Und er bewegt sie doch

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Und hier kommen wir zum zweiten und entscheidenden Wort: ‚Gehorsam‘. Wenn der Frieden seine äußere Charakteristik war, so stellte der Gehorsam für Roncalli die innere Haltung dar: Der Gehorsam war in Wirklichkeit das Werkzeug, um den Frieden zu erlangen. Er hatte zunächst eine ganz einfache und konkrete Bedeutung: in der Kirche die Aufgaben erfüllen, die die Vorgesetzten ihm aufgetragen hatten, ohne dabei eigene Interessen zu verfolgen, sich vor nichts von dem zu drücken, was von ihm verlangt wurde, auch wenn das bedeutete, dass er seine Heimat verlassen und sich mit ihm völlig fremden Welten auseinandersetzen musste und jahrelang an Orten zu leben, wo es kaum Katholiken gab. Diese Bereitschaft, sich wie ein Kind führen zu lassen, prägte den Weg, den er als Priester durchlief und den ihr bestens kennt, vom Sekretär von Bischof Radini Tedeschi und gleichzeitigen Dozenten und geistlichen Vater im Diözesanseminar angefangen bis hin zum Päpstlichen Nuntius in Bulgarien, in der Türkei und Griechenland, in Frankreich, als Hirte der Kirche von Venedig und schließlich als Bischof von Rom. Durch diesen Gehorsam hat der Priester und Bischof Roncalli allerdings auch eine noch tiefere Treue gelebt, die wir, wie er es ausgedrückt hätte, als Hingabe an die göttliche Vorsehung bezeichnen könnten. Er hat im Glauben immer erkannt, dass durch diesen Lebensweg – der allem Augenschein nach von anderen und nicht von seinen eigenen Vorlieben oder ausgehend von seiner persönlichen spirituellen Sensibilität gelenkt wurde – Gott seinen eigenen Plan verwirklichte. Er war ein Mann der Leitung, eine Führernatur. Aber ein Führer, der selbst im Gehorsam vom Heiligen Geist geführt wurde …

Und das ist eine Lehre für einen jeden von uns, ebenso aber auch für die Kirche unserer Zeit: Wenn wir es verstehen, uns vom Heiligen Geist führen zu lassen, wenn wir es verstehen, unseren Egoismus abzutöten, um Raum zu schaffen für die Liebe des Herrn und für seinen Willen, dann finden wir den Frieden, dann werden wir Werkzeuge des Frieden sein können und Frieden um uns verbreiten. 50 Jahre nach seinem Tod sind die weise und väterliche Führung durch Papst Johannes, seine Liebe zur Tradition der Kirche und das Wissen um die unablässige Notwendigkeit des ‚Aggiornamento‘, die prophetische Intuition der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils und das Opfer seines eigenen Lebens für dessen gutes Gelingen weiterhin Meilensteine in der Geschichte der Kirche des 20. Jahrhunderts und ein klarer Orientierungspunkt für den Weg, der vor uns liegt.“

Eine Liebeserklärung an Papst Johannes ist diese Ansprache an seine Diözesanen. Aber mehr als das: Es ist ein deutlicher Hinweis, dass er selber in der Spur dieses Vorgängerpapstes gehen will.

Papst Franziskus – der Jesuit

Papst Franziskus ist nach dem Kamaldulensermönch Gregor XVI., der 1831 gewählt wurde, wieder ein Ordensmann als Papst. Dieser war vor allem geprägt durch seine defensive Haltung der Welt gegenüber. Die Enzyklika „Mirari vos“, die Meinungsfreiheit und Pressefreiheit verurteilte und das ganze Jahrhundert prägen sollte, ist ein sprechendes Beispiel für den Geist dieses Pontifikats.

Papst Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Papstthron. Viele hatten erwartet, er würde sich vielleicht Papst Clemens XV. nennen. Clemens XIV. hatte 1773 den Jesuitenorden aufgehoben – wäre das jetzt nicht eine Gelegenheit zum „Rollback“?

Doch Franziskus bezieht sich auf den Ordensgründer Ignatius und beherzigt seine Maxime: „Non coerceri a maximo, sed contineri a minimo divinum est.“ Tagtäglich die großen und die kleinen Dinge des Alltags mit einem großen und für Gott und für die anderen offenen Herzen zu erledigen, so übersetzt Franziskus diese Maxime. Das heißt für ihn: die kleinen Dinge wertzuschätzen im Horizont des Reiches Gottes.

