Drei Jahre später

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Diese Information kommt allerdings unerwartet. Auf die Idee wäre Elli niemals gekommen, dass irgendwer diesen Kuss von vor drei Jahren bemerkt und darüber hinaus auch noch all die Jahre geschwiegen hat, nur um sie jetzt damit zu konfrontieren! Das muss sie erst einmal verdauen.

„Noch dazu, wo es doch wirklich ein großer Zufall ist, dass er ausgerechnet jetzt hier auftaucht, wo auch wir gerade da sind“, ergänzt Monika und beißt genüsslich in einen gefüllten Champignon.

In diesem Moment kommt Josh vom Buffet zurück. Galant verteilt er das überaus leckere frische Weißbrot, das er für die drei Frauen und sich selbst mitgebracht hat. Monikas letzte Bemerkung hat er zumindest teilweise mitbekommen.

„Das finde ich auch erstaunlich, dass so viele wieder den Weg hierher gefunden haben“, sagt er arglos. Elli ist sich fast sicher, dass er nicht einmal ahnt, dass es bei Monikas Bemerkung in erster Linie um ihn und darüber hinaus noch seine Verbindung zu ihr ging. Als wolle er das noch unterstreichen, wendet er sich an Maik, Carola und Cosima, die neben ihm Platz genommen haben, und führt Monikas Bemerkung weiter.

„Wir sprechen gerade davon, dass es wirklich ein großer Zufall ist, dass wir alle wieder hier zusammengefunden haben. Wie war das bei euch? Wie seid ihr auf die Idee gekommen, ausgerechnet zu dieser Zeit hierherzufahren?“

„Wir hatten natürlich Sehnsucht nach euch allen“, ruft Maik und breitet seine Arme aus, als wolle er die gesamte Tafelrunde an sein Herz drücken. Erwartungsgemäß kommen von allen Seiten geschmeichelte „Ahs“ und „Ohs“. „Vielleicht ist es auch das Schicksal, das uns wieder hier zusammenführt?“, fragt er mit bedeutungsschwangerer Stimme, was ihm ebenfalls beifällige Zustimmung einbringt.

„Apropos Schicksal: Weiß jemand, was es mit dem Rest unserer damaligen Truppe angestellt hat?“, fragt Matthias vom anderen Tischende her, wo er seiner Freundin Ulla gerade die Karaffe mit dem Wein aus der Hand nimmt, nachdem diese nicht zu wissen scheint, wie sie sich aus dem noch vollen Behälter ohne größere Verluste etwas in ihr Glas einschenken soll.

„Ich habe tatsächlich etwas von Paul gehört“, antwortet Maik. „Unser Verfechter für die Verbreitung des deutschen Schlagers bis in die hintersten Ecken der italienischen Wildnis ist richtig prominent bei sich zu Hause! Vor ein paar Monaten hatte ich in seiner Gegend zu tun. Ich sah ein Plakat für eine Tanzveranstaltung und mochte meinen Augen nicht trauen, als ich darauf Paul im goldglitzernden Jackett in astreiner Schlagerpose entdeckte, die eine Hand am Mikro, die andere weit ausgestreckt. Mit dem verklärten Blick, den er darauf zeigte, sollte er vermutlich besonders die Damen zwischen zwanzig und neunundneunzig zu seinem Auftritt locken.“ Er schneidet eine Grimasse. „Ich fragte meinen Kunden, ob ihm der Schlagerfuzzi ein Begriff sei, und der lachte nur und meinte, dass fast jeder den ‚singenden Versicherungsvertreter‘ kenne, weil der auf jeder zweiten dörflichen Veranstaltung auftreten würde. Das Publikum sei richtig wild nach ihm“, lacht Maik und klatscht sich auf die Schenkel.

Begeistertes Johlen begleitet diesen Bericht über den Erfolg eines der Ihren. Jeder, der damals dabei gewesen ist, erinnert sich noch gut an Paul, der sich erst am allerletzten Abend traute, zu seiner Leidenschaft für den guten alten deutschen Schlager zu stehen und mit spontaner Begleitung von Sandra an der Gitarre eine umfassende Schlager-Parade zum Besten gab.

„Und sonst?“, fragt Matthias, während er gelben Dipp von Ullas Teller kratzt, die den scheinbar nicht mag. „Weiß jemand was über die beiden Mädels, die aus der Gegend von Köln kamen?“

Allgemeines Schulterzucken und Kopfschütteln beantwortet seine Frage.

