Drei Jahre später

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Der erste Abend

Monika biegt um die Ecke und sieht, dass die Tische und Stühle vor der Küche noch verwaist sind. Nur aus der halb geöffneten Tür hört sie Stimmen und das Klappern von Gerätschaften, was auf geschäftiges Treiben hindeutet. Vermutlich werden die letzten Vorbereitungen für das Abendessen getroffen.

Unschlüssig bleibt sie einen Moment stehen und beschließt dann, zur unteren Terrasse hinunterzugehen, um dort die abendliche Stille und die Aussicht zu genießen, bevor sie in Kürze in den Trubel eintauchen wird. Sobald die anderen hungrigen Gäste an der abendlichen Tafel eingetroffen sein werden, wird es bis spät in die Nacht mit der Ruhe vorbei sein – das weiß Monika noch vom letzten Mal. Sie erinnert sich auch daran, dass ihr bei ihrem letzten Aufenthalt die morgendliche Munterkeit und Lautstärke manches Mal gehörig auf den Keks ging! Heute jedoch freut sie sich sehr darauf, bald in vertrauter Runde mit den anderen beisammensitzen und klönen zu können.

Sie kann es immer noch nicht fassen, dass auch Carola und Maik den Weg hierher gefunden haben, und das ausgerechnet in der Woche, wo sich auch Elli, Julie, Matthias und sie hier verabredet haben! Ob das Fügung ist, dass sie sich wiedertreffen? Gibt es so etwas überhaupt?

Monika liegt es normalerweise fern, an Fügungen zu glauben, denn dafür ist sie zu sehr mit beiden Beinen in der Realität verankert. Darüber hinaus kann sie bezüglich des überraschenden Auftauchens von Josh immer noch nicht ganz an einen Zufall glauben. Vielleicht täuscht sie sich – schließlich haben auch Carola und Maik vorhin felsenfest versichert, dass sie nichts von dem Hiersein der anderen ahnten. Warum also soll es bei Josh nicht ganz genauso gewesen sein?

Mittlerweile ist Monika auf der Aussichtsterrasse angekommen. Sie steht an der Mauer und blickt weit in die Ferne. Die Gipfel der Berge zu ihrer Linken werden gerade noch von ein paar rotgoldenen Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne erreicht, doch das Tal zu ihren Füßen ruht bereits in einen blauen Schatten gehüllt und bereitet sich auf die Nacht vor. Hier und da liefern ein paar winzige leuchtende Punkte den Beweis dafür, dass es dort unten, zwischen den dicht an dicht stehenden Bäumen, von Menschen erbaute Behausungen gibt.

Was für eine herrlich friedliche Abendstimmung! Kann es einen schöneren Flecken auf der Welt geben?

Ein wehmütiges Gefühl beschleicht Monika. Ob sie das alles irgendwann einmal wiedersehen wird, wenn diese Woche vorbei ist?

Ärgerlich schiebt sie diesen Anflug von Sentimentalität beiseite. Eigentlich kann sie das gar nicht ab! In ihrer Familie ist Gefühlsduseligkeit und Theatralik ausschließlich Sache ihrer Mutter und deren Kernkompetenz. Monika liegt nichts ferner, als diesbezüglich mit ihrer Erzeugerin in Konkurrenz zu treten! Warum kann sie nicht einfach die schöne Aussicht bewundern und den kurzen Moment des Alleinseins genießen, bevor gleich oben der Trubel losge…

„Hier lässt es sich doch wirklich leben!“

Eine tiefe, raue, ihr unbekannte Stimme reißt Monika aus ihren Gedanken. Leider, so muss sie feststellen, ist die kostbare Zeit der Ruhe und des Alleinseins schneller vorbei, als sie dachte. Na gut, dann soll es so sein!

Sie dreht sich um und ist fast ein bisschen erstaunt. Den Menschen, der vor ihr steht, hat sie noch nie gesehen. Sollte es tatsächlich auch ein Unbekannter geschafft haben, seinen Weg zu dieser Zeit an diesen Ort zu finden? Nachdem sich nun so viele Bekannte überraschenderweise hier eingefunden haben, hat sie kaum noch damit gerechnet, neue Leute kennenzulernen. Bis auf Ulla natürlich, aber die gehört als Matthias‘ Freundin ja irgendwie dazu.