Zum anderen sieht er den Jesuitenorden als exemplarische Verwirklichung einer dezentrierten Kirche. Die Gesellschaft Jesu darf nicht ihre eigene Struktur in den Mittelpunkt stellen, das macht sie selbstgenügsam und egozentrisch. Sie muss vielmehr den „Deus semper maior“ vor sich haben, das führt sie aus sich heraus an die Grenzen, an die Ränder der Gesellschaft.

Und es gibt für Franziskus viele Grenzen. Eine für ihn biografisch wichtige Grenzerfahrung war die Begegnung mit einer Krankenschwester: „Denken wir an die Schwestern, die in den Kliniken arbeiten: Sie leben an Grenzen. Dass ich noch lebe, verdanke ich einer von ihnen. Als ich im Krankenhaus Probleme mit der Lunge hatte, gab mir der Arzt Penicillin und Streptomycin in bestimmten Dosen. Die Schwester, die ich hatte, hat die Dosis verdreifacht, denn sie hatte ein Gespür dafür. Sie wusste, was sie tun sollte, denn sie war den ganzen Tag bei den Kranken. Der Arzt, der wirklich tüchtig war, lebte in seinem Laboratorium, die Schwester lebte an der Grenze und sprach den ganzen Tag mit der Grenze.“6 Diese Lebenserfahrung wurde für Franziskus auch zur Kirchenerfahrung: Kirche kann im Labor bleiben, Regeln hüten und Gesetzmäßigkeiten aufstellen. Sie kann aber auch mit diesen Regeln so umgehen, dass sie für Menschen nicht nur nützlich, sondern lebensrettend sind. Tradition und Erinnerung müssen den Mut ausprägen helfen, neue Räume und Erfahrungen für heute zu erschließen: Wer immer auf disziplinäre Lösungen setzt, die Sicherheit in der Lehre sucht, macht den Glauben zur Ideologie.

Verhaltene Reaktion der Jesuiten auf die Wahl ihres Mitbruders

Die Reaktionen der Jesuiten auf die Wahl ihres Mitbruders waren durchaus gemischt. Martin Maier SJ, der Lateinamerikaexperte des Ordens, der heute in Brüssel lebt, hält fest: „Persönlich habe ich ihn nie kennengelernt, doch in Lateinamerika habe ich einiges über ihn gehört, und zwar eher Zwiespältiges: auf der einen Seite seine Radikalität und Glaubwürdigkeit, auf der anderen Seite, dass er die argentinische Jesuitenprovinz polarisierte, ja spaltete.

Meine erste Reaktion auf seine Wahl: Ich war schockiert. In unseren Ordenskonstitutionen, unserem Bauplan ist es nicht vorgesehen, dass ein Jesuit Papst wird. Wir legen sogar ein eigenes Gelübde ab, nicht nach kirchlichen Ämtern und Würden zu streben. Dann gibt es noch das besondere Papstgelübde der Professen, das sich auf die Sendungen bezieht: Der Papst kann demnach einem Jesuiten ganz persönlich oder dem Orden insgesamt einen besonderen Auftrag geben. Wie würde das gehen, wenn ein Jesuit Papst ist?“

Doch der erste Schock wurde bald schon von einer Reihe von positiven Überraschungen abgelöst durch die vielen Zeichen und Gesten, mit denen dieser Papst einiges anders machte als seine Vorgänger. Schließlich kam er in eine Phase der Hoffnung, dass Papst Franziskus längst überfällige Veränderungen und Reformen im Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und im Geist des Evangeliums in die Kirche bringt.

In zahlreichen Äußerungen und Interviews als Papst lässt er keine Zweifel daran, dass seine geistlichen Wurzeln in der ignatianischen Spiritualität liegen.

Franziskus und die ignatianische Spiritualität7

Die ignatianische Spiritualität geht auf Ignatius von Loyola, den Gründer des Jesuitenordens, zurück. 1491 in eine baskische Adelsfamilie geboren, strebte er nach einer höfischen und militärischen Karriere. Bei der aussichtslosen Verteidigung der Festung von Pamplona gegen die Franzosen zertrümmerte ihm eine Kanonenkugel den Unterschenkel und zwang ihn auf ein langes Krankenlager. Er schwebte eine Zeitlang zwischen Leben und Tod. Während der langwierigen Genesung fängt er an, sich selbst zu beobachten. Genauer: Er registriert unterschiedliche Regungen, Stimmungen – mociones nennt er das auf Spanisch – in sich. Er liest Ritterromane und begeistert sich für die Heldentaten der Ritter, die er nachahmen möchte. Doch dann stellt er fest, dass nach einer anfänglichen Begeisterung ein schaler Nachgeschmack bleibt.