Während man an der Tafel gedanklich mit dem Verbleib der damaligen Schicksalsgenossen beschäftigt ist, scheint Monikas Aufmerksamkeit schon wieder von einem ganz anderen Thema gefesselt zu sein. Fasziniert beobachtet sie Matthias und Ulla. Darüber vergisst sie zeitweise sogar ihr eigenes Essen – so sehr ziehen ihre Betrachtungen sie in ihren Bann. Als Ulla entnervt den Spieß mit getrockneten Tomaten, Artischockenherzen und Miniaturmozzarellakugeln an Matthias weiterreicht, weil es ihr nicht gelingt, die Häppchen mit der Gabel vom Spieß zu schubsen, ohne dabei einzelne Bestandteile quer über den Tisch zu schießen, stupst Monika Julie an und deutet mit einem konspirativen Kopfnicken in Richtung der beiden. Elli – froh darüber, dass die unwillkommene Aufmerksamkeit der beiden ein neues Objekt gefunden hat – folgt der Geste ebenfalls und schaut zu dem Pärchen hinüber. Sie sieht, wie Matthias das Gemüse und den Käse mit elegantem Schwung vom Holzstäbchen schiebt und seiner Ulla zurück auf den Teller packt. Fragend schaut sie zu ihren Freundinnen auf der anderen Tischseite hinüber, die ihren Blick gar nicht von dem Schauspiel abwenden können.

„Das geht schon die ganze Zeit so“, erklärt Monika, als sie Ellis Blick bemerkt. „Es gibt kaum einen Handgriff, den Ulla selbst zu tun in der Lage ist.“

„Quatsch“, antwortet Julie. „Es sieht mir nicht so aus, als würde sie es nicht können. Warum sollte sie nicht? Sie hat ja keine sichtbaren motorischen Einschränkungen! Ich vermute, sie ist einfach zu bequem, um sich mit etwas abzumühen, was ihre Begleitung für sie erledigen kann“, erklärt sie bissig und nimmt einen Schluck Wein, ohne das Paar jedoch aus den Augen zu lassen.

„Überredet“, kommentiert Monika Julies Einschätzung. „Da, schaut mal!“

Alle drei wenden sich wieder dem Paar zu. Ulla hat mit einer unwirschen Handbewegung ihre Serviette vom Tisch gefegt und Matthias ist schon halb unter der Platte verschwunden, um sie aufzulesen. Allerdings scheint er dabei festzustellen, dass die Serviette schmutzig geworden ist. Kommentarlos und ohne eine Miene zu verziehen, legt er sie zur Seite, steht auf und holt eine neue vom Buffet, während Ulla ihm tatenlos hinterhersieht.

„Ich kann das nicht mit ansehen“, kommentiert Julie die Szene. Dennoch gelingt es ihr nicht, sich vom Geschehen abzuwenden.

„Ich fasse es nicht“, stimmt Monika zu und schüttelt fast unmerklich den Kopf.

„Vielleicht fühlt Ulla sich nicht wohl“, versucht Elli um Verständnis für deren Verhalten zu werben.

Ruckartig wenden sich die beiden anderen ihr zu.

„Meine liebe Elli, du bist ja immer noch so entsetzlich verständnisvoll wie früher“, sagt Monika mit gespielt tadelndem Tonfall.

„Du bist zu gut für diese Welt“, ergänzt Julie und seufzt, als wäre Elli in ihrer Naivität ein aussichtsloser Fall, den zu bekehren sie schon vor Jahren aufgegeben hat.

Elli muss lachen. „Und ihr seid wie Waldorf und Stadtler aus der Muppet Show“, prustet sie los, hält sich dann jedoch schnell eine Serviette vor den Mund. Es soll ja niemand mitbekommen, dass sie lästern!

Nun müssen alle drei lachen. Als Josh, der eben den Ausführungen von Cosima zu seiner Linken über ein besonders kompliziertes Riff lauschte, sich fragend zu ihnen umwendet, meint Julie schlagfertig: „Wir freuen uns einfach nur darüber, wieder hier zu sein“, was erneut zu einem Heiterkeitsausbruch führt.

Mitten in die fröhliche Runde hinein ertönt auf einmal ein schüchternes „Hallo“. Neugierig wenden sich alle um und schauen zur Hausecke, wo eine kleine Person in der mittlerweile weit fortgeschrittenen Dämmerung steht und zu ihnen hinübersieht. Als die Person merkt, dass alle Augenpaare auf sie gerichtet sind, kommt sie unsicher ein paar Schritte näher.