Mit einem Blick erfasst Monika den Mann, der sich unbemerkt genähert hat und nun in maximal zwei Metern Entfernung genüsslich die Arme über den Kopf streckt und zufrieden vor sich hin schnauft. Er sieht aus wie ein Mittvierzigjähriger, hat sich aber Monikas kritischem Blick nach definitiv nicht gut gehalten. Seine krausen, halblangen Haare existieren ohne erkennbaren Schnitt, seine großporige Haut verteilt sich in knautschigen Falten über sein Gesicht, die jetzt wieder nach vorne gefallenen Schultern stecken in einem formlosen hellen T-Shirt von undefinierbarer Farbe – vielleicht war es mal weiß, vielleicht beige oder gar hellblau? Viel Bauch und wenig Hintern lassen den Sitz der grauen, vieltaschigen Funktionshose zu einem ständigen Balanceakt werden und die Füße stecken in grell-orangefarbenen Plastikschuhen. Monika hat mal gehört, dass sie „Crocs“ heißen, doch eigentlich interessiert sie das nicht, weil sie nicht mal unter Androhung von Gewalt dazu bereit wäre, so etwas zu tragen.

Noch bevor ihre Begutachtung der äußeren Gestalt des Mannes ganz abgeschlossen ist, steht ihr Urteil über ihn bereits fest: Dieser Kerl ist eine Schnarchnase!

„Ganz genau meine Kragenweite“, denkt sie spöttisch und schaut unwillkürlich an sich herunter, wie um sich zu vergewissern, dass ihre lange schneeweiße Hemdbluse perfekt unperfekt in Höhe ihrer Hüfte über dem olivfarbenen Long-Shirt geknotet ist und ihre gut sitzende hellblaue Jeans fleckenlos bis zu ihren Füßen reicht, die in leichten olivfarbenen Stoffschuhen stecken. Okay, Letztere sind etwas eingestaubt vom hellen Sand der geschotterten Wege, doch ansonsten entdecken ihre strengen Augen keinen Makel an ihrem Äußeren – ganz im Gegensatz zu dem ihres Gegenübers.

Plötzlich fällt ihr auf, wie hart sie schon wieder mit einem Menschen ins Gericht geht, den sie nicht einmal kennt und der nichts anderes getan hat, als auszusehen, wie er nun mal aussieht, und sich hier an diesem Ort einzufinden, wo sie zufälligerweise auch gerade ist. Warum fällt sie in Gedanken gleich über ihn her? Ganz ähnlich war es vorhin mit Ulla, wie sie feststellen muss, die sie ebenfalls in Sekundenschnelle unbarmherzig aburteilte.

Warum tut sie das? Es kann ihr doch völlig egal sein, wie andere Leute aussehen, wie vorteilhaft oder nicht sie sich kleiden und ob ihr Haar liegt! Das ist doch nicht ihre Sache! Wieso ist sie so kritisch? Oder war sie schon immer so und erst jetzt fällt es ihr auf?

Monika beschließt, sich zusammenzureißen. Sie erklärt sich selbst, dass überhaupt nichts dagegen spricht, freundlich mit diesem noch unbekannten Gesellen umzugehen – noch dazu, da sie sich in der komfortablen Situation befindet, die meisten Menschen an diesem Ort zu kennen und mit ihnen vertraut zu sein, während dieser bedauernswerte Fremdling einen solchen Vorteil vermutlich nicht genießt. Da gehört es sich einfach, ihm den Einstieg in die Gruppe zu erleichtern!

„Hallo, ich bin Monika“, sagt sie und bemüht sich um ein freundliches oder wenigstens neutrales Lächeln. Sie hofft zumindest, dass ihr ein solches gelingt.

„Heiko“, antwortet ihr Gegenüber und nickt kurz mit dem Kopf. „Du bist auch für diesen Musikkurs hier?“, fragt er.

„Jupp!“, sagt sie.

Nach dieser kurzen Antwort senkt sich erneut Stille über die Terrasse. Doch irgendwie ist es nicht mehr dasselbe wie vorhin, denkt Monika innerlich seufzend und beschließt, dass sie jetzt genauso gut auch ein richtiges Gespräch in Gang bringen kann.

„Spielst du Gitarre?“, versucht sie einen Auftakt.

Heiko nickt.

„Schon seit meiner Jugend. Das ist mein Ausgleich zum Beruf.“

„Schön“, kommentiert Monika das Gehörte.

Wieder wird es still.

„Und was machst du so, also beruflich?“, fragt Monika nach einer Weile und stellt im selben Moment bereits Überlegungen dazu an, wo sie diesen Menschen bezüglich seiner Profession einsortieren könnte: Sonderschulpädagoge, Heilpraktiker, Langzeitstudent, …

„Ich bin Berufsschullehrer.“

Richtig! Das wäre ihre nächste Vermutung gewesen!