Nachdem die Ritterromane im Schloss von Loyola ausgelesen sind, greift er mehr der Not gehorchend zu Heiligengeschichten. Bei der Vorstellung, die Heiligen – den heiligen Franziskus oder den heiligen Dominikus – nachzuahmen, empfindet er dauerhaft positive mociones. Später, in den Exerzitien, wird er das consolación, Trost, nennen. Das sind die tiefsten Wurzeln ignatianischer Spiritualität. Ignatius entdeckt die Unterscheidung der Geister. Dabei geht er davon aus, dass im Menschen unterschiedliche Kräfte wirken: die einen aufbauend, lebensfördernd und dauerhaft zum Glück führend; die anderen destruktiv, lebenshemmend und ins Unglück führend. Ignatius bringt die positiven Kräfte mit dem „guten Geist“, mit Gott und mit Jesus in Verbindung, die negativen mit dem „bösen Geist“ und dem Teufel. Das erklärt auch, warum Papst Franziskus relativ häufig und vorreflexiv vom Teufel spricht.

Eine Voraussetzung der Unterscheidung der Geister ist, dass Gott mit dem Menschen in Beziehung steht, ihm seinen Willen nicht verbirgt. Deshalb lautet eine Kurzformel ignatianischer Spiritualität: den Willen Gottes suchen und finden. Dieser Wille Gottes zeigt sich in den inneren Regungen und Bewegungen, den mociones. Doch dafür braucht es differenzierte Regeln zur Unterscheidung der Geister, ein Kernstück der Exerzitien.

Die Kunst der Unterscheidung der Geister besteht darin, diese unterschiedlichen Kräfte wahrzunehmen und auf ihren Ursprung und ihr Ziel hin zu untersuchen. Dies steht im Zentrum der „Geistlichen Übungen“ des Ignatius, der Exerzitien. „Trost“ und „Trostlosigkeit“ weisen die Richtung für richtige Entscheidungen. In insgesamt 24 Regeln zur Unterscheidung der Geister gibt Ignatius differenzierte Anhaltspunkte, aus den unterschiedlichen inneren Stimmungen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wichtig sind im Prozess der Exerzitien neben intensiven Gebetszeiten auch die regelmäßigen Gespräche mit einem erfahrenen Begleiter.

 

Ignatius von Loyola hat die menschliche Freiheit so ernst genommen, dass man ihn sogar als „Existentialist vor der Zeit“ bezeichnet hat. An den Anfang des Hingabegebetes in den Exerzitien stellt er bewusst die Freiheit: „Nimm hin Herr, und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen Verstand und meinen ganzen Willen, all mein Haben und mein Besitzen. Du hast es mir gegeben; Dir, Herr, gebe ich es zurück. Alles ist Dein, verfüge ganz nach Deinem Willen. Gib mir nur Deine Liebe und Deine Gnade, das ist mir genug.“

Das Exerzitienbuch ist eine Art Anleitung, den Willen Gottes zu suchen und zu finden. Karl Rahner hat die Theologie der Exerzitien als „Aussage von Heilsgeschichte“, in der Gott je neu und unberechenbar mit dem Menschen handelt, verstanden.

Im Brief an seinen Bruder Hugo zu dessen 65. Geburtstag formuliert Karl Rahner, „dass unser Vater (gemeint ist Ignatius) nicht nur ein sehr frommer Mann war (was eben zu jedem Heiligen gehört), sondern mit ihm eine neue Theologie anfängt, gelebt zu werden, die in theologischer Reflexion einzuholen eine noch nicht bewältigte Aufgabe ist, eine Aufgabe, deren Gelingen sehr wesentlich das Schicksal der katholischen Theologie der Zukunft mitentscheiden wird.“8

In diese Tradition stellte sich auch Papst Franziskus in seiner Ansprache an die Jesuiten der italienischen Zeitschrift La Civiltà Cattolica am 14. Juni 2013: „Ein Schatz der Jesuiten ist die geistliche Unterscheidung, die danach strebt, die Gegenwart des Geistes Gottes in der menschlichen und kulturellen Wirklichkeit zu erkennen, den bereits gepflanzten Samen seiner Gegenwart in den Ereignissen, in den Sensibilitäten, in den Wünschen, in den tiefen Spannungen der Herzen und der sozialen, kulturellen und geistlichen Umfelder.“