„Hi, ich bin Petra“, sagt sie und tritt in den Schein der Kerzen, die auf dem Tisch in großer Zahl verteilt sind.

Maik findet als Erster seine Sprache wieder.

„Da brat‘ mir einer einen Storch. Das gibt’s doch nicht! Das ist tatsächlich Petra!“

Seine Frau Carola wirkt peinlich berührt, dass ihr Mann so unverblümt die ohnehin verunsichert wirkende Person durch den Kakao zu ziehen scheint.

„Das sagte sie bereits“, sagt sie in missbilligendem Tonfall an Maik gerichtet. Dann ergänzt sie sehr viel freundlicher: „Hallo … Petra!!!“

Mit großen Augen starrt sie erst die Frau an, dann wendet sie sich zu den anderen um. „Das ist ja tatsächlich Petra!“

In diesem Moment erkennen auch alle anderen, dass es sich bei dem Neuankömmling um ein bekanntes Gesicht handelt. Sofort brandet begeisterter Jubel auf, einige klatschen sogar.

Zunächst starrt Petra verwirrt in die Runde. Ihrem Gesicht ist deutlich anzusehen, dass sie sich in einem Irrenhaus wähnt – und zwar in einem für die besonders verwirrten Fälle. Doch dann begreift auch sie, als sie die Gesichter, die sich ihr zuwenden, näher betrachtet.

„Nein!“, schreit sie überrascht. „Das ist ja Maik! Und Carola! Und Josh! Und … und …“

Weiter kommt sie nicht, weil die Ersten bereits aufgesprungen sind, um sie zu umarmen. Freude und Überraschung sind groß, dass eine weitere Kursteilnehmerin von damals den wundersamen Pfaden des Schicksals gefolgt ist, um völlig unvermutet hier in der tiefsten italienischen Wildnis auf bekannte Gesichter zu stoßen. Die kleine, zierliche Person muss einiges mitmachen, als einer nach dem anderen sie herzt und drückt und Maik sie sogar im Kreis um sich herumschwenkt. Zwischendurch hört man Stefano rufen: „Was bin ich doch für ein Esel! Ich hatte völlig vergessen, dass Petra in eurem Kurs war – ich dachte, sie wäre ein Jahr früher hier gewesen. Sonst hätte ich natürlich vorhin etwas gesagt!“

Als sich nach einer Weile alle wieder gefangen und an den Tisch gesetzt haben, wobei eilig noch ein weiterer Platz für die Nachzüglerin eingerichtet wird, kann Elli es nicht lassen, sich mit einem süffisanten Grinsen, was sonst nur selten auf ihrem Gesicht zu sehen ist, zu Monika hinüberzubeugen.

 

Ich zumindest glaube, dass Petra völlig zufällig hier ist und nicht mal ahnte, irgendjemanden von uns hier wiederzutreffen. Zumindest halte ich ihre Überraschung nicht für gespielt. Und du?“, sagt sie in Anspielung auf Monikas Verdächtigungen bezüglich Joshs Auftauchen und der Rolle, die ihrer Meinung nach Elli dabei spielt.

Monika lacht. Dann raunt sie der neben ihr sitzenden Julie zu, die ebenfalls schmunzelt: „Schau, schau, unsere Kleine fängt an, frech zu werden. So kennen wir sie ja gar nicht!“

Darüber lachen alle drei.

Petra hat einen Platz gegenüber von Carola und Maik gefunden. Carola erinnert sich gut an die zierliche Frau, mit der sie vor drei Jahren gemeinsam einen Song von ABBA einstudierte. Allerdings scheint sich ihre damalige Gesangspartnerin sehr verändert zu haben. Kein Wunder, dass sie sie im schwachen Schein der Kerzen nicht gleich erkannt hat! Ihr Haar ist länger geworden und wirkt viel heller als früher. Bei genauerem Hinsehen stellt Carola fest, dass in dem hellen Braun bereits viele graue Strähnen zu sehen sind. Sie erinnert sich, dass Petra nun Mitte Fünfzig sein muss und wohl im Gegensatz zu früher ihre natürliche Haarfarbe trägt. Doch trotz des Grautons scheint sie nicht älter, sondern im Gegenteil irgendwie jünger geworden zu sein. Die helleren Haare stehen ihr besser als die fast schwarze Farbe von früher, die sie sehr verhärmt hat aussehen lassen. Heute hingegen strahlen ihre Augen und ihr Gesicht wirkt frisch, als würde sie viel Zeit an der frischen Luft verbringen. Dass das tatsächlich so sein könnte, sieht man auch ihren Händen an, bemerkt Carola mit sachkundigem Blick, denn die sehen nach schwerer körperlicher Arbeit aus. Allerdings erinnert sie sich daran, dass Petra Managerin in einem großen, international agierenden Unternehmen war. Von dort können die Arbeitsspuren an den Händen kaum stammen! Dann fällt ihr auch auf, dass Petras Kleidung viel burschikoser ist als früher: Sie trägt Jeans und ein kariertes Hemd über einem dunkelblauen T-Shirt. So etwas Lässiges trug sie damals nicht mal im Urlaub!

