verschwand hinter den Blättern. Nachdem sie zurückgekommen war, kam Hedvig an die Reihe.

Dort, wo Hedvig sich hingehockt hatte, roch der Boden. In der Schlange vor der Anlegestelle der Fähre standen mehrere hundert Menschen. Sie hatten schon stundenlang gewartet, alle waren mindestens einmal in die Büsche verschwunden, die Frauen in der Nähe, die Männer weiter hinten. Der Boden zwischen all den kleinen struppigen Ahornbäumen und Erlen war mit Urin durchtränkt. Hedvig genierte sich etwas, doch niemand nahm Notiz von ihr, all die müden Reisenden hatten dasselbe Problem.

Die Schlange stand fast still. Hedvig und Susanna hatten sich auf ihre Koffer gesetzt, sie rutschten einen halben Meter auf dem Kies vor, setzten sich wieder, rutschten weiter. Abends um halb sechs waren sie vorne an der Fähre angelangt, um sieben Uhr ging es dann endlich los. Als sie draußen auf dem Fluss waren, sahen sie das Schiff, mit dem sie gekommen waren, an einem Kai weit entfernt vor einigen ungeheuer hohen Häusern liegen. Als sie rechts über das Wasser blickten, sahen sie eine Brücke, die größte, die sie jemals gesehen hatten, sie schien an bogenförmigen Seilen zu hängen, hoch über dem grauen Wasser, auf dem die Schlepper Lastkähne und Dampfschiffe zogen.

Am eindrucksvollsten jedoch war die Riesenstatue, die Freiheitsgöttin, draußen im Hafen hinter der Insel, von der sie kamen. Sie hatten zuhause in Schweden über sie gelesen und Bilder von ihr gesehen. Sie war so groß, wie sie sie sich vorgestellt hatten, doch viel schöner. Die Strahlen der untergehenden Sonne verliehen der Göttin einen goldenen Glanz, um ihren Kopf herum leuchtete es, die Fackel glänzte rot.

Hedvig und Susanna standen auf dem hinteren Deck der Fähre. Es wehte ein kühler Wind, aber sie achteten nicht darauf, all das Neue war so groß und überwältigend. Sie hatten in ihren Briefen nicht übertrieben, die Verwandten, die vor ihnen hierhergefahren waren.

Carl hatte die Fähre den ganzen Tag über hin und her fahren sehen. Er hatte den Kai verlassen, Kaffee in einer Imbissstube getrunken, und er hatte überlegt, wie er seine Schwester am besten würde finden können. Wie sollte er sie in dem Gedränge erkennen, sie war ja so klein.

Da kam ihm eine gute Idee. Er ging in die Imbissstube zurück, erhielt gegen Bezahlung ein großes Stück weißer Pappe. Er fragte nach Malerfarbe, aber da es die nicht gab, begnügte er sich mit etwas Sojasauce, die er ebenfalls kaufen konnte. Na ja, zwanzig Cent, aber er stand ja nicht ganz ohne Geld da.

Carl malte mit dem Zeigefinger, den er in die Sojasauce tunkte. Er schrieb den Namen seiner Schwester mit großen Buchstaben. Aber er hatte den Platz schlecht berechnet, der letzte Buchstabe passte nicht mehr auf das Pappstück. Jetzt stand dort: HEDVI mit dunkelbraunen zerfließenden Buchstaben.

Carl wartete jetzt etwas oberhalb der Stelle, an der die Landungsbrücke der Fähre ausgefahren wurde. Er war auf eine längliche Mauer geklettert und konnte die Menschenmenge von oben sehen.

Die Fähre legte wieder an. Als Hedvig und Susanna an Land stiegen, wurden sie schnell von dem Menschenmeer verschluckt. Sie wurden nach vorne gestoßen, mitgezogen, konnten nicht selbst die Richtung bestimmen, in die sie gehen wollten.

Carl stand mit seinem Plakat da. Die Sojasauce tropfte ihm auf Stirn und Nase. Dort stand er braun bekleckert und groß auf der Mauer und hielt das Plakat in die Höhe. Aber er konnte Hedvig nirgendwo entdecken.

Susanna ging vor. Hedvig trug in der einen Hand den Koffer, in der anderen ihre Handtasche. Sie hielt sich dicht hinter Susanna, wollte sie nicht aus den Augen verlieren.