Noch einmal Papst Franziskus: „Die Unterscheidung erfolgt immer in der Gegenwart des Herrn, indem wir auf die Zeichen achten, die Dinge, die geschehen, hören, mit den Menschen, besonders mit den Armen, fühlen. Meine Entscheidungen, auch jene, die mit dem normalen Alltagsleben zu tun haben, wie die Benützung eines einfachen Autos, sind an eine geistliche Unterscheidung gebunden, die auf ein Erfordernis antwortet, das durch die Umstände, die Menschen und durch das Lesen der Zeichen der Zeit entsteht. Die Unterscheidung im Herrn leitet mich in meiner Weise des Führens.“

Gottes Geist und sein Wirken betreffen also nicht nur die geistliche Innerlichkeit, sondern auch die soziale und kulturelle Wirklichkeit. Gott möchte den Menschen nicht nur in seiner Innerlichkeit berühren, sondern auch die soziale und geschichtliche Wirklichkeit verändern, gerechter, menschlicher und damit auch göttlicher machen.

Dafür ist in den Exerzitien die Betrachtung der Menschwerdung von zentraler Bedeutung (GÜ 101–109).9 Die göttlichen Personen sehen in einem ersten Schritt die katastrophale Situation von Welt und Menschheit. Sie urteilen (nicht im Sinn von verurteilen!) im zweiten Schritt, dass hier etwas geschehen muss. Und sie beschließen im dritten Schritt etwas zu tun, nämlich die Erlösung der Menschen durch die Menschwerdung des Sohnes.

Im spanischen Urtext heißt diese Stelle: „Hagamos redención“ – „Machen wir Erlösung“. Die göttlichen Personen werden von Mitleid angerührt bei all dem Leiden und Unglück, das sie sehen. Und sie sind entschlossen: So können wir das nicht weiterlaufen lassen. Wir müssen etwas tun. Sie beschließen die Menschwerdung der zweiten Person, „um das Menschengeschlecht zu retten“. Diesem Beschluss folgt unmittelbar die Sendung des Engels Gabriel: Die Menschwerdung nimmt ihren Anfang im ganz Kleinen, Geringen, Armen, in der Kammer von Maria in Nazareth. Damit ist die Grundbewegung der Inkarnation vorgezeichnet: vom göttlichen Reichtum in die menschliche Armut, von der Allmacht in die Machtlosigkeit.

Dem armen und demütigen Jesus nachfolgen

Das Thema der Armut ist bei Ignatius zentral. Die zweite Woche der Exerzitien will dazu hinführen, dem „armen und demütigen Jesus“ nachzufolgen, um an seinem Erlösungswerk mitzuwirken. So lädt Ignatius im Anschluss an die Betrachtung der Menschwerdung ein, die Heilige Familie zu betrachten, das heißt „schauen und erwägen, was sie tun, wie etwa das Wandern und Sich-Mühen, damit der Herr in höchster Armut geboren werde und damit er am Ende so vieler Mühen in Hunger, in Durst, in Hitze und in Kälte, in Beleidigungen und Anfeindungen am Kreuz sterbe; und dies alles für mich“ (GÜ 116).

Entscheidend ist für Ignatius die persönliche Nachfolge: Jesus hat in Armut gelebt, und darin möchte er ihm ähnlich werden. So heißt es im Ruf des Königs: „Deshalb muss, wer mit mir kommen will, zufrieden sein, zu essen wie ich und genauso zu trinken und sich zu kleiden usw.“ (GÜ 93). Die Antwort darauf im Angebot an Christus lautet dementsprechend: „Euch darin nachzuahmen, alle Beleidigungen und alle Schmach und alle sowohl aktuale wie geistliche Armut zu erdulden“ (GÜ 98).

In den „Regeln für den Dienst der Almosenverteilung“ wird exemplarisch deutlich, dass Richtschnur und Kriterium für das Handeln Jesus ist: „Aus den bereits genannten Gründen und aus vielen anderen ist es immer besser und sicherer, je mehr man sich in dem, was die eigene Person und den eigenen Hausstand angeht, einschränkt und vermindert und je mehr man sich unserem Hohenpriester annähert, unserem Vorbild und unserer Regel, nämlich Christus unserem Herrn“ (GÜ 344). Ignatius erinnert an das Konzil von Karthago, das unter Anwesenheit des heiligen Augustinus verordnet habe, „dass der Hausrat des Bischofs gering und arm sei“ (GÜ 344). Schließlich erwähnt er als Beispiel für den Ehestand den heiligen Joachim und die heilige Anna, die ein Drittel ihres Vermögens den Armen gaben, ein weiteres Drittel für die Verwaltung und den Dienst des Tempels und den Rest für den Unterhalt ihrer Familie.