Neugierig geht Carola ihren Beobachtungen auf den Grund.

„Du hast dich verändert“, eröffnet sie das Gespräch.

„Du siehst zehn Jahre jünger aus als früher! Mindestens! Ach was, wie Anfang dreißig!“, greift ihr Mann ins Gespräch ein, der mit zunehmendem Weingenuss auch immer menschenfreundlicher wird.

Petra strahlt mit dicken Backen, in die sie sich eben einen großen Bissen Zucchini-Frischkäse-Röllchen geschoben hat.

„Ach Maik, du oller Charmeur“, kontert sie schmatzend und alles lacht.

„Jünger bin ich sicher nicht geworden“, meint sie, nachdem sie den Bissen eilig hinuntergeschluckt und mit einem Schluck Wein nachgespült hat, „aber zufriedener.“

„So siehst du auch aus“, bestätigt der neben ihr sitzende Josh, „und auch so, als hättest du eine Menge erlebt!“

„Das stimmt tatsächlich“, lacht Petra und senkt dann fast beschämt den Kopf, weil sie feststellt, dass es mittlerweile am ganzen Tisch ruhig geworden ist. Jedem, der sie kennt, ist aufgefallen, dass sich im Leben dieser Frau etwas getan haben muss, weil sie so völlig verändert aussieht. Gespannt warten nun alle darauf, was sie zu erzählen hat.

„Vielleicht sollten wir Petra erst einmal in Ruhe essen lassen“, wirft Cosima mitleidig ein, erntet jedoch nur Protest von allen Seiten.

„Nichts da“, bringt Maik es auf den Punkt. „Essen kann sie später immer noch. Jetzt wollen wir hören, wie es ihr ergangen ist!“ Aufmunternd schaut er die ihm gegenübersitzende Frau an. „Ich vermute, dass du dem Vorstand irgendwann sein unvernünftiges Ausgabeverhalten um die Ohren gehauen und ihm erklärt hast, wo er dich mal kann, dann in sein Privatflugzeug gestiegen und nach Kanada abgehauen bist, wo du jetzt nach Gold suchst und Grizzlys fütterst“, scherzt er.

„Gar nicht so schlecht geraten“, freut sich Petra.

Dann erzählt sie, was sich in den letzten Jahren tatsächlich zugetragen hat. Sie berichtet, dass sie ihren Job und die immer massiver werdenden Anforderungen ihrer Eltern noch ungefähr ein Jahr lang ertragen konnte. Doch dann wachte sie eines Nachts auf und fühlte etwas in sich hochkriechen, das ihr wie eine Panikattacke erschien. Unfähig, irgendetwas dagegen zu unternehmen, lag sie wach und musste all die Ängste, die sie überfielen, über sich ergehen lassen. Sie berichtet, dass sie sich auf einmal wie im Film selbst bei ihrem Alltag zusah: Sie schuftete im Büro, immer angetrieben vom Vorstand, der beinahe Unmögliches von ihr verlangte, nämlich die Bilanzen des Unternehmens gut, nein, immer besser aussehen zu lassen, trotz seiner diversen Fehlentscheidungen, die sich leider auch auf den Absatz auswirkten, und das bei sinkender Produktivität eines jahrelang bis zur restlosen Erschöpfung und Verwirrung der Mitarbeiter umstrukturierten Unternehmens. Danach sah sie sich dabei zu, wie sie zu ihren Eltern fuhr, sah ihren Vater vorwurfsvoll am Gartentor stehen und warten und hörte ihn fragen, wo sie denn immer so lange bliebe, andere Menschen hätten doch auch um halb fünf Feierabend. Über all das schob sich schließlich die Frage, was passieren würde, wenn sie plötzlich zusammenbräche. Wer würde ihr helfen, wenn sie dem Druck nicht mehr standhielt? Ihre Eltern würden sie selbst im Krankenhausbett noch mit Anrufen bombardieren und mit ihren Klagen, wie das nur hatte geschehen können und dass sie sich jetzt gar nicht zu helfen wüssten. Der Vorstand würde bestenfalls einen Kranz zur Beerdigung schicken, aber auch nur dann, wenn die zuständige Sachbearbeiterin im Personalwesen rechtzeitig mitbekäme, dass sie in die Grube gefahren sei, aus der niemand wieder aufsteht – jedenfalls nicht vor dem jüngsten Tag. Doch dass diese Information die Kollegin erreichte, konnte sich in dem Chaos, das der Vorstand im Unternehmen angerichtet hatte, ein bisschen hinziehen. Viel schlimmer erschien Petra allerdings die Möglichkeit, dass sie nicht sterben, sondern zum Pflegefall werden würde und nicht mal mehr in der Lage wäre, sich zur Beendigung des Elends in die Schweiz abzusetzen.