„Es ist sicher sehr anstrengend, den ganzen Tag über pubertierende Jugendliche zu bespaßen, von denen vermutlich die wenigsten Anteil am Unterricht nehmen, sondern sich für ganz andere Dinge interessieren“, mutmaßt Monika. Für sie selbst zumindest wäre so etwas ein Alptraum! Sie ist froh, dass sie ihre beiden Kinder heil durch die Schule gebracht hat und die nun ihr Studium selbstständig gestalten. Dabei ist ihr Nachwuchs sogar recht gut gelungen! Sie mag sich gar nicht vorstellen, die ungezogenen, verwöhnten Blagen anderer Leute zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu bekehren – jedenfalls nicht, solange die Prügelstrafe an Schulen verboten ist!

„Och, die Kids sind eigentlich ganz okay“, widerspricht Heiko. „Ich sag‘ immer: Leben und leben lassen. Das ist meine Philosophie!“

Er gähnt noch einmal herzhaft, bevor er fortfährt.

„Wenn sie mal nicht so drauf sind, dass sie dem Unterricht folgen können, dann muss man da Verständnis haben und sie auch mal in Ruhe lassen. Die haben doch noch andere Probleme im Leben als die Schule! Sie sind jung! Ich finde das schon ganz okay so“, ergänzt er gutmütig.

Unwillkürlich runzelt Monika die Stirn. In diesem Moment ist sie plötzlich froh darüber, dass ihre beiden Kinder keine Ausbildung, sondern ein Studium begonnen haben. Schließlich wäre es ganz schön, wenn sie etwas lernten, um irgendwann einer sinnvollen Tätigkeit nachgehen zu können! Wären sie an jemanden wie Heiko geraten, hätte sich diese Erwartung vermutlich nicht erfüllt.

„Ah ja …. hm … aber gibt es denn keine Vorgaben, was die Jugendlichen am Ende ihrer Schulzeit beherrschen müssen?“, fragt sie erstaunt. „Es finden doch sicher auch Prüfungen statt, oder nicht?“

Heiko grinst und winkt ab. „Na klar gibt es die. Aber die Hauptsache ist doch, dass die Kids in ihrer Lehrstelle gut klarkommen. Da lernen sie ja auch richtig was fürs Leben! Das ist für viele ganz schön hart, von der Schule in den Berufsalltag der Erwachsenen einzutauchen. Da brauchen die Kids auch mal einen Platz, wo sie sich ausruhen können! Die sind ja nicht blöd. Was sie wirklich wissen müssen, kriegen sie schon irgendwie mit.“

 

Heiko streckt seine Arme weit über den Kopf und reckt sich noch einmal ausführlich. Dann schaut er zu Monika hinüber, die zweifelnd die Stirn krausgezogen hat. Vermutlich interpretiert er diese Miene ganz richtig, denn er fügt hinzu: „Keine Angst. Durch die Prüfungen kriege ich sie schon irgendwie. Da lasse ich keinen hängen! Sie sollen ja eine Chance im Leben haben, die jungen Leute! Es gibt immer Möglichkeiten, die schwächeren Schüler irgendwie über die Klausuren zu retten. Ich bin da nicht so’n harter Hund wie einige Kollegen!“

Verständnislos schüttelt er den Kopf, als er über das Verhalten anderer Berufsschullehrer nachzudenken scheint.

„Wir sind doch alle nur Menschen“, ergänzt er kurze Zeit später unbestimmt und gähnt erneut.

Monika weiß nicht wieso, aber irgendwie hat sie das Gefühl, als müsste sie diesen Mann schütteln, damit er wach wird. Um Himmels willen, was ist denn das für eine Bildungskatastrophe?! Und so einer wird auf Menschen losgelassen? Noch dazu auf junge, aus denen noch etwas werden soll? Wenn es nach ihr ginge, würde er sofort entlassen!