Die Liebe mehr in die Werke als in die Worte legen – der Primat der Praxis

Die Wahrheit des Evangeliums muss „getan“ werden. Man erkennt Jesus dadurch, dass man ihm nachfolgt. Die Nachfolge verwandelt eine erkenntnisrelevante Kategorie in ein grundlegendes hermeneutisches Prinzip. In der Betrachtung zur Erlangung der Liebe der vierten Exerzitienwoche unterstreicht Ignatius, „dass die Liebe mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden muss“. Man kann hier vom Primat der Praxis sprechen.

Ignacio Ellacuría rechtfertigt die der Theologie der Befreiung eigene Unterordnung der Orthodoxie unter die Orthopraxie mit dem ignatianischen und letztlich evangeliumsgemäßen Prinzip, dass die Liebe mehr in die Werke als in die Worte gelegt werden muss. Dem entspricht auch die Kurzformel der ignatianischen Spiritualität des „contemplativus in actione“. Ellacuría erweitert die ignatianische Formel in „contemplativus in actione iustitiae“: „Eine Kontemplation … in der Aktion der Gerechtigkeit ist der christliche Weg, zu Gott zu finden und Gott zu den Menschen zu bringen.“ Ignatianische Spiritualität möchte dazu helfen, Gott in allen Dingen zu finden und das alltägliche Leben am Geist des Evangeliums auszurichten.

Das unterstreicht auch Papst Franziskus: „Ignatius ist ein Mystiker, kein Asket. Ich ärgere mich, wenn ich jemanden sagen höre, die Geistlichen Übungen seien nur dann ignatianisch, wenn sie schweigend vollzogen werden. In Wirklichkeit können auch Exerzitien, die mitten im Lebensalltag und nicht schweigend vollzogen werden, vollkommen ignatianisch sein.“ Dementsprechend sagt er über das Gebet: „Ich bete jeden Morgen das Offizium. Ich bete gern mit den Psalmen. Dann feiere ich die Messe. Ich bete den Rosenkranz. Was ich aber vorziehe, ist die abendliche Anbetung – auch wenn ich zerstreut bin oder an anderes denke oder sogar beim Beten einschlafe. Also abends von sieben bis acht bin ich vor dem Allerheiligsten für eine Stunde der Anbetung. Aber ich bete auch im Geist, wenn ich beim Zahnarzt warte oder bei anderen Gelegenheiten am Tag.“ Das zeigt die tiefe Prägung von Papst Franziskus durch die ignatianische Spiritualität.

Jesuiten und Päpste: eine Konfliktgeschichte

Papst Franziskus ist der erste Jesuit auf dem Papstthron. Durch seine Namensgebung aber machte er sofort deutlich, dass es um keinen monastischen Egoismus geht. Franziskus und Ignatius werden in seiner Person zusammengeführt und zusammen gelesen.

Dass ein Jesuit Papst wurde, hatte in dieser Situation allerdings auch eine ganz besondere Brisanz. Man muss sich nämlich an die Konfliktgeschichte des Jesuitenordens mit den Vorgängerpäpsten erinnern. Konkret wird sie in der Gestalt des Generaloberen Pedro Arrupe.

Als Arrupe am 22. Mai 1965 zum 28. Generaloberen der Gesellschaft Jesu gewählt wurde, war er völlig überrascht. Ein Mitbruder, der neben ihm saß, gab ihm auf seine Frage, was er jetzt machen solle, die Antwort: „Ein letztes Mal gehorchen.“ Doch diese Antwort sollte sich nicht bewahrheiten: Arrupe wurde während seines 18jährigen Generalats auf schwere Gehorsamsproben gestellt.

Pedro Arrupe: Gott ist bei denen, die leiden

Wer war dieser Pedro Arrupe? Er wurde am 14. November 1907 in Bilbao als das jüngste von fünf Kindern geboren. Der Vater war Autodidakt, die Mutter Tochter eines Arztes. Pedro begann das Medizinstudium und entwickelte sich zu einem exzellenten Studenten. Ein besonderer Hang zur Musik war ihm eigen, der Opernbesuch gehörte zur fast täglichen Praxis. Auch seine Baritonstimme würde noch oft zum Einsatz kommen, auch später, wenn er als Generaloberer bei bestimmten Anlässen Lieder zum Besten gab.

Doch dann der Bruch.