Nie vorher hatte sie solche Gedanken gehabt – doch jetzt gingen sie nicht mehr fort!

Irgendwann schlief sie in jener Nacht wieder ein. Doch als sie morgens aufwachte und versuchte, in den Tag zu finden, schien es ihr plötzlich unmöglich, wie immer ins Büro zu fahren und ihrer Arbeit nachzugehen, um anschließend mit schlechtem Gewissen, weil es wieder spät geworden wäre, zu ihren Eltern zu fahren, die am vorherigen Abend angerufen hatten, weil die Waschmaschine kaputt sei und sie den Kundendienst nicht verständigen wollten, weil das doch bestimmt nicht nötig sei. Petra solle erst mal vorbeikommen und schauen – vielleicht sei es ja nur eine Kleinigkeit.

„Summe über alles: Mein Kopf wollte zwar, aber mein Körper folgte nicht. Nach zwei Tassen Kaffee stellte ich fest, dass ich besser nicht zur Arbeit fahren sollte, weil das in meinem Zustand nicht empfehlenswert wäre. Ich meldete mich ab, aß eine Packung Kekse leer, was ich noch nie getan hatte, und bereits mittags stand mein Entschluss fest: So geht es nicht weiter. Ich wusste noch nicht was und auch nicht wie, sondern nur, dass „weg“, nämlich die Flucht nach vorn, die einzige Richtung war, die ich in meinem Zustand noch gehen konnte. Ich machte also eine Aufstellung über meine Güter – Anlagen, Konten, die Eigentumswohnung, Wertgegenstände – rechnete aus, wie lange ich mich über Wasser halten konnte, schrieb meine Kündigung und stöpselte das Telefon aus. Nur meine Eltern rief ich vorher noch an und erklärte ihnen, dass ich geschäftlich verreisen müsse und zwei Wochen lang nicht erreichbar wäre, und wenn sie den Kundendienst nicht anrufen wollten, dann müssten sie eben mit der Wäsche warten, bis ich wieder da sei.

Was dann kam, waren die großartigsten zwei Wochen meines Lebens, auch wenn es vermutlich die schlimmsten waren. Doch trotz aller nur erdenklichen Ängste und verwirrend furchtbaren, undefinierbaren Gefühlen merkte ich in diesem Chaos plötzlich, dass es mich noch gab. Außerdem realisierte ich, dass ich selbst auch Ansprüche an mich hatte, die nur ich und niemand sonst erfüllen konnte. Ich begriff, dass ich ganz dringend lernen musste, meine Kraft für mich selbst einzusetzen, weil sie für andere nicht mehr reichte. Sie reichte ja kaum noch für mich selbst! Kurz und gut, für dieses Problem gab es eigentlich nur eine Lösung: Ich brauchte mein eigenes Leben und für die Existenzsicherung mein eigenes Unternehmen, für das ich mich einsetzen konnte, und zwar so, dass auch ich etwas davon hatte. Ich wollte für mich selbst sorgen und nicht mehr nur für andere. Nur wie? Als Unternehmensberaterin oder ähnliches befürchtete ich, bei meiner mentalen Konstitution sofort wieder aufgefressen zu werden, und zwar dieses Mal von meinen Kunden und deren Wünschen, Anforderungen und Sorgen. Das würde mich kaum weiterbringen! Was also dann?

