Das Erbe von Samara und New York

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Zu spät, um Abschied zu nehmen

Hedvig erzählte Hulda, dass Karl Gustaf sie gebeten habe, seine Verlobte zu werden. Die Schwester war zunächst froh, dann stellten sich Zweifel ein. Das macht man wohl erst, wenn man dann auch heiraten wollte.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Hedvig, »aber er ist sehr ernsthaft.«

»Dann will er dich also heiraten?«

»Er sagt nichts.«

»Nein, er spricht nicht viel, glaube ich.«

»Ja, er ist so, aber in diesem Falle hätte ich schon gerne, dass er mir sagt, was er denkt.«

»Du musst abwarten, jetzt hast du jedenfalls einen Verlobten.«

Ja, so war das wohl. Sie waren Verlobte. Aber Hedvig hatte sich insgeheim vorgestellt, dass dies etwas feierlicher hätte geschehen können. Trotzdem war sie froh, sie mochte Karl Gustaf ja. Er war freundlich, ein sanfter und liebenswerter Junge, so ähnlich wie ihr Vater. Einer, der nie laut wurde und sich nicht betrank.

Nein, Karl Gustaf trank wohl keinen Schnaps. Sie hatte ihn noch nie auch nur im Geringsten angeheitert gesehen, und er hatte gesagt, dass er gegen alkoholische Getränke sei, die würden die Menschen ins Verderben führen, hatte er gesagt.

Hedvig war davon überzeugt, dass Karl Gustaf ein anständiger junger Mann war. Das Einzige, was sie ein wenig störte, war seine Schweigsamkeit. Hedvig meinte zwar, dass redselige Menschen ziemlich anstrengend seien, aber sie selbst gab immer Auskunft, wenn es nötig war. Karl Gustaf schien immer alles, was er eigentlich sagen wollte, für sich zu behalten. Seine Schweigsamkeit war von anderer Art als die ihre.

Der Winter ging vorbei. Hedvig schrieb noch einen Brief an die Familie in Råberga. Die Antwort ließ auf sich warten. Hedvig und Hulda sprachen recht oft über die Familie zuhause. Was machten die jüngeren Geschwister, ging es dem Vater gut?

Hedvig hatte ihre Befürchtungen, aber sie sagte der Schwester nichts davon. Sie hatte geträumt, dass ihr Vater wieder schwer krank sei.

Jetzt wohnten die Mädchen bei ihrem Onkel in der Küche. Als die Kälte anbrach, waren sie aus dem Stall in die Kate umgezogen. Sie lagen zusammen mit einer Cousine auf der ausgezogenen Küchenbank. In der Küche schliefen außerdem ihre Tante und noch zwei kleine Cousinen.

Als Hedvig und Hulda nach Eskilstuna übergesiedelt waren, war zuhause in Råberga die Dachkammer frei geworden. Erik Larsson war zunächst dort eingezogen, doch war es ihm dann wieder schlechter gegangen, und er hatte sich gezwungen gesehen, wegen der Wärme in das Bett in der Küche zurückzukehren.

Er hatte schon lange nicht mehr arbeiten können. Als die Mädchen von zuhause fortgegangen waren, hatte er es versucht, aber nach zwei Wochen ging es nicht mehr länger. Seitdem hatte er meist im Bett gelegen. Er magerte ab. Matilda besorgte Pferd und Wagen, sie fuhren zum Arzt nach Vintrosa, der meinte, dass Erik etwas Bösartiges im Magen habe, was vielleicht auch nicht weggehen würde.

Es wurde ein harter Winter mit ständigen Schmerzen. Das Frühjahr brachte keine Besserung. Matilda kochte für Erik eine Suppe aus den ersten Brennesselsprossen, die neben dem Abtritt wuchsen. Das pflegte bei den meisten Übeln zu helfen. Aber Eriks Krankheit war unheilbar.

Am zwanzigsten Mai wurden die Schmerzen stärker. Er versuchte sich zusammenzunehmen und sich nichts anmerken zu lassen, aber es ging nicht. Er wimmerte die ganze Nacht hindurch, sein Atem kam stoßweise.

Matilda wusste, dass es Medizin gegen starke Schmerzen gab. Man konnte sie in der Apotheke in Örebro kaufen. Aber diese Medizin war teuer. Früh am Morgen brach sie von zuhause auf. Sie sagte zu Erik, dass sie den ganzen Tag über fortbleiben würde, und bat den siebenjährigen Gustav, sich um den Vater zu kümmern. Matilda hatte ihren Brautschleier mitgenommen, eingewickelt in ein kleines Päckchen, und sie trug ihren Ehering am Finger. Zunächst hatte sie überlegt, ob sie Eriks Ring auch mitnehmen sollte, aber dann hätte er wohl gefragt, und sie hätte nichts darauf antworten können.

