Das brennende Meer

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Das Schiff und der Künstler

Im Sommer 1807 kam die Wärme im Mai und hielt sich – abgesehen von einigen kühleren Tagen mit leichtem Nieselregen in der Woche nach Mittsommer – bis Ende August. Während der heißesten Zeit war der Himmel Tag für Tag wolkenlos. Es vergingen Wochen, ohne dass es regnete, das Meer lag spiegelglatt da, Trockenheit und Windstille folgten. Es kam oft vor, dass die Mannschaft des Postbootes den ganzen Weg von Grisslehamn nach Ekerö rudern musste, nicht die leiseste Brise kam ihr zu Hilfe. Es kamen da viele schweißtreibende Stunden mit schlappem Segel auf dem Meer zusammen.

Große Schiffe trieben bisweilen tagelang ohne Wind auf dem Åländischen Meer. Wenn sie in die Nähe von Grisslehamn kamen, konnte es vorkommen, dass ein kleines Boot zu Wasser gelassen wurde, Seeleute an Land ruderten und darum baten, Briefe abgeben zu dürfen; sie wussten offenbar, dass der Ort Postverbindungen zu Städten nah und fern hatte.

Draußen vor dem Hafen lag ein großes englisches Kriegsschiff still auf dem Wasser. Auf einer Klippe auf der Nordseite der Bucht saß ein Mann mit Papier und Stiften. Er zeichnete das Schiff in allen Einzelheiten ab.

Johanna hatte das englische Schiff gesehen, alle in Grisslehamn hatten es gesehen, man hatte ja Zeit genug, um zu schauen und sich zu wundern. Als das Schiff direkt vor der Hafenbucht lag, war Johanna gerade in der Küche des Posthauses; sie stieg in das obere Stockwerk und blickte durch das Fenster an der nördlichen Giebelseite.

Birgitta war nicht mehr im Posthaus. Sie hatte im Sommer 1804 Niklas Persson aus Tomta geheiratet und ihr erstes Kind geboren, einen wohlgestalteten Jungen. Jetzt war sie Hausfrau und erwartete ihr zweites Kind. Johanna hatte Birgittas Platz als zweite Hausmagd im Posthaus eingenommen.

Gegen fünf Uhr nachmittags hatte das englische Schiff Grisslehamn verlassen. Johanna hatte unten im Posthafen etwas zu erledigen, auf dem Rückweg stieg sie auf den kleinen Felsen vor dem Posthaus. Dort begegnete sie einem Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. Er war um die vierzig, groß, dunkelhaarig und hielt sich sehr gerade. In der einen Hand trug er eine kleine Kiste und in der anderen hielt er einen Stoß Papier.

Johanna hatte den Mann schon von weitem erblickt, aber trotz des Abstandes meinte sie, etwas Bekanntes an seiner Art, sich zu bewegen, erkennen zu können; und als sie diese Beobachtung gemacht hatte, folgte ein Durcheinander von aufblitzenden Erinnerungsbildern und gemischten Gefühlen: Wiedererkennen, Unruhe, Sehnsucht, Zweifel, das ist er, ja, nein, das kann er nicht sein.

Sie verlangsamte ihre Schritte, sah den Mann näher kommen, und immer noch ähnelte er dem verschwundenen Vater, oder dem ein wenig älteren Vater, so wie er jetzt aussehen müsste.

Nach der ersten überrumpelnden Gefühlswelle folgten unsortierte und verwirrende Gedanken. Johanna wollte umkehren und weglaufen oder auch dem Mann entgegenstürzen oder auch so tun, als ob sie jemand anders war, all das während weniger Sekunden.

Sie ging weiter auf den Mann zu; natürlich war er ein Fremder. Dann fiel ihr ein, dass ihr das schon vorher einige Male passiert war. Sie hatte den verschwundenen Vater kommen sehen: überwältigendes Glück, Zweifel, Enttäuschung, Einsamkeit.

Sie hätte lernen müssen, dagegen anzugehen, um nicht verletzt und noch einmal verlassen zu werden. Das hatte sie sich selbst gesagt, aber jetzt passierte es schon wieder, einige quälende Sekunden lang.

Als der Mann noch etwa dreißig Meter von ihr entfernt war, begann er zu lächeln; er lächelte die ganze Zeit über, auch als er stehen blieb und sich vorstellte.