Sie findet sich zwar selbst ziemlich ungnädig, doch das Gespräch hat sie wirklich auf die Palme gebracht! „Wie kann man nur so verantwortungslos sein und etwas so Wichtiges wie die Ausbildung junger Menschen derart schleifen lassen?“, überlegt sie. „Wie der schon rumläuft! Ja, ist diesem Menschen denn gar nichts peinlich? Ich würde in diesem Aufzug nicht auf die Straße gehen, nicht einmal, um den Müll zur Tonne zu bringen!“

Monika stutzt. Warum regt sie sich nur so auf? Und das hier an diesem wunderschönen Ort, wo es wahrlich Besseres zu tun gibt? Sie holt tief Luft und schließt die Augen. Nach ein paar Sekunden spürt sie, wie sie ruhiger wird. „Die Nerven“, sagt sie sich, „es sind vermutlich einfach nur die Nerven!“

+

Sehr zum Vorteil von Monikas Seelenfrieden dauert es nicht lange und die anderen Gäste treffen nacheinander auf der oberen Terrasse ein, um den Startschuss für das Abendessen nicht zu verpassen. Ediths Küche hat keiner von denen vergessen, die schon einmal hier waren, und es ist kaum zu erwarten, dass die begnadete Köchin etwas von ihren Künsten verlernt hat!

Als Sandra mit einem großen Tablett voller Geschirr und Besteck aus der weit geöffneten Flügeltür ins Freie tritt, wird sie freudig empfangen und innerhalb kürzester Zeit sämtliche Utensilien los, die schnell von vielen Händen auf dem Tisch verteilt werden. Man kennt die Abläufe noch genau!

Kurz darauf erscheint eine weitere Person in der Tür, die ebenfalls mit einem Tablett beladen ist, auf dem diverse Karaffen mit Wasser und mit Wein stehen. Als die kleine, etwas rundliche Frau mit den rot gelockten Haaren und jeder Menge Sommersprossen auf der fast weißen Haut von allen Seiten freudig begrüßt wird, strahlt sie über das ganze Gesicht. Auch Cosima, die Gitarrenlehrerin des Kurses, wird umgehend von ihrer Last befreit und von allen Seiten geherzt und gedrückt. Sie ist den Gästen in allerbester Erinnerung geblieben wegen ihrer freundlichen Natur und ihrer Fähigkeit, auch im größten Chaos immer ein offenes Ohr für ihre Schützlinge zu haben. Nie entging ihr, wenn es irgendwo klemmte.

Als der erste Begeisterungssturm verklungen ist, fragt Carola, wo Carlos, der Gesangslehrer, sei.

Auf Cosimas Gesicht bahnt sich ein ungewöhnlich breites Lächeln den Weg vom rechten bis zum linken Ohr.

„Oh, er wird sicher gleich da sein. Er muss sich noch um jemand ganz Besonderen kümmern. Er ist nämlich für diese Woche in weiblicher Begleitung!“

Sofort erhebt sich ein verständnisvolles Raunen unter den Gästen.

Matthias wirft frech ein: „Was Ernstes?“, was von anzüglichen „Ahs“ und „Ohs“ der anderen Gäste kommentiert wird.

Cosimas Grinsen wird noch ein Stückchen breiter, als sie mit einem vielsagenden Augenaufschlag antwortet: „Das will ich wohl meinen! Es ist seine Mutter!“

Die Runde johlt vor Vergnügen. Wenn Cosima, die stets taktvoll mit den Eigentümlichkeiten anderer Menschen umzugehen weiß, so schadenfroh aus der Wäsche guckt, dann kann die Dame, die sie sicher in den nächsten Minuten kennenlernen werden, nur eine Sensation sein!

In diesem Moment ruft schon jemand hinter ihnen: „Die Stimmung ist ja bereits bestens! Habt ihr schon mit dem Feiern angefangen?“

Alle drehen sich um und sehen Don Carlos, der eigentlich Karl heißt und für den Gesangsunterricht zuständig ist, um die Hausecke biegen. Wie beim ersten Mal vor drei Jahren ist sein Anblick auch dieses Mal, zumindest für den weiblichen Teil der Gäste, ein Ereignis! Tatsächlich müsste man schon blind sein, um nicht von der Attraktivität dieses Mannes beeindruckt zu sein. Groß, dunkelhaarig, dazu ein höchst vorteilhaft geschnittenes Gesicht, ein durchtrainierter, schlanker Körper und elegante Bewegungen erinnern an einen heißblütigen Flamencotänzer, der es vermag, mit einer kleinen Geste die Herzen sämtlicher Frauen zu erobern. Das wirklich Besondere an Don Carlos ist jedoch, dass er sich überhaupt nichts daraus zu machen, ja es selbst nicht einmal zu bemerken scheint, wie – im wahrsten Sinne des Wortes! – göttlich er aussieht. Er ist einfach, wie er ist, und das ist grenzenlos gutmütig. Hintergedanken in jeglicher Form sind ihm fremd. Damit nimmt er stets auch allen eventuellen Vorbehalten seitens der männlichen Teilnehmer den Wind aus den Segeln, denn in Carlos muss niemand eine Konkurrenz fürchten, weil er an Konkurrenzkämpfen überhaupt kein Interesse hat.