Matilda ging nach Örebro, es waren dreizehn Kilometer. Sie brachte den Ring und den Schleier zum Pfandleiher und erhielt acht Kronen dafür. Für das Geld kaufte sie starke Medizin gegen Schmerzen, eine große Flasche, sowie Hustentropfen.

Spät am Nachmittag kam sie nach Råberga zurück. Vier Tage später war Erik Larsson tot. Seine Schmerzen hatten etwas nachgelassen, vielleicht hatte die Medizin geholfen. Er war einundfünfzig Jahre alt geworden. Er starb frühmorgens an einem Freitag.

Matilda ließ die Kinder ihren toten Vater sehen. Sie hatte ihm die Hände auf der Brust gefaltet. Die kleinen Mädchen weinten. Gustaf stand eine Weile regungslos mit versteinertem Gesicht neben dem Bett. Als er auf den Hof hinausging, hatte er die Fäuste geballt.

Die Beerdigung sollte in der Woche darauf in der Kirche von Täby stattfinden. Derselbe Nachbar, der Erik zum Arzt gefahren hatte, wollte Pferd und Wagen stellen, um den Toten in die Kirche zu bringen.

Am Tag vor der Beerdigung fiel Matilda ein, dass sie vergessen hatte, den Töchtern in Eskilstuna den Tod des Vaters mitzuteilen. Sie schrieb sofort einen Brief. Als Hedvig und Hulda die traurige Nachricht erhielten, lag ihr Vater schon seit drei Tagen unter der Erde.

Eiskalter ferner Vogelgesang

Die Mädchen blieben in Eskilstuna. Hedvig traf sich immer häufiger mit Karl Gustaf. Sie waren jetzt ein Paar, hatten es einigen Freunden gesagt, Karl Gustaf hatte es seinen Eltern erzählt.

Hedvig schrieb ihrer Mutter einen Brief. Sie erwähnte ihren Verlobten nur beiläufig, fragte jedoch ganz genau nach, ob Carl Weiteres aus Amerika geschrieben habe. Auf den Tod ihres Vaters kam sie nur mit wenigen Worten zu sprechen.

Dann wollte Karl Gustaf Hedvig zuhause vorstellen, in Tallstugan, außerhalb von Eskilstuna. Sie wurde zum Kaffee eingeladen, es war an einem Sonntag. Sie saßen in der fliederumrankten Gartenlaube außerhalb der Hütte. Karl Gustafs Mutter Katarina hatte Plunderteigschnecken gebacken. Vater Erik Eriksson hatte ein weißes Hemd und eine schwarze Weste angelegt. Er war Zimmermann und Waldarbeiter, er war ein ungewöhnlich großer Mann.

Hedvig sagte guten Tag, als sie kam, knickste und gab die Hand, dann aßen und tranken sie schweigend. Auch Karl Gustafs Bruder Fredrik war dabei. Er war gewachsen, jetzt war er genauso groß wie sein älterer Bruder.

Es war Fredrik, der schließlich das Schweigen brach; er erzählte, dass er das Buch Gullivers Reisen gelesen habe. Besonders lustig hatte er gefunden, dass die Liliputaner Gulliver auf dem Boden festgebunden hatten. Sie waren klein, aber da sie so viele waren, verfügten sie über Kraft.

Keiner der Übrigen hatte das Buch gelesen. Hedvig merkte sich den Titel. Sie erzählte, dass ihr Bruder Carl in Amerika sei.

»Wie geht es dem Bruder dort?«, wollte Erik wissen.

»Er scheint es gut getroffen zu haben«, antwortete Hedvig.

»Viele reisen hinüber.«

»Ja, mehrere aus meiner Familie sind gefahren, die Schwester meiner Mutter ist auch dort, und es folgen wohl noch einige.«

Hier entstand eine Pause in der Unterhaltung. Katarina schenkte Kaffee nach und bot Hedvig noch eine Schnecke an. Sie lehnte ab, aber als Katarina drängte, nahm sie die Schnecke. Sie war frisch gebacken, mit Hagelzucker und etwas Zimt.

»Ja, viele fahren hinüber«, sagte Erik nach einer Weile.