»Guten Tag, mein Fräulein«, sagte er. »Ich bin ein Künstler aus Stockholm, der hier zu Besuch ist, mein Name ist Per Johan Malmgren, ich bin gerade angekommen und habe mich ein wenig umgesehen. Wir haben ein wunderbares Wetter, nicht wahr?«

Er hatte die kleine Kiste abgestellt, jetzt reichte er ihr die Hand. Johanna ergriff sie, es war eine warme, weiche Hand. Er lächelte die ganze Zeit über.

Auch Johanna nannte ihren Namen und erzählte, dass sie im Posthaus arbeite. Sie war allerdings nicht der Meinung, dass das Wetter schön sei, denn sie wusste, dass der Boden Regen brauchte und dass der Seefahrt der Wind fehlte; das jedoch sagte sie dem fremden Mann, der sich Malmgren nannte, nicht. Er lächelte immer noch, und Johanna überlegte, ob sein Gesicht immer den gleichen, freundlichen Ausdruck zeigte. Jetzt glich er ihrem Vater weniger, der oft ernst gewesen war. Aber die Haltung war dieselbe, der gerade Rücken, die Sicherheit und das Gefühl der Geborgenheit, das sie in der Nähe des Fremden verspürte.

Sie gingen ein Stück des Weges gemeinsam, Per Johan Malmgren erzählte, dass er bei einem Bauern in Tomta ein Zimmer gemietet habe, er wollte eine Weile bleiben und malen und zeichnen. Vielleicht könnte ihm Johanna, wenn sie Zeit hatte, gelegentlich die Gegend zeigen?

Johanna antwortete, dass das sicher möglich sei, an einem Abend oder an einem Sonntag, wenn sie nicht arbeitete.

Malmgren wollte wissen, wo er nach ihr fragen könne, ohne sie zu belästigen.

Sie sagte, er könne ja immer im Posthaus fragen, denn dort würde sie sich meist aufhalten.

Die Nächte waren mild, die Sterne standen bleich über dem blauschwarzen Wasser. In der Nähe des Meeres ist es ja eigentlich nie still, auch kleine Wellen rauschen, das Meer murmelt und flüstert, wenn es nicht lärmt und furchterregend ist. Jetzt jedoch herrschte eine ungewöhnliche Stille, das Wasser lag glatt da, die Wellen ruhten sich aus, es fehlte etwas, und die Küstenbewohner, die an die ständigen Geräusche gewöhnt waren, fühlten sich nicht ganz wohl.

Eines Abends saß Johanna da und wartete auf Geräusche, die nicht kamen. Es war spät, aber immer noch hell, denn es war die erste Woche im Juli. Sie verließ den Strand, spürte den Duft, der von den Weiden aufstieg, blieb an einem Sanddornstrauch stehen, sah, dass es viele unreife Beeren gab, und dachte, dass die Beeren in diesem Jahr wohl einen kräftigen Geschmack haben würden, da die Sonne so unermüdlich schien. Aber ein trockener Sommer bedeutete auch immer kleine Beeren und wenig Saft. Sie ging weiter, dachte über die Sanddornernte nach, bei der sie ihrer Mutter zu helfen pflegte, ging in Gedanken versunken, merkte nicht, dass ihr jemand folgte.

An einer Weide in der Nähe von Orneviken hatte sie derjenige, der ihr folgte, fast eingeholt. Da hörte sie die Schritte und drehte sich um. Es war Karl David vom Hof Norrgården, er hob grüßend die Hand.

»Ich habe dich hoffentlich nicht erschreckt?«, sagte er.

»Nein, du erschreckst mich doch nicht, Karl David«, antwortete sie, und das stimmte auch, denn sie hatte noch nie Grund gehabt, ihn als aufdringlich zu empfinden.

»Darf ich dich ein Stück begleiten?«, fragte er.

Sie antwortete, dass er das gerne tun könne. Sie brauchte nicht zu sagen, wohin sie ging, denn er wusste ja, wo sie arbeitete.

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Als sie sich der Bucht näherten, ging Karl David ganz dicht neben ihr, sie spürte, wie sein Arm den ihren berührte. Und sie bemerkte gleichzeitig einen schwachen Branntweinduft, der von ihm ausging. Sie nahm an, dass er trank, wie viele andere Männer auch. Es war das erste Mal, dass ihr das auffiel.

»Sollen wir uns eine Weile setzen und den schönen Himmel betrachten?«, fragte er.

Sie antwortete nicht, sondern nickte, und sie gingen weiter bis zu dem Gehölz oberhalb der Bucht. Sie wussten, dass dort einige Baumstämme lagen, die einen geeigneten Sitzplatz abgeben konnten.