An einem der langen Abende, an denen ich der Grübeleien müde war und nur noch stumpfe Ablenkung im Fernsehen suchte, schaltete ich zufällig auf eine Reportage über Bio-Bauernhöfe und deren Probleme, ihre Existenz zu sichern. Ich war fasziniert, als mir klar wurde, was für eine große Herausforderung das ist, die den Landwirten – wenn sie denn überleben wollen – einiges an betriebswirtschaftlichem Know-how abverlangt. Da wusste ich: Genau so eine Aufgabe müsste es sein! Ich war urplötzlich begeistert von der Idee, einen landwirtschaftlichen Betrieb finanziell auf Vordermann zu bringen! In so einem Unternehmen wächst und entsteht etwas und die Auswirkungen der eigenen Arbeit kann man sehen und anfassen. Wenn es dort irgendwo an betriebswirtschaftlichem Geschick fehlte, dann könnte ich genau das mitbringen! Und wenn das mit dem einen Betrieb klappte, ja dann könnte ich vielleicht eine Geschäftsidee daraus machen und einen Hof nach dem anderen sanieren … Ich weiß, es hört sich komplett bescheuert an. Ich, die null Ahnung von Landwirtschaft hat, will Höfe sanieren! Aber da war der Wunsch, etwas völlig anderes zu machen als bisher, und dennoch meine vorhandenen Kompetenzen einzusetzen. Warum soll es verkehrt sein, eine Sache mal aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten? Ich würde ja dem Landwirt nicht seinen Job streitig machen wollen, sondern ihn nur ergänzen!

Plötzlich hatte ich tausend Ideen im Kopf und merkte, wie nach den Tagen der Lethargie wieder Leben in mich kam. Ich setzte mich sofort an meinen Laptop und suchte im Netz nach allem, was ich über die Bio-Landwirtschaft finden konnte. Weil mir das jedoch zu theoretisch war, fuhr ich am nächsten Tag zu einem Hof in Norddeutschland, der mir im Internet aufgefallen war, weil dieser neben der Landwirtschaft noch „Ferien auf dem Bauernhof“ anbot. Ich beschloss, mich dort einzuquartieren, um noch mehr über das Thema zu lernen.

Tja, und irgendwie war das wohl ein Schuss ins Schwarze: Ich unterhielt mich mit dem Bauern und fragte ihn Löcher in den Bauch. Er erzählte mir, bei einem Becher Tee unter dem Apfelbaum, aus seinem Bauernhofalltag und von den vielen wirtschaftlichen Nöten und Problemen, mit denen er sich herumschlug. Als er feststellte, dass ich mich mit Finanzen auskenne, war er höchst interessiert und fragte nun mir Löcher in den Bauch und auch nach meiner Meinung zu diesem und jenem. Ich stellte fest, dass er vergleichsweise wenig mit betriebswirtschaftlichen Gesetzmäßigkeiten anfangen konnte, und ihn störte es nicht, dass ich überhaupt nichts von der Landwirtschaft wusste. Noch bevor der Tag zu Ende ging war klar, dass ich sozusagen für Kost und Logis als Buchhalterin, Steuer- und Anlageexpertin bei ihm einsteigen konnte. Da ich glücklicherweise genug Geld angespart hatte, um mir so ein Verlustgeschäft leisten zu können, beschloss ich, es einfach mal zu versuchen. Schlimmer konnte es nicht werden, dachte ich. Also zog ich in eine seiner Ferienwohnungen ein und erklärte meinen Eltern, da der Hof in Norddeutschland liegt, dass ich nicht mehr ständig auf Abruf zur Verfügung stehen könne. Ich sagte ihnen, dass ich ihnen eine Garten- und eine Haushaltshilfe finanzieren und einmal im Monat nach dem Rechten schauen würde, wenn es nötig sei – damit müssten sie klarkommen.“

Petra nimmt einen Schluck Wein und schaut plötzlich erstaunt, als sei ihr gerade in diesem Moment etwas eingefallen.

„Komischerweise klappt die Medikamenteneinnahme meiner Mutter nun viel besser und irgendwie geht auch längst nicht mehr so viel in Haus und Garten kaputt.“

Sie schüttelt irritiert den Kopf, als versuche sie, in dieser Auffälligkeit einen tieferen Sinn zu entdecken.

„Die Klagerei ist natürlich wie immer“, ergänzt sie mit vielsagendem Blick.

Alles lacht.