»Ich trage mich ebenfalls mit dem Gedanken«, sagte Hedvig.

»Ja, tatsächlich, Hedvig, tust du das?«

Mehr wurde dieses Mal nicht über Amerika gesagt. Später dachte Hedvig, dass hauptsächlich sie und Erik geredet hatten. Fredrik hatte auch an der Unterhaltung teilgenommen, auch dann, wenn er nichts gesagt hatte, hatte er sich mit Gesten und Mienenspiel beteiligt.

In diesem Herbst hörte Karl Gustaf in der Fabrik auf und begann eine Lehre bei einem Schuhmacher. Er sagte, er wolle einen richtigen Beruf erlernen, Messer zu schleifen brachte zwar Geld ein, aber es hatte keine Zukunft.

Hedvig gab ihm Recht. Es war eine gute Wahl.

Sie hatte jetzt fast fünfundvierzig Kronen zusammengespart. An den Abenden hatte sie Mehrarbeit in der Fabrik übernommen und einmal die Woche bei einer Ingenieursfamilie geputzt.

Aber immer noch fehlten für die Fahrkarte mindestens dreißig Kronen, außerdem benötigte sie ja auch Geld für Essen und Unterkunft.

Da traf ein Brief von Carl ein. Er schrieb, dass er der Meinung sei, Hedvig solle schnell herüberkommen. Falls sie Geld für die Reise brauche, könne er aushelfen.

Hedvig antwortete innerhalb einer Woche. Ja, sie hätte sich entschlossen. Sie hatte Geld gespart, aber es fehlte noch etwas.

Carl schrieb noch einen Brief. Er wusste, dass Hedvig bei Tante Clara unterkommen könne, und das Geld für die Überfahrt dürfte kein Problem sein. Er konnte ihr leihen, was noch fehlte, sie würde schnell gut verdienen und könne es dann zurückzahlen.

Hedvig schrieb: »Ich erwäge jetzt, dein Angebot anzunehmen, und ich werde es sobald wie möglich Mutter erzählen.«

Dann wurden Hedvig und Hulda sechzehn Jahre alt. Die Zwillinge feierten den Geburtstag in der Küche des Onkels, mit Kaffee und frischgebackenen Haferkeksen. Abends, als sie aus der Fabrik nach Hause kamen, bekamen sie auch ein gutes Essen.

Karl Gustaf schenkte Hedvig ein hübsches kleines Notizbuch mit linierten Seiten. Hier konnte sie ihre Gedanken niederschreiben. Er wusste, dass sie abreisen wollte. Er hatte sich entschlossen, nicht mitzukommen, endlich sagte er Hedvig Bescheid. Das machte er an ihrem Geburtstag. Sie fand, er hätte sich einen besseren Tag aussuchen können. Aber sie war froh, dass er sich endlich entschieden hatte.

»Ich fahre, wie du weißt«, sagte Hedvig, »aber wir werden einander schreiben, und du wirst wohl bald nachkommen?«

 

»Zuerst will ich meinen Beruf haben, dann werden wir an eine gemeinsame Zukunft denken können.«

»In Amerika?«

»Oder hier zuhause.«

Sie nickten einander zu. Es war nicht viel gesagt worden, trotzdem hatten sie eine Vereinbarung getroffen.

Hedvig sparte weiterhin ihr Geld. Hulda fuhr im Oktober zurück nach Råberga, Hedvig blieb in der Messerfabrik und traf Karl Gustaf weiterhin wie vorher auch.

Es wurde ein langer Winter, der Frühling kam spät, bis in den April hinein hielt sich das Eis.

Hedvig wurde siebzehn, ehe das versprochene Geld von Carl eintraf. Im August bekam sie einen eingeschriebenen Brief, der hundert schwedische Kronen enthielt, zehn Zehnkronenscheine. Hedvig hatte noch nie so viel Geld besessen.

Sie fuhr nach Hause nach Råberga, um auf Wiedersehen zu sagen. Ihre Mutter war mager geworden, sie lächelte nicht, als Hedvig kam, und sagte nicht viel, als ihre Tochter nach drei Wochen wieder abreiste.

Dann begab sich Hedvig auf die lange Reise nach Amerika. Zuerst mit dem Zug nach Göteborg, dann mit dem Schiff, mit dem Zug, wieder mit dem Schiff. Sie schrieb es in das Büchlein, das sie von Karl Gustaf geschenkt bekommen hatte. Jeden Tag schrieb sie etwas hinein.