Sie setzten sich hin, saßen dicht nebeneinander, und Johanna nahm an, dass Karl David jetzt den Arm um ihre Schultern legen würde.

Das tat er jedoch nicht.

Wie lange saßen sie schweigend dort? Die Zeit verging, aber das Schweigen wirkte durchaus nicht peinlich. Karl David war wie ein älterer Bruder, er wollte nichts von ihr. Als sie sich trennten, gaben sie sich die Hand und wünschten einander eine gute Nacht.

Gäste kamen und gingen, Johanna machte die Betten, deckte den Tisch, wusch die Wäsche. Manchmal bekam sie ein Dankeschön, aber meist beachteten die Besucher sie gar nicht. Einige der Gäste ließen Zeitungen liegen, die sie dann an sich nahm und las. Dagligt Allehanda und Stockholms Posten kannte sie, aber sie fand auch Ausgaben anderer Zeitungen. Als sie vierzehn Jahre alt gewesen war und mit Margaretas Hilfe die wunderbare Welt der Zeitungen entdeckt hatte, hatte sie sich hauptsächlich für die alltäglichen Vorkommnisse in Stockholm interessiert, aber allmählich begann sie sich auch um das zu kümmern, was sich draußen in der großen Welt zutrug. Eines Tages war ihr aufgefallen, dass die Berichte aus Frankreich über Bonaparte und den Krieg fehlten, sie hatte schon länger nichts mehr darüber gelesen. Sie hatte den Postmeister gefragt, der die Stimme gesenkt und erklärt hatte, dass auf Befehl von König Gustav Adolf IV. die Berichterstattung aus Frankreich verboten worden war. Es war jetzt strafbar, französische Zeitungen nach Schweden einzuführen.

Etwas später hörte Johanna, dass man jetzt auch den Namen Bonaparte nicht mehr erwähnen durfte. Wenn man trotzdem gezwungen war, etwas über ihn zu schreiben, sollte er Monsieur genannt werden, das bedeutete »Herr« im Französischen. Er hatte sich ja selbst zum Kaiser ernannt, diesen Titel zu gebrauchen weigerte sich der schwedische König jedoch, und alle Schweden hatten sich danach zu richten.

Margareta war nicht mehr im Posthaus. An ihrer Stelle war jetzt August Lindman, ein magerer Lehrer mit schütterem Haar aus Åbo. Er unterrichtete Oscar, den Sohn des Postmeisters, der inzwischen vierzehn Jahre alt war. Die Töchter wohnten für längere Zeit bei einer Tante in Stockholm, um in die richtigen Kreise zu kommen. Wenn die Mädchen ab und zu auf Besuch im Posthaus waren, gab ihnen Magister Lindman Unterricht im Französischen.

 

In der zweiten Juliwoche kamen zwei Reisende aus Petersburg, ein älterer grauhaariger Mann und ein etwas jüngerer. Sie schienen müde zu sein, ihre Mäntel waren staubig und schmutzig, die Hemden ungewaschen, man konnte sehen, dass sie in großer Eile gereist waren und sich nicht die Zeit genommen hatten, sich um Körperpflege und Kleidung zu kümmern. Jetzt wollten sie im Posthaus übernachten und früh am nächsten Morgen weiterreisen.

Während die beiden Herren unten im Salon waren, brachte Johanna die Gästezimmer in Ordnung. Sie sah, was auf den Stühlen und Tischen lag, und kam auch nicht umhin zu sehen, was sich in den geöffneten Koffern befand: eine Pistole, ein Kuvert, das an den Obersten Johannes G. Adler adressiert war, ein französisches Buch, ein deutsches Buch, ungewaschene Hemden und Unterhosen, zerrissene Strümpfe. Johanna dachte: Diese Männer sind schwedische Offiziere, die auf eine Dienstreise in fremde Länder geschickt worden waren.

Sie hatte völlig recht. Als sie später am Abend bei Tisch bediente, hörte sie das Gespräch zwischen den Herren und dem Postmeister und seiner Frau. Auch Magister Lindman war anwesend. Die Besucher waren direkt aus Petersburg gekommen, wo sie die schwedische Vertretung besucht hatten. Vorher waren sie in Ostpreußen gewesen und hatten Auskünfte über den letzten großen Zusammenstoß zwischen der Armee Napoleon Bonapartes und den Streitkräften des russischen Zaren eingeholt. Der Ort, an dem die Schlacht stattgefunden hatte, hieß Friedland, und die beiden schwedischen Offiziere waren in der Woche nach dieser Schlacht dort gewesen.