Ein Freund lädt ihn ein, ein Mitglied der Vinzenz-Konferenz zu werden und arme Familien in den Vorstädten Madrids zu besuchen. Zum ersten Mal in seinem Leben kommt Arrupe mit sozialem Elend und ungerechten Verhältnissen in Berührung: „Ich gestehe unumwunden, das war eine neue Welt für mich. Ich begegnete der schrecklichen Last von Kindern, die nach Brot bettelten und niemand konnte es ihnen geben, und vor allem Kinder, viele Kinder, einige halb verlassen, wurden misshandelt, die meisten ungenügend gekleidet und gewöhnlich alle hungrig.“

Er kommt in eine Krise und fragt nach dem Sinn seines Lebens. Eine Frage, die sich nach dem plötzlichen Tod des Vaters verschärft. Im Juli 1926 wird er bei einer Lourdes-Wallfahrt Zeuge von drei außerordentlichen Heilungen. Das bringt sein Leben in eine völlig neue Bahn: „Ich habe Gott in seinen Wundern so nahe gefühlt, dass er mich gewaltsam zu sich hinzog. Ich habe ihn so nahe gesehen bei denen, die leiden, die weinen, die in diesem Leben verlassen sind und scheitern, dass sich in mir der glühende Wunsch entfachte, ihn nachzuahmen in dieser freudigen Nähe zu denen, die in dieser Welt nichts zählen, die die Gesellschaft verachtet, weil sie nicht einmal ahnt, dass es eine lebendige Seele unter so viel Schmerz gibt.“ Nicht so sehr die Wunder überzeugen Arrupe, sondern die Nähe Gottes zu den Leidenden, die darin zum Ausdruck kommt.

Am 25. Januar 1927 tritt Arrupe in den Jesuitenorden ein. Das Unverständnis seiner Umgebung ist groß, eine große Medizinerkarriere hätte ihm bevorgestanden. Nach seinem Philosophie- und Theologie-Studium wird Arrupe am 30. Juli 1936 zum Priester geweiht. Im selben Jahr schickt ihn sein Provinzial zum Spezialstudium in medizinischer Ethik in die USA.

Am 7. Juni 1938 erreicht ihn der lang ersehnte Brief seines Generaloberen; Arrupes größter Wunsch war es gewesen, nach Japan zu gehen, was aber zunächst abgelehnt wurde: „Nachdem ich es vor Gott erwogen und mit Ihrem Pater Provinzial besprochen habe, habe ich Sie für die Mission nach Japan bestimmt.“ Nach anfänglichen Schwierigkeiten und Inkulturationsproblemen, was Sprache, Essen und Kultur angeht, wird eine Messfeier auf dem Fujiyama zu einer überwältigenden Erfahrung; er lernt den deutschen Jesuiten Hugo Enomiya-Lassalle kennen, einen Brückenbauer zwischen Zen und Christentum und einen exzellenten Cellospieler. Arrupe überrascht Lassalle mit der Bitte, ihn zu seinen Liedern auf dem Cello zu begleiten. Eine tiefe Freundschaft beginnt. Arrupe lässt sich auf die japanische Kultur ein, übt sich im Bogenschießen, in der Teezeremonie, der Zen-Meditation und der japanischen Schreibkunst. Nach dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg wird Arrupe als Spion verdächtigt und verhaftet. Er verbringt Wochen in völliger Unsicherheit und Einsamkeit in einem Militärgefängnis. Diese Zeit wird für ihn zu einer ihn prägenden geistlichen Erfahrung: „Ich lernte die Wissenschaft des Schweigens, der Einsamkeit, einer harten und strengen Einsamkeit, das innere Gespräch mit dem Geist der Seele.“ Es sollten die lehrreichsten Monate seines Lebens werden.

Arrupe und Pepsi Cola

1942 wird Arrupe in der Nähe von Hiroshima zum Novizenmeister ernannt; am 6. August 1945 wird er Zeuge der Atombombenexplosion. Hiroshima gleicht einem brennenden Inferno: „Die Atombombe hatte auf die Stadt einen Strahl intensiven weißen Feuers geschüttet, und alle Brennstoffe, die damit in Berührung kamen, brannten wie Streichhölzer, die man in einen glühenden Ofen steckt. Als wäre das noch nicht genug, stürzten durch das Beben die Holzhäuser in die Flammen, so dass die Stadt wie ein einziges Großfeuer aussah.“ Er erinnert sich seiner Arztausbildung, macht aus dem Noviziatsgebäude ein improvisiertes Krankenhaus und nimmt Operationen vor, um den Menschen das Leben zu retten. 1954 wird er Vizeprovinzial der japanischen Provinz, 1958 Provinzial. Die Zahl der Jesuiten wächst von 126 im Jahr 1954 auf 426 im Jahre 1961.