Da drehte sich Susanna um und lachte Hedvig zu, stellte ihren Koffer auf den Boden.

»Das da muss dein Bruder sein«, rief sie.

Hedvig sah Carl nun auch. Sie winkte, rief, er konnte sie bei all dem Lärm nicht hören, dann jedoch erblickte er sie ebenfalls.

Es dauerte eine Weile, bis sie zueinander fanden. Sie nahmen sich bei der Hand, lächelten lange, hielten einander fest, wollten nicht loslassen.

Susanna betrachtete sie etwas erstaunt, dann begann sie zu lachen und gab Carl einen kleinen Schlag auf die Wange.

»Du hast einen netten Bruder«, sagte sie zu Hedvig. »Und du, Carl, hast eine nette Schwester.«

Hedvig sagte nichts, sie wollte die Hand ihres Bruders gar nicht loslassen.

»Du bist ganz schön gewachsen«, sagte sie schließlich.

»Du bist auch groß geworden«, antwortete Carl.

»Aber jetzt sind wir jedenfalls in Amerika«, sagte Hedvig.

»Ja, hier ist alles groß.«

An diesem Abend übernachteten sie bei Maartens, einer kleinen Herberge im unteren Teil von Manhattan. Lower East Side, hatte Carl gesagt. Hier hatte er selbst ein paar Tage gewohnt, als er nach New York gekommen war. Das musste gut genug sein, die Mädchen waren wohl nicht sehr verwöhnt? Nein, sie waren es gewohnt, einfach zu übernachten. Aber sie waren so viele Leute nicht gewöhnt.

Carl schlief in einem Männer-Schlafsaal, die Mädchen teilten sich mit zehn anderen Frauen, die auch gerade aus Europa gekommen waren, einen Raum. An diesem Abend konnte man hier viele Sprachen hören, es wurde auf Schwedisch und Dänisch gute Nacht gemurmelt, eine junge Mutter summte ein polnisches Wiegenlied für ihren Säugling, ein Mädchen mit langen Haaren sprach ein Abendgebet auf Italienisch.

Als Hedvig die Augen geschlossen hatte und den Schlaf erwartete, sah sie ziemlich einförmige Bilder vorbeiziehen: das schaukelnde Meer, Wolken und fliegende Möwen, nichts Besonderes. Meist schaukelte es.

Mitten in der Nacht wachte sie davon auf, dass das kleine polnische Mädchen weinte. Die Mutter nahm das Kind in den Arm und trug es zwischen Koffern und Körben auf und ab.

Das Fenster war angelehnt. Irgendwo da draußen bellte ein Hund. Im Hafen heulte eine Schiffssirene. Dann begann das Fenster gegen die Wand zu schlagen, es war nicht festgehakt. Da niemand sonst etwas dagegen unternahm, stand Hedvig auf. Sie blickte hinaus, sah auf eine schmale Gasse hinunter. Dort unten lag jemand vor einer Tür, es war ein kleiner Junge. Dann erblickte sie noch einen Jungen. Die beiden lagen zusammengerollt dicht nebeneinander.

Als Hedvig wieder zurück zu ihrem Bett schlich, schlug eine Uhr in der Ferne viermal.

Wenn es Gott gäbe

Carl und Hedvig hatten beschlossen, ein paar Tage in New York zu bleiben. Susanna war zu ihrem Onkel nach Minnesota gefahren, Hedvig und sie hatten einander versprochen zu schreiben; sie waren wirklich gute Freundinnen geworden.

Es war die letzte Woche im Oktober 1892, das Wetter war mild und schön. Die Bäume in den Parks trugen ihr Laub noch, es fing an sich gelb zu färben. Es war wie im Frühherbst zuhause. Man merkte, dass New York viel weiter südlich als Eskilstuna lag.

 

Sie tranken Kaffee in der Imbissstube neben der Herberge. In diesen Tagen tranken sie viel Kaffee, dazu gab es das ein oder andere Butterbrot. Am zweiten Tag hatten sie gebratenes Pökelfleisch und Kartoffelbrei zu Mittag gegessen. So etwas aß man zuhause im Winter, hier gab es jeden Tag Fleisch und dazu schwarzen Kaffee.