»Der Vormarsch der französischen Streitkräfte kann nicht aufgehalten werden«, sagte der ältere der beiden Herren mit gedämpfter Stimme. »Dafür haben wir allzu überzeugende Beweise gesehen. Den Russen wurde eine empfindliche Schlappe zugefügt. Jetzt ist der Weg nach Osten offen für, hmm, Monsieur Bonaparte.«

»Was hat das für Folgen für Schweden?«, wollte der Postmeister wissen.

»Wir gehen einer schweren Zeit entgegen«, sagte der jüngere Offizier. »Denn Bonapartes Streitmacht ist unerhört. In Friedland sind fünfundzwanzigtausend Mann gefallen, viele davon waren natürlich auch Franzosen, aber Bonaparte scheint ja immer neue Soldaten herbeischaffen zu können.«

»Unsere Sorge sind jetzt die Folgen, die die Niederlage der Russen nach sich zieht«, sagte der ältere Gast.

»Was meinen Sie damit, mein Herr?«, fragte der Postmeister.

»Vielleicht zwingt Bonaparte die Russen hinüber auf seine Seite. Die Russen wollen Finnland, das wissen wir ja alle. Jetzt bleibt nur noch abzuwarten, wie lange es dauern kann, bis der Zar offen redet. Wir nehmen an, dass die Petersburger Vertretung schon beunruhigende Hinweise erhalten hat.«

»Der Wind dreht sich«, murmelte der Postmeister. »Vor kurzem hatten wir noch die Hoffnung, mit den Russen auf freundschaftlichem Fuß stehen zu können, jetzt sind wir in den alten Zustand aus der Zeit König Gustavs zurückgefallen.«

Das Gespräch kam zum Erliegen, der Ton war gedämpft gewesen, und die Redenden hatten ihre Stimmen jedes Mal leiser werden lassen, wenn Bonapartes Name genannt wurde; jemand hatte dann pflichtschuldigst Monsieur hinzugefügt.

Dann versuchte die Hausfrau, ein Gespräch über Weinsorten anzufangen, sie nannte Bordeaux, wechselte jedoch das Thema, als sie merkte, dass sie sich auf gefährlichem Boden befand. Das Schweigen wurde peinlich. Zum Schluss einigte man sich darauf, dass gebratene Eiderente, auf traditionelle schwedische Weise zubereitet und mit Vogelbeergelee serviert, ein unschlagbares Abendessen war.

Wie in einem gläsernen Meer

Johanna meinte, in den Tagen nach dem Besuch der beiden Offiziere eine gewisse Missstimmung im Posthaus zu bemerken, eine zögerliche Vorsicht, die man spüren konnte, als der Postmeister Abschied von seinen beiden Töchtern nahm. Er schien ängstlich und bekümmert zu sein, so als ob die beiden zu einer langen Auslandsreise aufbrechen würden und nicht nur, wie jetzt, zu einer kurzen Fahrt zu Freunden nach Ortala, von wo aus sie am selben Abend zurückkommen würden.

Johanna bildete sich ein, dass es die Stimmung war, die bei dem Abendessen mit den Offizieren aufgekommen war, die immer noch anhielt, das Gespräch über den Krieg, die Bedrohung aus Russland. Der Himmel war immer noch leuchtend blau, die Sonne strahlte, die Tage waren warm. Trotzdem lag eine gedrückte Stimmung über Grisslehamn, in dieser letzten Juliwoche des Jahres 1807.

Eines Tages traf Johanna den Künstler Per Johan Malmgren wieder. Sie kam vom Hafen und trug einen Korb, der zur Hälfte mit Fischen gefüllt war, fünf mittelgroße Dorsche, die sie von einem gerade eingelaufenen Boot geholt hatte. Sie war eben zwischen zwei Schuppen stehen geblieben und hatte den Korb für einen Augenblick abgestellt, als sie aufblickte und Malmgren direkt in die Augen sah. Er stand vor ihr, lächelte über das ganze Gesicht, streckte eine Hand aus.

»Ich möchte Ihnen gerne helfen, mein Fräulein, wenn Sie erlauben«, sagte er und legte die Hand auf den Korbrand.

»Ja, danke«, antwortete Johanna und überließ ihm den Korb.