 

Der rasante Zuwachs erweckt Misstrauen in Rom. Die zentrale Ordensleitung ernennt den holländischen Pater George Kester 1964 zum Visitator. Er muss einen Bericht über die japanische Provinz verfassen. Am 22. Mai 1965 wird Arrupe zum 28. Nachfolger des hl. Ignatius und als zweiter Baske zum Generaloberen der Gesellschaft Jesu gewählt. Die Wahl Arrupes war keineswegs unumstritten. Unter den vier Kandidaten der engeren Auswahl fielen erst im dritten Wahlgang die meisten Stimmen auf Arrupe. Der Kandidat des konservativen Flügels war der Italiener Paolo Dezza, der frühere Rektor der päpstlichen Universität Gregoriana.

Arrupe ändert sofort den Leitungsstil im Orden. Er, der selbst sieben Sprachen spricht, ist ein Mann der Kommunikation. Er sucht den Kontakt zu den Medien und wird ein gefragter Interviewpartner. Er richtet in der Kurie der Jesuiten ein eigenes Kommunikationsreferat ein. Aber auch die Kommunikation nach innen ändert sich: Im Speisesaal der über hundert in der Ordensleitung tätigen Jesuiten wird die alte klassische Sitzordnung durch Sechsertische ersetzt, eine Cafeteria eingerichtet mit einem Getränkeautomaten: Time Magazine bringt eine Titelgeschichte mit der Überschrift „Pedro Arrupe und Pepsi Cola“.

Arrupe nimmt an der letzten Sessio des Zweiten Vatikanischen Konzils teil, ebenso an der Zweiten Generalversammlung der Lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (1968). Er sieht in der entstehenden Theologie der Befreiung eine Bestätigung für seinen Einsatz für die weltweite Gerechtigkeit. Am 8. September 1975 beruft er die 32. Generalkongregation der Jesuiten ein. Sie findet vom 1. Dezember 1974 bis zum 7. März 1975 statt. Sie bestimmt die Sendung des Jesuitenordens in der Welt heute: Den Primat haben Glaube und Gerechtigkeit. Dieses Junktim führt zu großen Spannungen: mit den totalitären Regimes in Lateinamerika genauso wie mit der römischen Kurie. Einem Brief des Kardinalstaatssekretärs ist die Sorge abzulesen, dass der neue Akzent auf Förderung der Gerechtigkeit die priesterliche Ausrichtung des Ordens gefährden könnte. Und wirklich, es kommen häufig aus ganz Lateinamerika Beschwerden nach Rom über die zu politische Ausrichtung des Ordens. Anfang 1980 fasst dann Arrupe den Entschluss, entsprechend den neuen Statuten der 31. Generalkongregation aus Altersgründen zurückzutreten.

Verweigerter Rücktritt: Prüfung durch den Papst

Papst Johannes Paul II. erlaubte diesen Rücktritt nicht, er wollte die Jesuiten auf die Probe stellen, ob sie die offene Rebellion wählen würden. Er verbot die Einberufung der nächsten Generalkongregation, da er den Orden als nicht reif genug dafür ansah. Am 7. August 1981 erlitt Pedro Arrupe einen Schlaganfall. Am 6. Oktober besuchte ihn Kardinalstaatssekretär Casaroli und hinterließ auf dem Krankenbett einen Brief von Johannes Paul II. Darin stand, dass er einen persönlichen Delegaten mit allen Vollmachten zur Leitung der Gesellschaft Jesu bestellt habe: Es war der bei der Wahl Arrupes unterlegene Italiener Paolo Dezza. Am 27. Februar empfing der Papst alle Provinziale in Rom und bezeichnete diese Entscheidung als Prüfung. Weil aber sowohl Arrupe als auch der Orden so vorbildhaft gehandelt hätten, stellte er die Einberufung einer neuen Generalversammlung in Aussicht. Diese wurde am 2. September 1983 einberufen und wählte Peter Hans Kolvenbach im ersten Wahlgang zum Nachfolger von Arrupe. Arrupe hatte in den Wochen vor Beginn der 33. Generalversammlung sein persönliches und geistliches Testament formuliert, das er in der Aula verlesen ließ: „Mehr denn je befinde ich mich jetzt in Gottes Hand. Das habe ich mir mein ganzes Leben lang von Jugend auf gewünscht. Nun gibt es allerdings einen Unterschied: Heute liegt die Initiative ganz bei Gott. Mich so völlig in seinen Händen zu wissen und zu fühlen ist wahrhaft eine tiefe geistliche Erfahrung.“ Und er fügte das Hingabegebet aus den Exerzitien an. Arrupe starb am 5. Februar 1991 in Anwesenheit seines Nachfolgers Kolvenbach.