Hedvig vermisste Milch, Käse und Dickmilch. Ob man das hier wohl bekommen konnte?

Carl war sich nicht sicher, aber soweit er wusste, konnte man in New York Waren aus aller Welt kaufen; wenn man nur das richtige Geschäft fand, konnte man alle möglichen Esswaren bekommen.

Hedvig benötigte auch Nadeln und Nähgarn. Sie musste ein Kurzwarengeschäft und einen Milchladen finden, am liebsten einen schwedischen.

Carl versprach Hedvig, mit ihr auf die Suche zu gehen. Es war zwei Uhr nachmittags, die Sonne schien, das Wetter war gut geeignet, um ein paar Stunden auf den Straßen herumzuschlendern, die großen Häuser zu betrachten, Schaufenster anzusehen. Sie hatten vor, am Abend darauf mit dem Zug nach Boston zu fahren.

»Merk dir den Namen der Herberge«, sagte Carl, als sie aufbrachen, »und die Adresse.«

»Maartens mit langem a, heißt es so?«, fragte Hedvig.

»Ich glaube, dass man es so ausspricht«, sagte Carl, »der Herbergsbetreiber kommt offenbar aus Holland.«

»Maartens in der Baxter Street«, sagte Hedvig.

»Baxter mit ä am Anfang«, sagte Carl, »man spricht hier das a wie unser ä aus.«

»Maartens aber nicht«, sagte Hedvig.

»Er ist Holländer«, sagte Carl.

»Und wir sind Schweden.«

»Wir werden Amerikaner, wenn wir wollen, aber das dauert noch etwas.«

»Ich lasse es wohl auch noch eine Weile dauern.«

Hedvig hatte Geld, ihren Pass, Stifte und Schreibpapier mitgenommen. Sie hatte die Sachen in ihre Handtasche gesteckt. Ehe sie aufgebrochen waren, hatten sie die polnische Mutter gebeten, auf Hedvigs großen Koffer aufzupassen. Sie würde doch wohl in der Herberge bleiben? Hatte sie sie verstanden?

Ja, vielleicht, obwohl sie kein Englisch sprach.

Carl versuchte es mit der Zeichensprache, er zeigte auf den Koffer, auf sie, drei Stunden, drei Finger, ausgehen, auf seine Füße zeigen, er machte ein paar kleine Schritte, du bleibst hier, der Koffer, okay?

Sie nickte.

»Sie versteht uns«, sagte Carl, »understand?«

»Bitte, bitte« – auf Deutsch.

»Was meinst du, what did you say?«

»Understand, ja bitte.«

»Sie versteht es«, sagte Carl, »sie passt auf unseren Koffer auf.«

Sie sagten der polnischen Frau auf Schwedisch und auf Englisch auf Wiedersehen. Als sie den Raum verließen, saß sie mit ihrem kleinen Kind auf dem Bett.

»Sie ist offenbar mit dem kleinen Mädchen allein hier«, sagte Carl, als sie draußen auf der Straße waren.

Hedvig antwortete nicht, aber sie hatte ebenfalls schon darüber nachgedacht, und sie glaubte, dass es sich sicher mit der jungen polnischen Mutter so verhielt. Es waren nur sie und ihr Baby. Und dann Amerika.

Sie gingen eine Straße entlang, die Mulberry Street hieß, sie kamen an einer Polizeiwache vorbei, begegneten kleinen Jungen, die Zeitungen feilboten, die sie in Bündeln unter dem Arm trugen. Sie blieben neben Imbissständen stehen, an denen warme und kalte Speisen verkauft wurden, sie atmeten den Duft ein, der von gebratenen spanischen Würsten aufstieg, von würzigem Käse, gekochtem Fisch, frischgebackenem Brot, überreifen Birnen, Pfefferkuchen, russischen Piroggen, italienischem Schinken, erdigen Möhren, geputzten Kartoffeln.

Es kostete nichts, den Duft von all den guten Dingen einzuatmen, die Esswaren kosteten natürlich Geld. Hier gab es genug zu kaufen, und es gab genug zerlumpte Leute, die zu hungern schienen. Hedvig fielen besonders die vielen schlecht gekleideten kleinen Kinder auf. Sie waren in Lumpen gehüllt, viele liefen barfuß, andere trugen Schuhe mit Riesenlöchern. Sie hatten schmutzige grindige Gesichter, ihre Augen trieften. So arme Kinder hatte Hedvig zuhause in Schweden nicht gesehen.