»Vielleicht könnten sie stattdessen meine Tasche und meine Papiere tragen?«

»Ja, das ist ein guter Tausch, warum nicht.«

Johanna hob die kleine Tasche und die zusammengerollten Papiere auf, die Malmgren abgestellt hatte. Die Tasche erwies sich als eine kleine flache Holzkiste mit einem gebogenen Draht, der als Griff diente. Sie war leicht, Johanna nahm an, dass sie vermutlich Malmgrens Stifte und Pinsel enthielt, vielleicht auch irgendwelche Farben.

Sie gingen die Steigung zum Posthaus hinauf. Johanna konnte Malmgrens Gesicht nicht sehen, da sie nebeneinanderher gingen, aber sie merkte, dass er lächelte. Sie blieb an der Hecke stehen; es war nicht nötig, dass er sie den ganzen Weg begleitete.

»Hier möchte ich mich für die Hilfe bedanken«, sagte sie.

»Wann haben Sie Zeit, mir die Gegend zu zeigen?«, fragte er.

»Heute Abend vielleicht, nach acht Uhr, wenn ich nicht vorher gebeten werde, bei etwas Unvorhergesehenem im Haushalt zu helfen.«

»Lassen Sie uns hoffen, dass so etwas nicht passiert. Ich warte hier gegen acht Uhr.«

Der Nachmittag verging rasch. Johanna säuberte den Fisch, half Laura bei der Vorbereitung des Abendessens, servierte bei Tisch, aß schnell selbst etwas in der Küche, räumte ab, spülte und brachte das Speisezimmer in Ordnung.

Um fünf nach acht ging sie hinaus. Per Johan Malmgren wartete schon. Sie nahmen den Weg um das Posthaus herum, an der Hütte des Postschaffners vorbei, folgten dem Pfad hinunter zum Sandstrand unterhalb des Aussichtsberges. Sie setzten sich auf einen Felsbrocken und blickten über das Meer. Malmgren fragte, ob er Du zu Johanna sagen dürfe. Sie antwortete, das könne er gerne tun. Er bat sie, ihn Per Johan zu nennen.

Dann fragte er, ob er ihr Alter raten dürfe, und als sie antwortete, dass er auch das gerne tun könne, schlug er vierundzwanzig Jahre vor.

»Ich bin am fünfzehnten Januar 1786 geboren«, antwortete Johanna.

»Das macht einundzwanzig Jahre, ich habe mich um ganze drei Jahre geirrt.«

»Ich habe schon oft hören müssen, dass ich alt aussehe.«

»Alt ist nicht der richtige Ausdruck, liebe Johanna, älter vielleicht, aber alt bist du noch lange nicht. Ich bin wahrscheinlich ein alter Mann, obwohl ich mich noch jung fühle.«

Johanna fragte nicht nach Per Johans Alter. Er sah aus, als ob er kurz über vierzig sei. Aber was wollte er von ihr? Dieser Gedanke kam ihr zum ersten Mal. Sie entschied sich für die Annahme, dass er ganz arglos nur eine nette Bekanntschaft machen wollte.

Die Sonne stand im Südwesten, der Strand lag im Schatten der steilen Felswand des Aussichtsberges, die ins Meer hinunterreichte, ein dunkelgrünes Feld direkt am Ufer, ein scharfer Übergang zu dem in der Sonne glitzernden Wasser einige Meter weiter draußen. Der Felsbrocken, auf dem Johanna und Per Johan saßen, lag genau in der Schattenlinie.

»Ich würde dich gerne vor dem Hintergrund des schwarzen Berges zeichnen«, sagte Per Johan. »Wenn du dort sitzen bleiben und den Kopf ein wenig heben würdest.«

Er setzte sich ziemlich dicht neben ihr zurecht, öffnete die kleine Kiste, nahm einen dünnen spitzen Stift heraus und rollte einen Papierbogen auf. Johanna stellte sich auf eine längere Sitzung ein, aber nach einer halben Stunde legte Per Johan den Stift beiseite und reichte ihr die Zeichnung.

Sie sah sich selbst auf dem Blatt Papier und fand, dass es sehr ähnlich war. Es war ein kleines Bild, nicht größer als ein Reichstaler, die Linien waren mit einem schwarzen Stift gezeichnet, außerdem hatte Per Johan noch blasse Farben verwendet. Er hatte viele kleine Details gezeichnet, die hellen Haarsträhnen, die kleinen Falten auf der Oberlippe, die entstanden, wenn sie lächelte, das kleine Muttermal unter dem linken Auge. Es war wirklich erstaunlich, wie gut es ihm gelungen war, ihre Züge einzufangen.

»Das bin ich tatsächlich«, sagte sie.