An Carlos Arm hängt eine rundliche, ungefähr siebzigjährige Frau, die der immer noch in der Küche werkelnden Edith nicht unähnlich ist. Sie ist zwar etwas kleiner als die Köchin, aber genauso füllig, und auch sie hat einen südländisch dunklen Teint. Ihr dichtes, schwarz gefärbtes Haar hat sie sorgfältig in Form geföhnt, ein makelloses Make-up aufgetragen und ein ebenso makelloses schwarz-weißes Kleid angezogen. Sie lächelt resolut und erweckt mit ihrer selbstbewussten Haltung den Eindruck, als sei sie die Hauptperson des Abends, die von ihrem Lakai zum Essen geleitet wird. Dabei erweckt sie den Anschein einer Frau, die ganz genau weiß, was sie will, und die auch weiß, dass niemand es ihr abschlagen wird. Obwohl sie freundlich lächelt, könnte in einem aufmerksamen Beobachter der Verdacht aufkeimen, dass es für Carlos keine ganz einfache Woche werden wird. Der jedoch scheint von derlei Dingen völlig unangefochten. Er wirkt fröhlich und zufrieden wie immer und sobald er für seine Mutter einen bequemen Platz am Tisch gefunden hat, begrüßt er fidel wie eh und je die Gäste, die sich sehr freuen, ihn wiederzusehen.

Im Begrüßungstrubel fast unbemerkt stellt Stefano zwei Körbe mit frisch gebackenem Weißbrot auf den langen, schmalen Tisch am Rande der Essecke, der als Buffet dient, und platziert einige Schüsseln mit herrlich duftenden grünen, roten und weißen Dipps auf dem Tisch. Kurz darauf steht Edith selbst in der Tür zur Küche, vor sich eine riesige Platte, auf der Unmengen von kleinen Köstlichkeiten gestapelt sind: Käse-Oliven-Happen, eingelegte Tomaten, Auberginen und Paprika, gefüllte Champignons, gegrillte und mit Frischkäse gefüllte Zucchiniröllchen, getrockneter Schinken mit Melone, hauchdünn geschnittene Salami und vieles mehr. Unter riesigem Applaus tänzelt sie auf den Tisch zu und stellt die Leckereien in die Mitte.

„Ein Hoch auf die Köchin!“, ruft Maik und erhebt sein mit dem hiesigen roten Landwein gefülltes Weinglas. Alle anderen tun es ihm nach. Huldvoll nimmt Edith diese Aufmerksamkeit entgegen und beantwortet sie mit einem „Buon appetito!“, was wiederum zu Gelächter führt, da die Gäste noch von ihrem ersten Aufenthalt wissen, dass Edith zwar wie eine Italienerin aussieht und sich gerne so gibt, jedoch kaum ein Wort dieser Sprache spricht.

Mit einer eleganten Handbewegung bittet sie die Gäste zu Tisch, die ihrer Aufforderung unverzüglich Folge leisten.

Elli muss sich eingestehen, dass sie fertig ist mit den Nerven. Nicht im Traum hätte sie sich vorstellen können, dass die Begegnung mit Josh sie derart aus der Fassung bringt! Natürlich weiß sie, dass sie verliebt ist, und sie war bereits Tage vor Antritt der Reise wahnsinnig aufgeregt, weil sie Josh hier, drei Jahre später, wiedersehen würde. Aber dass es so schlimm sein würde, konnte ja niemand ahnen! Schließlich hätte es auch ganz anders sein können! Es hätte sich ebenso gut herausstellen können, dass ihre heftigen Gefühle für ihn über die Jahre verflogen sind oder dass ein einziger Blick auf ihn gezeigt hätte, dass viel Zeit vergangen und damit auch die Faszination verschwunden ist, die Josh auf sie ausübte!

Doch nichts dergleichen ist eingetreten. Sobald sie vorhin auf dem Parkplatz aus dem Auto gestiegen war und ihn plötzlich vor sich gesehen hatte, zum Greifen nah, anstatt Tausende von Kilometern entfernt auf einem anderen Kontinent, ging es ihr durch und durch. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Körper und leider auch ihr Geist zeitweilig den Dienst versagen wollten. Nur mühsam gelang es ihr, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken, indem sie sie einfach festhielt, sobald sie es bemerkte. Außerdem befahl sie sich, bloß nicht mehr als ein kurzes „Hallo Josh“, von sich zu geben, als sie plötzlich voreinander standen, um nicht möglicherweise mit dem Aussetzen ihres Sprachzentrums konfrontiert zu werden, was ihr äußerst unangenehm gewesen wäre.