Sie kamen an vielen schmalen Gassen vorbei, dunklen Schluchten zwischen Wohnkasernen und Geschäftshäusern. Dort drinnen im Dunkel der Gassen waren Menschen zu erkennen, einige lagen auf dem Boden, andere saßen da und starrten ins leere Nichts.

Aber hier draußen auf der Hauptstraße herrschten Leben und Bewegung. Hier liefen Leute vorbei, drängelten, trugen Pakete, riefen und schrien. Und hier lagen die Geschäfte dicht an dicht: Kleider, Kohle und Öl, Stoffe und Tapeten, Fleisch und Wurst, Mehl und Haferflocken, Kurzwaren. Ja genau, hier gab es das Geschäft, das Hedvig gesucht hatte.

Carl half ihr beim Einkaufen: Er sagte ihr, wie die Dinge auf Englisch hießen. Die Verkäuferin stammte aus Deutschland, sie verstand ein paar Worte Schwedisch. Sie übernahm es, Carl brauchte nicht zu erklären.

Hedvig betrachtete eine kleine Schere, so eine konnte sie gebrauchen. Die Verkäuferin zeigte ihr ein Kleidermuster, wäre das nicht etwas?

»Ich gehe in die Eisenwarenhandlung gegenüber«, sagte Carl. »Komm dorthin, wenn du fertig bist.«

Hedvig nickte. Sie hatte die Eisenwarenhandlung bemerkt, sie würden sich dort in ein paar Minuten treffen.

Sie wollte die Schere so gerne haben. Sie kostete dreißig Cent. Das war fast eine ganze schwedische Krone. Aber die Schere war gut, scharf geschliffen, und sie hatte einen kleinen eingeritzten Schnörkel in der Mitte, dort wo die Schraube die beiden Schenkel zusammenhielt.

»Okay, twentyfive Cent«, sagte die Verkäuferin.

Hedvig verstand sie. Sie kaufte die Schere, steckte sie unter ihr Portemonnaie in die Handtasche. Dann ging sie hinüber in die Eisenwarenhandlung. Sie ließ drei bärtige Männer mit schwarzen Hüten vorbei, ehe sie über das Trottoir ging, trat dann auf die Straße hinaus, schreckte zurück, als ein Pferd mit einer Holzfuhre an ihr vorbeitrabte. Es kam noch ein von zwei jungen Männern gezogener Wagen. Dann war die Straße frei. Hedvig ging hinüber und betrat die Eisenwarenhandlung.

Sie konnte Carl nirgendwo entdecken.

Hedvig ging wieder nach draußen. Sie war offenbar in das falsche Geschäft gegangen. Das hier war eher ein Werkzeuglager. Wo lag die Eisenwarenhandlung?

Sie suchte entlang der Straße, drehte um und suchte in der entgegengesetzten Richtung. Keine Eisenwarenhandlung.

Lag sie in einer Nebenstraße?

Hedvig ging in die Seitenstraße neben dem Kurzwarengeschäft. Sie lief ein Stück, bog dann nach rechts ab.

Da hinten vielleicht? Ja, dort befand sich ein Eisenwarengeschäft, im Schaufenster hing Werkzeug. Aber dieses Geschäft war geschlossen. Sie wollte auf die Hauptstraße zurückkehren. Aber irgendwie musste sie an der kleinen Straße, auf der sie gerade gekommen war, vorbeigelaufen sein, sie kannte sich nicht mehr aus.

Sie ging wieder zurück. Neue Häuser, neue unbekannte Geschäfte. Hier war sie wohl noch nicht gewesen?

Hedvig hatte sich verlaufen. Jetzt ging sie schneller, sie lief fast. Sie entfernte sich immer mehr von der Mulberry Street, immer weiter von Carl.

Immerhin kannte sie den Namen der Herberge und der Straße, in der diese lag.

Sie konnte jemanden fragen.

Aber noch nicht, zuerst würde sie weitersuchen. Sie kam an größeren Straßen vorbei, die Roosevelt Street und Ludlow Street hießen, und sie geriet in kleine schmale Gassen, die Cat Alley und Bleeker Street hießen.