 

„Wie läuft‘s auf dem Hof?“, fragt Stefano. „Konntest du den auf Vordermann bringen?“

„Und wie!“, ruft Petra mit Nachdruck. „Mittlerweile ist der Betrieb wieder ein gesundes Unternehmen und schreibt schwarze Zahlen. Zurzeit denke ich bereits über eine Ausdehnung unserer Kapazitäten nach und über die Investition in andere Bio-Unternehmen, sozusagen als Geldanlage. Die Sache läuft!“

Wieder setzt am Tisch herzliches Gelächter ein über Petras Begeisterung und ihre Energie für ihr Projekt. Elli spricht aus, was viele denken: „Von dir kann man wirklich lernen! Ich bewundere deinen Mut, etwas ganz Neues anzufangen. Respekt!“

Für diese Bemerkung erntet sie allgemeine Zustimmung. Nur Maik gibt sich – wie es seinem Naturell als Tonangeber und seiner Verfassung nach dem schon reichlich verkosteten Rotwein entspricht – nicht zufrieden.

„Liebe Petra, wenn du jetzt auf dem Land lebst, auf einem Bauernhof, auf dem sogar Ferien angeboten werden, was machst du dann hier?“

Sofort erntet er für diese freche Bemerkung gespielte Entrüstung der Anwesenden.

„Na, weil die Pampa hier eben noch schöner ist als die in Norddeutschland!“, kontert Monika an Petras Stelle, die verlegen ihren Blick senkt, als wüsste sie so schnell nicht darauf zu antworten. Aber dann fällt ihr doch noch eine passende Replik ein.

„Auch die Buchhaltung einer Landwirtschaft braucht mal Urlaub“, erklärt sie und wird rot. Sofort erhält sie Unterstützung von Sandra, die über den Tisch ruft: „Ein wahres Wort! Sogar wir beide“, damit nickt sie Stefano zu, „sind schon mal in den Urlaub gefahren!“

„Ich habe sogar im letzten Winter zwei Wochen Ferien bei meiner Schwester gemacht“, fügt Edith hinzu.

Zustimmendes Gelächter pflichtet ihr bei.

„Die Hauptsache ist doch, dass wir so kurzfristig noch einen Platz für dich frei hatten“, meint Sandra und erläutert den anderen: „Petra hat wirklich Glück gehabt, als sie vorige Woche anrief und fragte, ob sie so kurzfristig noch kommen könnte. Gerade war jemand anderes abgesprungen. Eigentlich war der Kurs bereits seit zwei Monaten voll.“

Für diesen glücklichen Umstand brandet Beifall auf und Carlos ruft: „Schön, dass du da bist!“, was Petras ohnehin schon vorhandene Gesichtsrötung noch verstärkt.

„Da sind wir auch schon beim Thema“, fügt er hinzu, sobald der Beifall verklungen ist. „Bevor ihr gleich zu ausgelassen euer unverhofftes Wiedersehen feiert, würde ich gerne noch etwas Ernstes mit euch besprechen …“

Ein betroffenes Raunen erhebt sich am Tisch.

„… nämlich das Programm für die folgende Woche.“

Ein erleichtertes „Aah“ folgt der Ankündigung, ergänzt um das ein oder andere ausgelassene Kichern.

„Also, ich habe es lang und ausgiebig mit Cosima diskutiert“, beginnt er, wird aber an dieser Stelle sogleich unterbrochen von einem ehrfürchtigen Raunen. Mit gespielter Hilflosigkeit wendet sich Carlos seiner Kollegin zu.

„Es sieht so aus, als hätte ich doch zu lange mit der Vorstellung des Programms gewartet“, klagt er.

„Das haben wir gleich“, versucht Cosima ihn zur allgemeinen Belustigung zu beruhigen und schlägt einen energischen Ton an.

„Also meine Lieben, was Carlos sagen wollte, ist …“, aber auch sie kommt nicht weiter, weil sogleich ein erneutes Raunen von der ausgelassenen Truppe zu hören ist.

„Wenn ihr nicht artig seid, müsst ihr alle die Hitparade von 1982 singen, und zwar besonders die Schlager“, donnert Cosima in gespieltem Ernst, was ihr großes Gelächter einbringt. Jeder hat noch gut in Erinnerung, dass der Einzige der alten Truppe, der sich zu seiner Vorliebe für Schlager bekannte, Paul war – von daher weiß jeder, dass es sich bei Cosimas Worten wirklich um eine Drohung handelt! Und tatsächlich tritt daraufhin, als die letzten Lacher verklungen sind, so etwas wie Ruhe ein, sodass Cosima fortfahren kann.