Es war beinahe nicht zu fassen, dass er wirklich da war! Und als er sie umarmte und rechts und links einen flüchtigen Begrüßungskuss auf die Wangen hauchte, musste sie sich erst wieder daran erinnern, dass Atmen zu den körperlichen Grundfunktionen gehört, die absolut unerlässlich sind – auch für sie. Nein, die Zeit hat ihre Faszination nicht heilen können. Ganz im Gegenteil: Es ist noch viel, viel schlimmer geworden!

Dazu kommt, dass Elli lange genug auf der Welt ist, um zu wissen, dass dieser gefühlsmäßige Ausnahmezustand zwar verständlich, jedoch leider auch sehr kontraproduktiv ist. Einen kühlen Kopf zu bewahren und vor allem jederzeit Zugriff auf ihre geistigen Kapazitäten zu haben, ist absolut von Vorteil, um niemanden auf ihren Zustand aufmerksam zu machen – vor allem nicht Josh. Denn egal, aus welchem Grund er hier ist: Sie kann sich kaum vorstellen, dass er bei aller bislang zur Schau gestellten Distanziertheit besonders beeindruckt wäre von übergroßen Gefühlsausbrüchen ihrerseits.

Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Zwar hatte Elli sich vor dem Abendessen dringend vorgenommen, möglichst gelassen zu sein und Josh genauso zu behandeln wie alle anderen Gäste auch. Doch als sie sich anschickte, aus ihrer Kammer im Turm – sie war tatsächlich im gleichen Raum untergebracht wie beim letzten Mal und freute sich riesig darüber – zum Haupthaus hinüberzugehen, musste sie feststellen, dass ihr Gelassenheit leider fern lag. Alleine der Gang von ihrer Kammer ganz oben unter dem Dach hinunter durchs Treppenhaus brachte ihr Innerstes in Aufruhr, weil ihr just in dem Moment, als sie auf der ersten Etage ankam, einfiel, dass Josh vor drei Jahren in einem der beiden Räume auf diesem Stockwerk gewohnt hatte, und sie sich fragte, ob es in diesem Jahr wohl genauso wäre. In ihrer Verzweiflung bezüglich ihrer Verfassung schwor Elli sich deshalb darauf ein, wenigstens so zu tun, als sei sie gelassen, und jegliche unkontrollierten Gesten und Aussagen zu vermeiden. Das wiederum bedeutete, dass sie sich bei jedem Handgriff, den sie tun, und jedem Wort, das sie sagen würde, vorher darüber vergewisserte, ausreichend darüber nachgedacht zu haben, und dass wirklich gar nichts dagegen sprach!

Auf diese Weise angespannt bis in die Haarspitzen litt die arme Elli Höllenqualen und wähnte sich gleichzeitig im Himmel, als sie Josh bei ihrem Eintreffen an der abendlichen Tafel mit den anderen Gästen herumstehen sah. Ihre ersten Gespräche mit den anderen sowie die Begrüßung von Cosima und Carlos brachte sie glücklicherweise unfallfrei hinter sich, doch nun hat Edith gerade darum gebeten, dass alle sich setzen mögen, und damit eine neue Herausforderung für Elli geschaffen: Wo soll sie sich hinsetzen? Soll sie ihrem Gefühl folgen und sich möglichst unauffällig, möglichst nahe bei Josh platzieren oder ist es ratsamer, genau das zu vermeiden?

Während sie noch darüber nachdenkt, übernehmen ihre Reflexe die Kontrolle und lassen sie einfach den nächstgelegenen Stuhl zurückziehen und darauf Platz nehmen. Ihr gegenüber finden sich Julie und Monika ein. Der Stuhl neben ihr bleibt zunächst frei, bis auch er plötzlich zurückgezogen wird … und Elli muss gar nicht hinsehen, um zu wissen, wer sich neben sie setzt: Es ist Josh!

 

Halleluja! Jetzt heißt es Ruhe bewahren!