3. Oktober 1892

Eine gute Reise nach Göteborg. Übernachtung in einem Hotel am Hafen. Ich habe mehrere große Schiffe anlegen sehen. Ich bin in einem Zimmer zusammen mit zwei Mädchen aus Småland und einem Mädchen aus Värmland.

6. Oktober 1892

Abreise bei leichtem Nebel. Bald sind wir in Hull, und von dort fahren wir mit der Eisenbahn nach Liverpool.

17. Oktober 1892

Das Schiff ist ungeheuer groß. Ich schlafe ganz unten im Schiff in einem Raum zusammen mit den Mädchen, die ich in Göteborg kennengelernt habe, und vielen Frauen aus anderen Ländern. Wir sind jetzt auf See, hoffentlich wird die Reise nicht allzu mühselig. Aber der Himmel ist nachts so mächtig, es gibt mehr Sterne, als ich jemals zuvor gesehen habe, wie glitzernde kleine Augen über dem schwarzen Ozean, auch erinnern sie an eiskalten, fernen Vogelgesang.

Alvine, die Mutter meiner Mutter

Als sich der Schnee in Samara rot färbte

Der Schwarze im Keller

Das Wasser der Wolga war grau, in Ufernähe schwammen Holzstücke und Gras, mehrere kleine Fischerboote lagen etwas weiter draußen, die Männer in den Booten waren mit den Netzen beschäftigt, einer von ihnen rief den Leuten, die an Land warteten, etwas zu. Es war weit bis zum anderen Flussufer, vielleicht tausend Meter. Es kam vor, dass gelegentlich große Schiffe vorbeifuhren. Jetzt war das Wasser weit draußen zu sehen, graues, düsteres Wasser, das die Wolken am Himmel nicht widerspiegelte.

Alvine fragte ihre Mutter, ob sie eine Weile aus dem Wagen steigen dürfe, aber die Mutter erlaubte es nicht. Es war hier allzu schmutzig.

»Warum möchtest du das denn, wir wollen jetzt weiterfahren«, sagte die Mutter, die Ida hieß.

»Ich möchte die Boote betrachten«, sagte Alvine.

»Die kannst du genauso gut vom Wagen aus sehen, oder nicht?«

»Du hast Recht, Mama, es war nur so eine Idee.«

»Natürlich, meine Liebe, du hast so deine kleinen Ideen.«

Alvines Mutter befahl dem Kutscher weiterzufahren. Er schlug mit den Zügeln auf den schwarzen Pferderücken, schnalzte ein paarmal mit der Zunge, schlug wieder zu, dieses Mal ein wenig fester, murmelte irgendetwas Unhörbares. Alvine lachte auf, sie fand den mürrischen Kommandoton des Kutschers lustig. Ihre Mutter sagte nichts. Der Wagen rollte weiter hinauf in das Stadtzentrum. Sie hatten den Umweg zum Fluss hinunter nehmen müssen, weil einige grölende Männer den Weg in die Stadt versperrt hatten, sie hatten klappernde Pferdehufe gehört, der Kutscher war in eine Seitenstraße eingebogen, hatte das Pferd angetrieben, das hinunter zum Wolgastrand trabte.

Es war nicht weit bis nach Hause. Wenn Alvine auf den Balkon im obersten Stockwerk des Elternhauses trat, konnte sie den Fluss sehen. Sie stand dort bisweilen und folgte den Booten mit den Blicken, den Dampfern, die nach Süden fuhren, nach Saratov und Astrachan, oder nach Norden, nach Kazan und Novgorod. Sie wäre gerne mit einem der Schiffe gefahren, am liebsten mit dem, welches Peter hieß, es war etwas größer als die anderen. Auf dem Schiff gab es ein schönes Restaurant, das hatte ihr Bruder Kolja erzählt.

Alvine hatte sich zum Geburtstag eine Dampferfahrt auf der Wolga gewünscht. Sie würde im Sommer sechzehn Jahre alt werden. Jetzt war es Ende April.

Der Kutscher schnalzte wieder, er wollte das Pferd antreiben. Sie hatten eine kleine Steigung vor sich, einen mit Kopfsteinen gepflasterten Buckel auf dem Weg, der hinauf zur Hauptverkehrsstraße von Samara, der Alexanderstraße mit ihren Büros, Läden und der französischen Konditorei, führte.

Alvines Vater Julius Christensen besaß eines der größten Geschäfte in der Alexanderstraße. Sein Name stand auf dem ovalen Schild über dem Eingang. Es kam vor, dass die Leute das Geschäft »den Laden des Dänen« nannten.