»Ich kann dich auch in Öl malen, aber das nimmt mehr Zeit in Anspruch.«

»Machst du oft solche kleinen Bilder von Menschen?«

»Ja, meistens fertige ich kleine Portraits an, die man mit auf die Reise nehmen kann, vielleicht steckt ein lieber Freund das Bild auch in ein Medaillon.«

Johanna betrachtete das kleine Portrait noch einmal. Die Augen waren fast lebendig. Per Johan war offenbar ein geschickter Maler.

»Du bekommst das Bild«, sagte er.

»Das ist ein schönes Geschenk, ich danke dir.«

»Hier, wickele ein Papier darum, aber warte noch eine Weile, damit die Farbe richtig trocken werden kann.«

Er reichte ihr einen seiner weißen Papierbögen, und sie faltete ihn in der Mitte, ließ ihn dann jedoch auf dem Stein liegen. Sie legte das kleine Portrait daneben, es war so leicht und zart wie ein Laubblatt. Aber es war ja windstill.

Sie blieben eine Weile nebeneinander sitzen und betrachteten den Horizont im Osten, und in diesem Augenblick fühlte sich Johanna auf eine ganz besondere Art und Weise geschätzt.

Ein Segelschiff lag weit draußen ruhig auf dem Meer. Per Johan sagte etwas über die Schwierigkeiten, die große Schiffe hatten, wenn sie in Landnähe segelten. Man wusste ja nicht immer, wie tief das Wasser war.

»Es ist wohl für die Seeleute genauso wie für uns andere, wenn wir in den Wald gehen«, sagte Johanna. »Man geht dort von Kindheit an, kennt jedes Grasbüschel, und dann findet man sich auch im Dunkeln zurecht.«

»Ich möchte gerne etwas über die Strände und alle Untiefen da draußen erfahren.«

»Ja, dann musst du wohl herumgehen und es dir ansehen oder jemanden fragen, der Bescheid weiß.«

»Kannst du mir helfen?«

»Etwas kann ich sicher erzählen, aber die Fischer und Bootsleute wissen das am besten, du kannst sie wohl fragen.«

»Ich möchte nicht neugierig wirken. Vielleicht kannst du für mich fragen?«

»Bist du an irgendeiner Stelle besonders interessiert?«

»Ja, das bin ich tatsächlich. Wie tief ist das Wasser zwischen Loskäret und der Küste, das möchte ich gerne wissen. Und wie verhält es sich mit den kleinen Inseln vor Skatudden, kann man zwischen ihnen und dem Festland segeln?«

»Darüber weiß ich nichts.«

»Kannst du das für mich in Erfahrung bringen? Aber sag nicht, dass ich es wissen möchte. Das bleibt unter uns.«

»Selbstverständlich, wenn du das so willst.«

»Ja, du weißt ja, die Leute bilden sich oft so viel ein.«

So waren sie sich einig geworden, saßen noch eine Weile schweigend da, begannen dann, über Stockholm zu reden. Diejenige, die fragte, war Johanna. Per Johan verglich die Hauptstadt mit anderen Großstädten, er war sowohl in Petersburg als auch in Riga gewesen.

Anfang August wurde es etwas kühler; der Wind kam aus Südwesten, trockener Landwind, der den Duft von Äckern und Wiesen mit sich führte. Im Windschutz der Wälder und Felsen lag das Wasser in Strandnähe fast unbewegt da, weiter draußen auf dem Åländischen Meer konnte man sehen, wie die Wellen sich auftürmten und weiße Kronen bekamen. Gegen Abend legte sich der Wind, um dann am nächsten Morgen wieder an Stärke zuzunehmen.

Johanna hatte Per Johan noch ein paar Mal kurz getroffen, er war mit seinen Zeichnungen beschäftigt. Er zeichnete die Strände, den Hafen und die Schären. Johanna bat ihn, ihr etwas zu zeigen, er wirkte recht ablehnend, zeigte ihr aber doch einige Bilder. Sie enthielten viele Einzelheiten. Johanna hatte den Eindruck, er sei oben in der Luft gewesen und habe auf die Erde hinuntergeblickt. Das jedoch war ja unmöglich. Es war wohl nur so, dass es auf dem Papier so wirkte. Das sagte sie ihm.