Als kurze Zeit später die Platte mit den Antipasti herumgereicht wird, entsteht die nächste Herausforderung für Elli, als sie den mächtigen Teller an den neben ihr sitzenden Josh weiterreicht. Es ist kaum zu vermeiden, dass seine Hände die ihren berühren, als er ihr die Platte aus der Hand nimmt, und für einen Moment treffen sich ihre Blicke über duftender, luftgetrockneter Salami und in Zucchinischeiben eingerolltem Käse. Und obwohl Elli bis vor ein paar Minuten tatsächlich großen Appetit hatte – sie kann eigentlich immer etwas essen – so würde sie jetzt am liebsten die zwischen ihnen schwebende Antipastiplatte in hohem Bogen hinwegfegen, um sich sogleich auf Josh zu stürzen und sich an ihn zu schmiegen. Da sie das jedoch nicht darf, ist allergrößte Selbstbeherrschung nötig, um sich zurückzuhalten und sich darüber hinaus noch nicht einmal anmerken zu lassen, in was für einem Flammenmeer sie steht. Eine fast unlösbare Aufgabe!

Dennoch gelingt es ihr, wie gewünscht zu funktionieren und die Platte weiterzureichen. Anschließend braucht sie dringend einen Schluck Wein, den Julie ihr fürsorglicherweise bereits eingeschenkt hat. Als Elli damit ihren gegenübersitzenden Freundinnen zuprosten möchte, sieht sie ein Funkeln in deren Augen. Diesen Blick kennt sie gut! Irgendetwas amüsiert die beiden. Hat sie etwas verpasst? Ist gerade etwas an ihr vorbeigegangen, was Anlass zu Lästereien gibt, und sie hat es nicht bemerkt, zum Beispiel deshalb, weil sämtliche verfügbaren geistigen Kapazitäten darauf ausgerichtet waren, eine Platte mit Antipasti zu halten?

Sie wirft den beiden einen fragenden Blick zu und hofft, durch ein leichtes Kopfnicken oder einen Blick in eine bestimmte Richtung Aufschluss über die Ursache der guten Laune zu erhalten, doch die beiden geben nichts zu erkennen. Elli wäre ja froh über jede Ablenkung, die sie daran hindert, sich vergegenwärtigen zu müssen, dass neben ihr das ausschließliche Objekt ihres Sehnens und Trachtens sitzt, doch ihren Freundinnen ist nichts zu entlocken. Schließlich sieht sie sich selbst unauffällig um, kann aber leider nichts entdecken.

Als sich Josh kurze Zeit später anbietet, für alle vier Brot vom Buffet zu holen, fragt Elli bei ihren Freundinnen nach.

„Irgendwas ist doch los! Habe ich was verpasst?“

Julie schüttelt gespielt unschuldig den Kopf, doch Monikas Grinsen wird noch breiter.

„Nun sag‘ schon“, drängt Elli. „Was ist passiert?“

Monika und Julie schauen sich an, dann sehen sie über den Tisch zu ihr hinüber. Monika lässt sich schließlich durch Ellis immer noch hilflos fragenden Blick erweichen.

„Ich dachte, dass wir eigentlich dir diese Frage stellen müssten“, antwortet sie und sieht Elli mit großen Augen an.

„Mir?“, fragt die Angesprochene erstaunt. „Wieso mir? Mir ist nichts aufgefallen!“

Suchend blickt sie sich am Tisch um, ob sie irgendetwas entdeckt, was Aufschluss über diese rätselhafte Bemerkung Monikas geben kann, doch ihr will keine Erklärung ins Auge fallen. Dann sieht sie an sich herunter und kann auch dort nichts entdecken.

Ihre Freundinnen sind ob ihrer Verwirrung nun sehr amüsiert und kringeln sich auf der anderen Seite des Tisches, während Ellis Irritation immer größer wird. Schließlich zeigt Monika erneut Erbarmen.

„Meine liebe Elli, hältst du mich für blöd? Oder für so lange verheiratet, dass ich nichts mehr von Anziehungskräften zwischen Männlein und Weiblein verstehe?“

Mit einem Mal begreift Elli. Nicht irgendwer anders am Tisch ist die Ursache für Monikas und Julies Amüsement, sondern sie selbst ist es! Von einer Sekunde auf die andere merkt sie, wie ihr das Blut in den Kopf schießt, und sie kann nur hoffen, dass das keine allzu offensichtlichen Auswirkungen zeigt.