Franziskus und Arrupe

In vielen Dingen ähnelt Papst Franziskus seinem früheren Ordensgeneral, auch wenn er diesem zunächst skeptisch gegenübergestanden war. Arrupe lebte in persönlicher Anspruchslosigkeit und Armut. Er wusch seine Wäsche selbst, sein Traum war es, mit den Armen in der Via Appia zu wohnen. Er gründete am 14. November 1980 den Jesuiten-Flüchtlingsdienst, um auf die humanitäre Situation der Boatpeople zu reagieren. Hellsichtig sah er die Probleme der Zukunft voraus und forderte eine internationale Lösung. Auf dem Eucharistischen Weltkongress 1976 in Philadelphia bezeichnete er den Rüstungswettlauf als eine universale Schande. 1977 konstatierte er: „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer; der zahlenmäßige Unterschied zwischen den Reichen und Armen und der qualitative Unterschied ihres Lebensstandards wird ins Gigantische wachsen.“ Und er formulierte: „Für uns Jesuiten ist Christus zugleich Beispiel, Lebensform und Kraft; und zwar der arme Christus, der Gott dem Vater dient bis zur Hingabe seiner selbst.“ War das Zentralwort bei Arrupe Gerechtigkeit, so ist das zentrale Wort bei Franziskus Barmherzigkeit.

Für Papst Franziskus war Arrupe vor allem glaubwürdig durch sein Gebet: „Ich erinnere mich, wie er nach Art der Japaner am Boden sitzend lange Zeit im Gebet verbrachte. Dadurch(!) hatte er die richtige Haltung und traf die richtigen Entscheidungen.“

Peter Faber SJ: ein Alltagsmystiker

Kurz nach seinem Amtsantritt äußerte Papst Franziskus die Absicht, den ersten Priester der Gesellschaft Jesu, den sel. Peter Faber, heiligzusprechen. Dies erfolgte am 17. Dezember 2013, seinem 77. Geburtstag, nach einem verkürzten Verfahren, das in den letzten Jahren öfter angewendet wurde. Am 3. Januar 2014, dem Patronatsfest der Gesellschaft Jesu, hat der Papst den neuen Heiligen mit einer Messe in der Kirche Il Gesù verehrt. Mit der Eintragung in das Verzeichnis der Heiligen kann Peter Faber in der ganzen Kirche verehrt und gefeiert werden.

Papst Franziskus antwortete auf die Frage, was ihn zur Heiligsprechung bewogen habe: „Der Dialog mit allen, auch den Fernstehenden und Gegnern, die schlichte Frömmigkeit, vielleicht auch eine gewisse Naivität, die unmittelbare Verfügbarkeit, seine aufmerksame innere Unterscheidung, die Tatsache, dass er ein Mann großer und starker Entscheidungen und zugleich fähig war, so sanftmütig zu sein.“ Und Papst Franziskus betonte zugleich, dass Peter Faber für ihn ein Mystiker sei. Besonders bekannt ist das Bild vom umgekehrten Baum. Als Hirtenknabe dürfte Faber die Meditation von Bäumen vertraut gewesen sein. Am Ostersonntag 1543 brach sich für ihn eine ganz neue Erkenntnis Bahn: „Bisher hast Du mehr Trost an der Größe des aus der göttlichen Gnade erwachsenen Baumes gefunden als in seiner Wurzel, in der doch all seine Kraft liegt.“ Er habe bisher nur auf die Blätter geschaut, das Laubwerk, die Blüten und die Früchte. Aber diese können auf Dauer keinen Bestand bieten. Es gilt vielmehr auf die Wurzel des Baumes zu schauen. „Und so kehrte der Baum sich um: die Wurzel kam zuoberst zu liegen, sie lässt alle Früchte herunterhängen und flößt ihnen ihre Wurzelkraft von oben nach unten ein.“ Nun hatte er entdeckt, wo die Mitte ist. Christus verlangt von uns, dass wir unseren Geist immer mehr zum Himmel erheben und dass wir in uns selbst einkehren. Nirgendwo anders ist das Reich Gottes zu suchen als in uns selbst und im Blick nach oben in der Wurzel.

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