Überall waren Menschen. Unbekannte, niemand, der sich um sie kümmerte.

Sie setzte sich einen Augenblick hin, um auszuruhen. Sie war aus einer kleinen Straße in eine Gasse gekommen, die in einen engen gepflasterten Hof mündete. Zwischen den Häusern waren Leinen gespannt, an denen Wäsche hing, eine Holztreppe führte auf einen langen Balkon hinauf, der außen an dem zunächst liegenden Haus angebracht war. Auf dem Hof lagen Haufen von feuchten Zeitungen, und aus einer Mülltonne stieg schwacher Rauch auf.

Hedvig war müde. Ihr gefiel der Geruch auf dem Hof nicht, aber sie wollte sich nur kurz ausruhen.

Da bemerkte sie die erste Ratte. Sie kam aus einer Kellerluke und lief langsam auf den Hof hinaus. Dann folgte eine weitere Ratte und noch eine dritte. Sie waren groß, graubraun, ihre kahlen Schwänze schleiften über den Boden, sie blieben stehen, schnappten nach dem Gras, das zwischen den Steinen auf dem Hof wuchs. Dann wurden sie plötzlich durch irgendetwas aufgeschreckt, liefen zurück zu den Löchern, aus denen sie gekommen waren.

Hedvig hörte eine Stimme im Haus. Sie erhob sich, um zu gehen. Aber als sie sich umdrehte, sah sie zwei junge Männer, die sich mitten auf die Straße gestellt hatten, aus der sie gekommen war. Sie versperrten ihr den Weg.

Sie ging wieder in den Hof zurück. Die Männer folgten ihr, sie gingen langsam, hatten die Hände in die Hüften gestemmt. Der eine trug einen Hut, der andere war barhäuptig. Beide hatten dunkle schmutzige Jacken mit Ledergürteln an.

Hedvig spürte, wie die Angst in ihr aufstieg. Es begann im Magen, setzte sich weiter in die Brust fort. Sie lief auf die Treppe zu, begann hinaufzusteigen, blieb mit dem Schuh zwischen zwei morschen Brettern hängen, riss den Fuß hoch, machte einen Riesensatz und sprang über mehrere Stufen nach oben auf den Balkon.

Die Männer hatten sie fast eingeholt. Sie drückte ihre Handtasche gegen die Brust, stolperte, fiel wieder hin und schlug sich das rechte Knie auf.

Hedvig schaffte es nicht mehr aufzustehen. Die beiden Männer hatten sie erreicht und stellten sich zu beiden Seiten neben sie hin. Sie war zwischen ihnen und dem Holzgeländer des Balkons eingeklemmt. Sie drückte ihre Handtasche immer noch an sich, denn sie hatte begriffen, dass es die Männer darauf abgesehen hatten.

Jetzt zeigte der Barhäuptige auf die Tasche. Er grinste, sagte etwas, das Hedvig nicht verstand. Der andere, der mit dem Hut, sagte auch etwas, aber es war ebenso unverständlich.

Dann packte der Mann mit dem Hut Hedvig am Arm und zog sie mit einem heftigen Ruck vom Boden hoch. Der andere ergriff die Tasche. Aber Hedvig hielt fest, sie wollte nicht loslassen.

Der Barhäuptige packte sie am Kinn, drückte mit der Hand zu, zischte ein paar scharfe Kommandos. In diesem Augenblick zog ihr der andere die Tasche weg. Sie konnte sie nicht mehr festhalten, die beiden waren zu stark, und die Angst hatte sie schwach gemacht.

In diesem Augenblick, als der Barhäuptige Hedvigs Kinn losließ und als der andere mit der Tasche in der Hand einen Schritt nach rückwärts machte, in diesem Moment wurde hinter Hedvig eine Tür geöffnet. Eine große kräftige Frau kam heraus. Sie blickte den barhäuptigen Mann böse an, zeigte auf ihn und schrie ihm mit heiserer zorniger Stimme etwas zu.

Der Mann erstarrte. Der andere blieb mitten im Schritt stehen. Beide standen ganz still da. Die Frau brüllte sie noch einmal an. Der Mann mit dem Hut legte die Tasche auf den Boden.