„Da wir ja – augenscheinlich im Gegensatz zu euch – wussten, dass hier viele miteinander bekannte Kursteilnehmer auftauchen werden, haben wir uns überlegt, euch zu Ehren …“ An dieser Stelle macht Cosima eine Pause und gibt durch eine auffordernde Handbewegung zu erkennen, dass ehrfürchtiges Raunen erwünscht ist. Gerne wird der Bitte Folge geleistet und ehrfürchtig geraunt. Cosima nickt zufrieden und fährt fort: „… euch zu Ehren das Kursprogramm etwas abzuwandeln. Wir finden, die Bedingungen sind bestens dazu geeignet, dass wir und besonders ihr noch intensiver miteinander an den Stücken arbeitet, anstatt sie ‚nur‘ zu singen und zu spielen.“

„Und zwar möglichst so, dass man auch erkennt, um was für ein Stück es sich handelt“, wirft Maik übermütig ein, was mit großem Gelächter honoriert wird.

„Richtig“, bestätigt Cosima. „Aber dass ihr das beherrscht, konnten wir ja bereits vor drei Jahren feststellen. Deshalb haben Carlos und ich beschlossen, dieses Mal den Schwerpunkt auf die Bandarbeit zu legen. Das bedeutet, dass es mehr als früher darum gehen wird, dass ihr gemeinsam am Arrangement der Stücke arbeitet, beim Üben aufeinander hört, euch bei euren Einsätzen aneinander orientiert und so eure Performance optimiert.“

„Ein wichtiger Punkt sind dabei die Chöre“, ergänzt der Gesangslehrer, „weswegen wir auch keine Solostücke, sondern nur Songs ausgewählt haben, die mehrstimmig oder wenigstens im Duett gesungen werden. Es kommt also weniger darauf an, dass jeder einzeln für sich glänzt – das betrifft besonders den Sänger oder die Sängerin – sondern dass ihr als Team überzeugt. Das erfordert auch eine viel größere Disziplin.“

Diese Formulierung entlockt den aufmerksamen Zuhörern erneut ein gespielt ehrfürchtiges Raunen, was Carlos sofort aufgreift.

„Damit ihr seht, wie ernst wir das meinen, kriegen die ersten gleich einen Song zugeteilt, und zwar ‚Lady Marmalade‘ von Labelle. Wir haben uns überlegt, dass das genau das Richtige für Julie, Monika und Elli ist. Ihr seid drei völlig unterschiedliche Sängerinnen mit völlig verschiedenen Sängerinnen-Persönlichkeiten. Das wird lustig“, kommentiert er und freut sich, dass die drei Frauen sich strahlend mit dem Plan einverstanden erklären.

„Als nächstes haben wir für ein Duett den Song ‚I’ve Got You Babe‘ ausgewählt. Das wollen wir Carola und Heiko übertragen.“ An die beiden gewandt ergänzt er: „Carola hat ja bereits beim letzten Mal ihre Professionalität bei der musikalischen Teamarbeit bewiesen.“

Wie nicht anders zu erwarten war, wird Carlos erneut von andächtigem Raunen unterbrochen, was Carola mit einem übertrieben huldvollen Nicken entgegennimmt.

„Da Heiko neu dabei ist und wir weder ihn noch er uns kennt, dachten wir, dass das mit Carola bestimmt gut passt“, erläutert er seinen und Cosimas Plan.

Carola und Heiko nicken sich zu und signalisieren damit ihre Zustimmung. Nur Maik hat Einwände.

„Sag einmal, Carlos, durften wir uns im letzten Kurs nicht selbst für die Stücke melden? Ihr verfügt jetzt einfach, dass meine Frau ein Liebesduett mit einem anderen Mann singt. Das ist euch aber schon aufgefallen?“, fragt er und stemmt in gespielter Entrüstung seine Hände in die Seiten. „Gibt es denn hier keine demokratischen Verhältnisse?“

Carlos grinst ihn an und meint dann: „Nö!“, was ihm schallendes Gelächter von allen Seiten einbringt. Doch Maik gibt sich so schnell nicht geschlagen.

„Aber ein Liebesduett – das ist nun mal am Überzeugendsten von einem Paar zu interpretieren“, versucht er Carlos zu überreden. „Da liegt es doch nahe, dass Carola das mit mir singt. Warum habt ihr nicht uns beide dafür ausgewählt?“

Diese Frage scheint Carlos unangenehm zu sein. Er windet sich ein bisschen und Cosima wirft ihm warnende Blicke zu, die er allerdings nicht zu bemerken scheint.

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