Wie kann das sein? Sie hat sich doch wirklich redlich bemüht, sich nichts anmerken zu lassen! Und selbst wenn man eine gewisse Befangenheit bei ihr hätte feststellen können, so würde doch diese kurze Zeit, die sie am Tisch neben Josh sitzt, in keinster Weise dazu ausreichen können, handfeste Vermutungen bezüglich ihrer Präferenzen für ihn zu entwickeln. Schließlich haben sie eben noch nicht einmal miteinander gesprochen! Aber wie dem auch sei: Diesen Verdacht, der ja sachlich durchaus begründet ist, kann sie jetzt unmöglich so stehen lassen. Das wäre fatal!

Leider kann sie es jetzt, nachdem diese Vermutung im Raume steht, nicht mehr riskieren, ihren Freundinnen gegenüber möglichst beiläufig einzuflechten, dass sie einige Male mit Josh gemailt hatte und er ihre Ankündigung, wieder hierher zu fahren, zum Anlass genommen hatte, ebenfalls diesen Kurs zu buchen. Ausgeschlossen! Der richtige Zeitpunkt ist unwiederbringlich verstrichen und nun – darüber ist sich Elli im Klaren – wird sie lügen müssen, was das Zeug hält, um jeden Verdacht bezüglich ihrer Interessenlage zu zerstreuen. Zwar findet sie es ganz schrecklich, ihre Freundinnen anschwindeln zu müssen, doch jetzt kann sie sich keinen Gewissensluxus mehr leisten. Sie wird schweigen müssen wie ein Grab und jeglichen Verdacht von sich weisen! Koste es, was es wolle! Es würde die ohnehin schon schwierige Situation zwischen Josh und ihr zusätzlich belasten, wenn andere sich über sie das Maul zerrissen – das kann nur schiefgehen! Deshalb darf überhaupt niemand davon erfahren, dass sie mehr miteinander zu tun hatten, als sich hier vor drei Jahren kennenzulernen. Das betrifft auch ihre beiden Freundinnen, denen sie unter anderen Umständen alles anvertrauen würde! Nur so sehr sie die beiden auch mag, kann sie sich dennoch nicht auf ihre Diskretion verlassen. Zu groß ist die Versuchung für Außenstehende, hin und wieder eine zweideutige Bemerkung einzuflechten, um sie zu foppen. Zu groß die Gefahr, dass sich die eine oder andere verplappert oder einfach nur schlecht schauspielert, wenn es darum geht, ein Geheimnis zu bewahren. Wenn Elli jetzt schon größte Schwierigkeiten damit hat, sich Josh gegenüber neutral zu verhalten – jedenfalls so lange, bis er selbst eine ihre Beziehung klärende Verhaltensweise zeigt – wie unmöglich soll das erst werden, wenn sie dabei auch noch permanent unter kritischer Beobachtung steht?

„Monika, bist du vielleicht sogar zu lange verheiratet und hörst deshalb die Flöhe husten?“, gibt Elli zurück und beglückwünscht sich heimlich zu der für ihre Verhältnisse recht selbstbewussten Formulierung. „Wie kommst du um Himmels willen darauf, dass ich mit irgendwem flirte?“

„Erfahrung, meine Liebe“, antwortet Monika und lächelt selbstsicher, was Elli nun doch wieder verunsichert. Kann es sein, dass ihr Verhalten wirklich so entsetzlich auffällig ist, dass jeder sofort ahnt, was mit ihr los ist? Monika jedenfalls wirkt ihrer Sache so sicher, als würde auf Ellis Stirn ein Teleprompter pausenlos die Eilmeldung wiederholen: „Elli und Josh haben was miteinander. Weitersagen!“

Irritiert starrt sie Monika an. Doch nun zeigt endlich Julie Erbarmen und klärt die Sache auf.

„Lass‘ dir nichts einreden, Elli. Die Sache ist viel einfacher“, beginnt sie, was ihr einen bösen Blick von Monika einbringt. „Unsere liebe Monika hat das Gedächtnis eines Elefanten“, erklärt sie, was diese mit einem Stoß in Julies Rippen quittiert. „Sie erzählte mir vorhin auf dem Parkplatz, dass sie sich in dem Moment, als sie Josh sah, daran erinnerte, dass er dich damals bei der Verabschiedung geküsst hat. Auf den Mund! Und sie ist sich ganz sicher, dass das keine Einbildung war! Und das heißt, liebe Elli, falls du es nicht schaffen solltest, irgendeine überzeugende Erklärung anzubieten, die Monikas Erinnerung erläutert, dass du leider verloren hast und wir beide“, dabei lächelt sie Monika verschwörerisch zu, „auch weiterhin davon ausgehen müssen, dass es mehr zwischen dir und Josh gibt, als ihr zugeben wollt!“