Dann verschwanden die Männer. Die ersten Schritte gingen sie rückwärts, hatten der Frau die Gesichter zugewandt. Sie gingen langsam auf die Treppe zu, drehten sich um und eilten hinunter, verschwanden über den Hof.

Hedvig erhob sich, ergriff ihre Tasche und fasste sich mit der Hand an ihr schmerzendes Knie.

Die Frau sagte nichts.

Sie hatte graue Haare, ihr Gesicht war zerfurcht, die Nase breit und gebogen. Sie hatte eine Hand in die Seite gestemmt, mit der anderen hielt sie die Klinke der Tür fest, die sie gerade geöffnet hatte.

Hedvig begegnete dem Blick der Frau. Er war streng, forschend, aber nicht unfreundlich. Ihr Gesichtsausdruck war ruhig und sehr sicher, ganz ohne Furcht.

Dann nickte die Frau, um ihren Mund zeigte sich ein kleines Lächeln, sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.

»Who are you?«, fragte sie.

»Hedvig aus Sweden«, antwortete Hedvig und zeigte auf sich.

»Sweden, hmm.«

»Yes, aus Sweden.«

»Okay, what are you doing here?«

Hedvig verstand die Worte nicht richtig, aber aus dem Tonfall der Frau schloss sie, dass sie eine Erklärung abgeben sollte.

»Ich habe mich verlaufen«, sagte Hedvig. »Lost my brother Carl.«

»So you have lost your brother«, murmelte die Frau, »well, who hasn’t.«

»Thank you«, sagte Hedvig.

Die Frau brummelte etwas vor sich hin. Hedvig wollte gehen. Da wies die Frau mit dem Kopf auf die Türöffnung und zeigte gleichzeitig mit dem Finger auf Hedvig.

»Come in and sit down«, sagte sie.

Hedvig sah sie fragend an. Die Frau blickte sie an und zeigte auf die Tür. Hedvig hatte verstanden.

 

Sie kamen in einen dunklen Raum. In der Wand befand sich eine Fensterluke, aber draußen war es trübe und die Scheibe war schmutzig. Auf dem Tisch stand eine Petroleumlampe mit heruntergeschraubtem Docht. Es dauerte eine Weile, bis Hedvigs Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, langsam traten die Einzelheiten hervor. Zwei Stühle an dem Tisch, eine Bank mit einem Gaskocher und Dosen und kleinen Holzschubladen, ein Küchensofa, auf dem jemand lag, nein es waren zwei Personen, zwei Kinder, eingehüllt in alte Kleider.

Jetzt hörte Hedvig auch Geräusche, sie stammten von den Kindern, ein schwaches Husten.

Die Frau schraubte die Lampe ein klein wenig höher. Jetzt konnte Hedvig mehr von dem Raum erkennen. Die Farbe an der Decke blätterte ab, es hatten sich große feuchte Flecke ausgebreitet, die hintere Wand war mit Zeitungspapier beklebt.

»No hurry, take a rest«, sagte die Frau.

»Okay«, antwortete Hedvig, ohne sie jedoch richtig verstanden zu haben.

Die Frau schob ihr eine Tasse über den Tisch zu, sie goss etwas Dampfendes aus einem Topf hinein, machte Hedvig ein Zeichen, sie solle trinken. Hedvig führte die Tasse zum Mund, roch daran. Es schien Kaffee zu sein.

Sie nahm einen Schluck, ja es war Kaffee, jedoch ein schwacher und wässriger. Die Frau betrachtete sie, ohne etwas zu sagen. Vielleicht wollte sie Hedvig erst austrinken lassen.

»Where do you stay?«, fragte sie nach einer Weile.

Hedvig sah sie fragend an.

»House, home, address, where, where«, fragte die Frau mit ungeduldiger Stimme weiter.

»Maartens, Baxter Street«, antwortete Hedvig.

»Okay, it’s not far from here«, sagte die Frau.

Da begann eines der Kinder auf dem Küchensofa zu husten. Die Frau erhob sich, ging zu dem Sofa hin, beugte sich über das Kind und murmelte etwas. Hedvig hörte, wie sie seufzte.

Kurz darauf setzte sie sich wieder an den Tisch. Sie warf einen Blick auf Hedvigs halbvolle Kaffeetasse.

»I lost a child last year«, sagte sie.

Hedvig verstand sie nicht.