Alvine hatte es oft gehört und sie hatte nichts dagegen.

Ihre Familie war Ende des 18. Jahrhunderts aus Dänemark gekommen, seitdem hatten sie sich mit Deutschen und Russen vermischt. In der ganzen Straße war es ähnlich, fast alle Geschäfte gehörten Leuten, die vor langer Zeit aus anderen Ländern nach Russland gekommen waren. Weiter unten in der Straße gab es ein schwedisches Hutgeschäft, einen deutschen Uhrmacher und die wunderbare Konditorei des Franzosen.

Alvine hatte bereits begonnen zu überlegen, welches Gebäck sie nehmen wollte.

Die Kutsche hielt direkt vor der Konditorei. Alvines Mutter sagte etwas, der Kutscher sprang ab und hielt einen Mann zurück, der auf der Straße gestanden hatte und jetzt zum Wagen vordringen wollte. Er war nicht besonders alt, trug eine zerrissene Jacke, er hielt seine Mütze in der Hand, streckte sie Alvines Mutter entgegen. Der Kutscher stieß den Mann beiseite, sagte jedoch nichts. Alvines Mutter bat den Kutscher, draußen auf sie zu warten.

Als Alvine mit ihrer Mutter hineinging, sah sie, wie der Mann in der zerrissenen Jacke die Straße überquerte. Er blieb nicht stehen, sondern ging weiter mit der Mütze in der Hand. Er hinkte ein wenig. Alvine nahm an, dass der Mann vermutlich nicht älter als fünfundzwanzig Jahre war.

Sie bestellten Schokolade mit Zimtsahne, dazu einige kleine mit Puderzucker bestreute Anistörtchen.

Es war Anfang Mai 1889. Alvine war fünfzehn Jahre alt. Ihre Mutter Ida war gerade sechsundvierzig geworden. Im letzten halben Jahr waren immer mehr zerlumpte Kerle auf den Straßen Samaras aufgetaucht. Alvine hatte gehört, dass die Landbevölkerung nichts zu essen habe. Kolja hatte ihr eine Ausgabe der Samara-Zeitung gezeigt, in der stand, dass viele Menschen in ihrem Gouvernement verhungert seien. Unter den Verhungerten befand sich auch eine Lehrerin.

Aber sie wusste nicht, was sie glauben sollte. Ihr Vater hatte gesagt, dass es sich meist um Übertreibungen handele. Es gab Leute, die das Land ins Verderben stürzen wollten. Solche Leute verbreiteten Lügen.

Die Familie Christensen wohnte in einer Straße, die parallel zur Alexanderstraße mit den Geschäften verlief. Ihr dreistöckiges Wohnhaus war von Ulmen und Apfelbäumen umgeben. Vor dem Wohnhaus befand sich ein gepflasterter Hof, hinter den Ulmen lagen Ställe und einige graue Gebäude. Dort wohnte die Dienerschaft, abgesehen von einigen Mägden, die in der Küche auf der Ofenbank schliefen.

Alvine hatte ihr Zimmer ganz oben im Wohnhaus. Es lag in der Nähe des kleinen Balkons mit Aussicht über die Wolga. Sie liebte diesen Balkon. Sie saß häufig dort und dachte nach, hier sehnte sie sich nach der großen Welt und nach der Liebe. Diese würde von dorther kommen, dachte sie oft, von der Wolga her. Vielleicht mit einem Schiff, mit dem Wind, mit den großen Wolken, die sich über der Steppe auf der anderen Seite des Flusses auftürmten.

Alvine wusste es nicht, es war etwas, das sie fühlte, für das sie keine Worte hatte. Der Balkon war der Ort, an dem sie die größte Sehnsucht empfand.

Jeden Samstag suchte Alvine den Laden ihres Vaters auf. Sie schaute in seinen Kontorraum im Erdgeschoss hinein, ehe sie sich hinaus zwischen die Ladentische und Waren begab.

Es war ein sehr großes Geschäft auf drei Stockwerken, eher ein kleines Kaufhaus. Auf jedem Stockwerk befanden sich ein paar große Räume, sowie einige kleinere Räume für Nähzeug und Schreibwaren. Vor allem jedoch wurden Kleider und Haushaltswaren verkauft.