 

»Es sieht ja fast wie eine Landkarte aus«, sagte sie. »Oder es ist so, als ob man vom Aussichtsberg herabschauen würde, wenn du verstehst, was ich meine. Man hat das Gefühl, man stehe hoch oben.«

»Ja, vielleicht«, antwortete er. »Es sieht jedoch nur so aus, es sind die alten Felsen und Inseln, nichts anderes. Ich finde sie schön, deshalb zeichne ich sie.«

Dann fragte er, ob Johanna schon nach den Dingen gefragt habe, um die er sie gebeten hatte. Ja, sie hatte einen der Männer gefragt, die mit dem Postboot hinausfuhren. Er hatte gesagt, dass das Wasser zwischen Loskäret und dem Festland befahrbar sei, sogar zwischen dem Festland und den äußeren Schären gab es eine Fahrrinne, hatte er gesagt.

Per Johan hatte sich für die Hilfe bedankt. Er wollte nicht mehr lange in Grisslehamn bleiben, er hatte die Zeichnungen gemacht, die er brauchte, andere Pflichten riefen ihn jetzt. Er wollte jedoch Johanna gerne noch einmal treffen, vielleicht konnten sie einen Spaziergang machen, ehe er abreiste?

Sie verabredeten sich für denselben Abend.

Sie gingen hinaus bis Skatudden. Er hatte ihre Hand ergriffen, und sie fühlte sich sicher, es kam ihr vor, als ob sie wieder mit ihrem Vater im Dunkeln durch den Wald ging, und er sie an der Hand hielt.

In der darauf folgenden Woche regnete es zum ersten Mal richtig kräftig. Johanna befand sich auf dem Weg nach Hause, zum Hof Nygården, und sie war aufgebrochen, als der Regen eine kurze Pause eingelegt hatte; aber bald begann es wieder zu regnen, und sie war nass, ehe sie zuhause angekommen war.

Sie ging in Gedanken versunken. In letzter Zeit war viel geschehen. Zwei Männer hatten sie treffen wollen, beide waren älter als sie, Karl David würde in wenigen Jahren dreißig, Per Johan war noch älter, aber dagegen hatte sie nichts. Beide hatten sich ihr gegenüber freundlich und aufmerksam verhalten. Plötzlich sah sie sich selbst mit einem eigenen Kind. Aber als sie darüber nachdachte, wünschte sie sich keinen der beiden Männer als Vater für ihr Kind. Beide waren freundlich und zuvorkommend, aber sie wusste, dass sie für keinen von beiden Liebe empfand.

Die Vorstellung von einem Kind wurde beiseite geschoben von dem Gedanken an den drohenden Krieg. Bis jetzt hatte noch niemand deutlich ausgesprochen, Schweden würde in den großen Krieg mit hineingezogen werden, aber man hatte trotzdem inzwischen den Eindruck, dass die Gefahr eines Krieges immer näher rückte.

Ein schwedischer Kurier aus Petersburg war auf dem Weg nach Stockholm vorbeigekommen und hatte auf Pferd und Wagen gewartet. Johanna hatte den müden Mann, der in Gesellschaft des Postmeisters aß, bei Tisch bedient. Sie hatte Teile des Gesprächs gehört. Der Kurier hatte nicht viel erzählt, aber sie begriff trotzdem, dass er schlechte Nachrichten mitbrachte.

Spät am Abend hörte sie, wie der Postmeister und Magister Lindman über den Krieg sprachen. Johanna hatte erfahren, dass sich Frankreich und Russland geeinigt hatten, sie forderten, dass Schweden alle Häfen für englische Schiffe sperren und England den Krieg erklären sollte. Falls König Gustav IV. Adolf sich weigern sollte, würde man Schweden als Feind betrachten.

Lindman hatte gesagt: »Der König will nicht einsehen, was das Beste für das Land ist.« Darauf hatte der Postmeister geantwortet: »Wir dürfen in diesem Haus solche Äußerungen nicht erlauben, lieber Lindman.«

Johanna hatte zugehört und sich die Worte gemerkt, jetzt dachte sie wieder daran, überlegte und fühlte sich beunruhigt, ging im Regen nach Hause und kümmerte sich nicht darum, dass sie nass wurde.

Sie ging nach Hause, um ihre Familie zu besuchen, nicht um über Nacht zu bleiben. Sie übernachtete jetzt nur noch sehr selten dort. Während der ersten Jahre im Posthaus war sie bisweilen mehrere Tage zuhause gewesen, das war mit Laura und der Frau des Postmeisters so vereinbart worden. Als Birgitta jedoch ihre Stelle aufgab, wurden die Anforderungen, die an Johanna gestellt wurden, größer. Sie war nicht durch eine Kleinmagd ersetzt worden, obwohl Laura das so gewollt hatte. Es war jedoch die Frau des Postmeisters, die über das Haushaltsgeld bestimmte.