»My little boy. The fever. He died.«

»Your little boy. Död?«

»Now you understand, eh, my son died last December.«

»Oh, das ist sehr traurig.«

»Traurig, is that what you say in Swedish?«

»Du Arme.«

Die Frau streckte die Hand aus, legte sie auf Hedvigs Hand, streichelte sie leicht.

»Baxter Street«, sagte sie und erhob sich.

Sie ging zur Tür, bedeutete Hedvig, sitzen zu bleiben, verließ den Raum, ließ die Tür jedoch angelehnt. Hedvig nahm an, dass sie nicht lange fortbleiben würde.

Das Kind hustete wieder. Hedvig ging zum Küchensofa hin, sah, dass das Kind ein etwa einjähriges Mädchen war. Neben ihr lag ein ungefähr dreijähriger Junge.

Jetzt wachte der Junge auf. Auch er begann zu husten. Der Hustenanfall des Mädchens verstärkte sich daraufhin, es klang so, als ob es keine Luft bekam, es wurde ruhig, aber die Brust zitterte ein wenig wie in einem Krampf.

Hedvig wurde ängstlich. Würde das Kind gerade jetzt sterben? Erstickte die Kleine gerade?

Da kam die Frau zurück. Sie hatte einen Jungen mitgebracht. Er blieb an der Tür stehen. Die Frau ging schnell zum Bett der Kinder hin, nahm das Mädchen hoch, wiegte es langsam hin und her. Es fing wieder an zu husten, dann war auch leises Weinen zu hören.

»This is Bobby«, sagte die Frau und nickte in Richtung des Jungen. »He will show you the way back to Maartens at Baxter Street.«

Als Hedvig den Straßennamen hörte, verstand sie. Sie ging auf die Frau zu, ergriff ihre Hand und spürte auch die kleine kalte Hand des Kindes, die die Mutter zu wärmen suchte.

»Thank you«, sagte Hedvig.

Die Frau nickte, ohne etwas zu sagen. Hedvig ging zur Tür, blieb stehen, öffnete ihre Handtasche, holte das Portemonnaie heraus und entnahm ihm einen schwedischen Zehnkronenschein. Sie faltete ihn zusammen und schob ihn unter die Kaffeetasse. Die grauhaarige Frau sah das, sagte aber nichts, auch nicht, als Hedvig den Raum verließ und die Tür hinter sich schloss.

Carl hatte gewartet. Er war beunruhigt, war zu der Polizeiwache in der Mulberry Street gegangen, hatte sich jedoch am Eingang anders besonnen und angefangen, selbst zu suchen. Nach einigen Stunden war er in die Herberge zurückgekehrt.

Um neun Uhr abends kam Hedvig zusammen mit einem Jungen. Carl gab dem Jungen ein kleines Trinkgeld.

Hedvig versuchte zu erklären, was passiert war. Sie erzählte von der Frau und ihren kranken Kindern. Carl sagte, dass es im Vorjahr eine Typhusepidemie gegeben habe und dass viele Leute die Schwindsucht hätten. In den Großstädten starben die Kinder.

»Aber in Boston ist es besser«, sagte er, »und dort wohne ich etwas außerhalb der Stadt, es ist fast wie zuhause.«

»Morgen fahren wir dorthin«, sagte Hedvig.

Sie gingen gegen elf zu Bett. Die Tochter der polnischen Mutter wachte mehrmals in dieser Nacht auf. Aber das Weinen der Kleinen klang jetzt schwächer. Die Mutter des Kindes wurde ebenfalls wach. Sie setzte sich mit gefalteten Händen auf die Bettkante und murmelte ein Gebet. Hedvig dachte an die Kinder der grauhaarigen Frau, an das Kind, das ihr gestorben war, und an die beiden anderen, die so krank waren.

Wenn es einen Gott gäbe, würde er dies nicht zulassen, dachte Hedvig. Dass kleine unschuldige Kinder sterben, darin liegt keine Gerechtigkeit. Sie war sich vorher auch schon fast sicher gewesen, jetzt wusste sie es. Die Menschen mussten allein zurechtkommen, so gut es ging. Man hatte nur dieses eine Leben auf Erden.

Der Zug verließ New York um zehn nach elf am folgenden Tag. Draußen war es immer noch mild, aber es regnete.