An den Samstagen war das Geschäft immer gut besucht, die meisten Kunden wohnten in Samara, aber es kamen auch Bauern vom Lande in die Stadt. Im letzten Jahr allerdings war das nicht allzu oft vorgekommen. Zur Straße hin hatten die Räume große Fenster. Auf dem Fußboden darunter befanden sich Schlitze, aus denen warme Luft kam. Nur wenige Häuser in Samara verfügten über eine solche Wärmeanlage. Die Luft wurde durch lange Rohre aus dem Keller heraufgeführt, dort befand sich ein großer Heizkessel. Alvines ältester Bruder Alfred hatte es ihr erklärt. Er half oft im Kontor mit, es war beabsichtigt, dass er die Firma später von seinem Vater übernehmen solle.

An einem Samstag in diesem Frühjahr sah Alvine durch einen Zufall etwas mehr von dem Heizkessel und den Rohren. Sie hatte ihren Besuch beendet und wollte nach Hause gehen. Dem Vater hatte sie schon Auf Wiedersehen gesagt. Er ließ sie nur zu Fuß gehen, wenn sie eine Begleitung hatte, dann brauchte sie nicht auf den Kutscher zu warten.

An diesem Samstag brauchte sich der Vater keine Gedanken zu machen. Alvine sollte von einer Freundin begleitet werden, sie hatten denselben Weg. Sie hatten sich auf der Straße verabredet.

Alvine wartete am Eingang, es dauerte. Hatten sie einander falsch verstanden? Wartete die Freundin vor dem Hintereingang? Kam sie vielleicht aus dieser Richtung?

Nach einer Weile ging Alvine durch das Haus zum hinteren Eingang, der nur von den Angestellten und Lieferanten benutzt wurde. Hinten war ein Hof mit Lagerhäusern und Ställen. Dort lag auch ein großer Holzstoß.

Hier war die Freundin jedoch auch nicht. Alvine ging zu dem Holzstoß. Dahinter befand sich ein Kellereingang. Sie fragte sich, wie es da unten wohl aussehen mochte. Es war dunkel, aber weiter hinten im Dunkel flackerte ein kleines gelbes Licht.

Alvine ging die Kellertreppe hinunter. Sie gelangte in einen länglichen Kellerraum. Es roch nach Rauch und Ruß. Sie ging weiter auf das Licht zu. Da erblickte sie einen Mann. Er war schwarz angezogen, sein Gesicht war dunkel vom Ruß. Alvine zuckte zusammen. Der Mann nahm die Mütze ab und verbeugte sich.

»Hier haben Sie nichts zu fürchten, liebes Fräulein«, sagte er mit sanfter Stimme.

»Entschuldigung, ich wollte nur einmal gucken«, murmelte Alvine.

»Hier kann man schwer etwas erkennen«, sagte der Mann.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin derjenige, der dafür sorgt, dass es im Haus warm ist.«

»Die warme Luft dort oben?«

»Genau die, liebes Fräulein.«

»Wo wohnen Sie denn?«

»Hier unten wohne ich.«

»Aber wo ist Ihre Familie?«

»Anderswo, liebes Fräulein.«

»Aber wo essen Sie denn zusammen zu Abend?«

»Das tun wir nicht.«

»Warum nicht?«

»Ich bin immer hier.«

Alvine wusste nicht, was sie sagen sollte. Der Mann war freundlich, aber etwas seltsam. Sie wollte jetzt wieder zurück ans Tageslicht, hier unten fiel ihr inzwischen das Atmen etwas schwer.

Sie murmelte etwas zum Abschied und begann, die Treppe wieder hinaufzugehen. Als sie sich umwandte, war der Mann verschwunden. Vielleicht stand er auch dort im Dunkeln, eingehüllt in die Schwärze.

Nachdem Alvine nach Hause gekommen war, wusch sie sich gründlich. Am Abend fragte sie ihren Vater, wer der Mann im Keller sei. Wie hieß er?

Ihr Vater Julius antwortete, dass der Mann »der Schwarze« genannt würde. Seinen richtigen Namen kannte er nicht.

»Er ist schon immer dort«, sagte Julius.

»Immer?«

»Ja, und er wird wohl auch dort bleiben, weil er dort hingehört. Es ist das einzige Leben, das er hat, und er ist ja nützlich.«

An diesem Abend konnte man ein ungewöhnlich schönes Licht über der Wolga beobachten. Schwach lila gefärbte Wolken lagen über den waldigen Anhöhen am gegenüberliegenden Ufer des Flusses, die letzten Sonnenstrahlen funkelten an den Wolkenrändern.

 

Alvine stand lange auf dem Balkon und schaute. Ein Schiff glitt vorbei, das Achterdeck wurde von Lampen erleuchtet.