Als sich Johanna jetzt dem Hof näherte, stürmte eine Flut von Gedanken auf sie ein: Männer, Kinder, Kriegsdrohung, Unruhe, Zukunft, Dinge, die sie in der Zeitung gelesen hatte, und dann der verschwundene Vater, der sich immer noch irgendwo in ihren Gedanken befand. Kurze Erinnerungsbilder, die Kindheit, das Warten, wenn er auf See war, die Sorge der Mutter, das Nachhausekommen, seine warme Hand, das Schlafen in der Kammer der Eltern, seine ruhigen Atemzüge.

Immer war der Vater zugegen, als Erinnerung, als Sehnsucht und nagende Ungewissheit, trotz all der Jahre, die vergangen waren. Noch hatte niemand Johanna von den genaueren Umständen des Schiffbruchs erzählt, und sie ließ niemanden hinein in ihren Traum, in dem der Vater immer noch lebte. Zwischen ihr und dem Vater bildeten die Gedanken eine Brücke in die Vergangenheit, eine Hoffnung, die manchmal durch plötzliche Zweifel und Einsicht aus ihrer Verankerung gerissen wurde.

Dann jedoch drehte sie die Erinnerung zurück, stellte sich wieder dieselben Bilder vor, fand bald zurück auf sicheren Grund. Es war eine gute Angewohnheit, verknüpft mit anderen Gedanken, verwoben mit dem Alltäglichen. Der Vater lebte für immer in Johannas Bewusstsein, unter allem anderen, wie das rieselnde Schmelzwasser im Frühjahr unter der dünnen Eisschicht, die sich des Nachts zwischen den Grasbüscheln vor dem Haus gebildet hatte, ehe sie den Fuß darauf gesetzt hatte und durchgestiegen war, ehe das leichte, krachende Geräusch kam, einen unbedeutenden Augenblick, den sie verlängerte und an den sie sich zu erinnern suchte, wenn sie alles andere von sich weggeschoben hatte.

Sie ging über den Hofplatz, sah das Haus, die Hopfenranken, die Johannisbeerbüsche, sie war zuhause, und jetzt dachte sie nur noch an das, was sie sah.

Ihre Mutter Maria saß am Küchentisch, vor sich hatte sie Dill und frische Kartoffeln, Felchenfilet und Zwiebeln, sie schnitt und hackte. Johanna setzte sich ihr gegenüber, ergriff ein Messer und begann, eine der gelben Zwiebeln zu schälen.

»Ist Lars zuhause?«, fragte sie.

»Ich wünsche, ich wüsste es«, antwortete Maria.

»Ist er häufig nicht da?«

»Er war den ganzen Sommer über viel zuhause, aber in der letzten Zeit ist wieder irgendetwas vorgefallen.«

»Etwas mit Filip?«

»Ja.«

»Hat Lars erfahren, dass ich kommen wollte?«

»Nein, aber trotzdem weiß er es auf irgendeine seltsame Weise.«

Johanna nahm sich die nächste Zwiebel. Ihre Mutter schichtete Felchenscheiben und Zwiebelringe mit dem Dill und den Kartoffelscheiben in einem Tongefäß übereinander. Johanna hatte gefragt, was sie wissen wollte. Maria hätte fragen können, wie es im Posthaus stand, aber sie tat es nicht.

Lars kam am späten Nachmittag. Er setzte sich an den Tisch, begrüßte Johanna nicht, sah sie an, lächelte vielleicht, ein schwaches, unruhiges Lächeln.

Sie grüßte, fragte, wie es ihm ging, ob er etwas Nettes unternommen habe. Sie erwartete keine Antwort, merkte trotzdem, dass er etwas sagen wollte.

Er trank ein Glas Milch, holte dann die Bibel heraus, schlug sie auf und las darin. Er las recht schnell, wie man der Geschwindigkeit entnehmen konnte, mit der er die Seiten umblätterte.

Johanna setzte sich neben ihn, beugte sich vor, es war die Offenbarung des Johannes. Lars hielt den Zeigefinger unter die Zeile, die er las. Johanna folgte ihm. Es handelte von den sieben Engeln und den sieben Plagen. Und jetzt hörte Johanna, wie Lars leise vor sich hin murmelte, während er las. Sie neigte sich noch näher zu ihm hin und konnte seine Worte hören: