Drei Jahre später

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Maik unterdrückt ein Seufzen. Es wäre ihm schon lieber, wenn seine Frau häuslicher wäre! Aber solange der Haushalt irgendwie erledigt wird – und wenn es mithilfe einer Putzfrau ist – kann er es verkraften. Er hat sich daran gewöhnt. „Irgendwas ist eben immer“, denkt er lakonisch. Wenn er sich dafür nicht ständig mit Carola streiten muss, weil sie findet, er könne ja mal dieses oder jenes selbst erledigen, soll es ihm recht sein.

Nun, jedenfalls ist er froh, dass die Situation zwischen ihnen heute viel entspannter ist als früher. Dafür kommt er seiner Frau gerne entgegen! Er hat ohne zu murren seine Sachen selbst gepackt und sogar dabei geholfen, das Auto zu beladen, obwohl er ja eigentlich noch dringend E-Mails checken musste. An diesen Ort in Italien verirrt sich das Netz nur selten! Da fand er seine Frau ein bisschen kleinlich, die demonstrativ mit ihrem Kaffee am Küchentisch sitzen blieb und einfach wartete, bis er fertig war, um dann mit ihm gemeinsam das Auto zu beladen. Da ist sie ein bisschen unentspannt! Als ob er nie etwas täte! Im letzten Monat hat er sogar einmal den Rasen gemäht, obwohl ihn Gartenarbeit nicht interessiert und er das auch immer gesagt hat! Aber gut, dafür ist jetzt wenigstens alles friedlich und er kann sich auf den Urlaub freuen!

+

Julie

Julie schlägt die Augen auf. Sie muss für einen Moment eingeschlafen sein. Dabei hatte sie sich doch nur kurz auf das Bett geschmissen, um mal eben die Matratze zu prüfen. Nun weiß sie jedenfalls, dass die großartig ist und sie hier wunderbar schlafen wird!

Sie sieht sich in der Kammer des Nebengebäudes um, die Stefano ihr als neues Zuhause für diese Woche zugewiesen hat. Ein wunderschönes Zimmer mit Blick auf den Hof vor dem Haupthaus, den sie durch das geöffnete Fenster sehen kann. Die hell geblümten Gardinen bauschen sich durch die leichte Brise, die herrlich würzige Luft zu ihr herüber weht. Was für ein wunderbarer Ort für ein kleines Nickerchen!

Wohlig reckt sich Julie auf der hellblau-orange-gestreiften Bettwäsche. Sie hat es wirklich gut getroffen! Die rustikale Holzdecke über ihr verbreitet zusammen mit den weiß und zart orangefarben gestrichenen Wänden eine fröhlich-warme Atmosphäre. Auf dem Holzboden zu ihren Füßen greift ein Flickenteppich den Orangeton der Wände auf und ergänzt ihn um rote, gelbe und blaue Streifen. Ein riesiger alter Schrank und ein kleines Regal in der Ecke bieten ausreichend Platz für ihre Habseligkeiten. Ein einfacher Tisch mit zwei ebensolchen Holzstühlen vor dem Fenster lädt dazu ein, es sich bei einer Tasse Tee gemütlich zu machen und hinauszusehen über den großen Platz bis zum Haupthaus und ein Stückchen daran vorbei in die Ferne, wo sich bis zum Horizont Berge aneinanderreihen, um sich ganz hinten in einem dunstigen Türkis zu verlieren. Ein Traum!

Obwohl das Bett sehr gemütlich ist und das laue Lüftchen auf angenehme Weise die Hitze des Tages vertreibt, hält Julie es nicht länger dort aus. Sie muss jetzt einfach hinaus und sich alles ansehen, das ganze Anwesen wiederentdecken, an das sie wohl öfter gedacht hat, als sie sich eingestehen mochte. Jetzt, wo sie wieder hier ist, spürt sie, wie ihr der Ort gefehlt hat, an dem es ihr einst so gut ging.

Endlich ist sie wieder da!

Sie springt aus dem Bett, schlüpft in ihre Schuhe, richtet eilig ihre hellblaue Jeans und das grüne T-Shirt, bürstet sich kurz die Haare und läuft durch den kleinen Flur hinaus auf den Hof.

Vor ihr richtet sich die sandfarben verputzte Fassade des Haupthauses auf mit dem beeindruckenden Portal aus zwei schweren, dunkelbraunen Türflügeln, gekrönt von einem halbrunden Oberlicht aus bunten Glasscheiben. Zu beiden Seiten der Tür sorgen zwei altertümlich verschnörkelte Laternen nachts für ein bisschen Helligkeit. Dort, in diesem Haus, hat sie bei ihrem ersten Aufenthalt links neben dem Eingang gewohnt – daran erinnert sie sich gut! Auch jenes Zimmer mit den hellblauen Wänden und dem alten rot, braun und schwarz gemusterten Perserteppich hat sie sehr genossen. Trotzdem findet sie es schön, nun eine andere Kammer auf dem Gut kennenlernen zu dürfen.

Julie läuft quer über den Platz zu einer kaum hüfthohen Mauer, die nur wenig Schutz vor dem dahinter liegenden, abschüssigen Gelände bietet. Der recht steil abfallende Hang ist – bis auf ein paar herausragende Felsen – von undurchdringlich erscheinendem Gestrüpp überwuchert, das sich scheinbar nur mit Mühe auf den kärglich mit Erde und Flechten bedeckten Felswänden halten kann. Aber von dort aus hat sie eine herrliche Aussicht über das Tal und die dicht bewaldeten Hänge, die nur ab und zu einen Blick auf ein paar ziegelrote Dächer oder aus grauem Stein erbaute Hausmauern freigeben. Die sonnengelben Tupfer von Ginsterbüschen komplettieren die Idylle, die sich vor ihr bis hin zum Horizont erstreckt.

Ein Ausblick, der fast nicht von dieser Welt zu sein scheint! Und dazu diese herrliche Ruhe!

Julie schließt für einen Moment die Augen und lauscht in die spätnachmittägliche Stille. Der weiche Wind bewegt ganz zart die Blätter einiger Bäume in der Umgebung, ein Brummer surrt an ihr vorbei und von Ferne vernimmt sie das melodische Klingen von Glocken, die auf das Vorhandensein einer Ziegen- oder Kuhherde schließen lassen.

In diesem Moment wird sie erobert von einem großen Glücksgefühl. Es breitet sich von ihrem Herzen aus und erfüllt sie schließlich ganz. Julie breitet ihre Arme aus, als würde sie auf diese Weise den Moment festhalten können. Sie öffnet ihre Augen und genießt die ganze Pracht dieses wunderbaren Ortes. Warum kann es nicht immer so sein? Warum kann die Welt nicht immer so schön sein, so friedlich und so herrlich sorglos? Warum ist es leider meistens anders?

Seufzend fährt sie sich durch ihre dichte, kastanienfarbene Lockenpracht und dreht sich langsam im Kreis, um ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie schaut über die große, sanft abfallende Wiese zu ihrer Linken, die ganz hinten von einer riesigen Eiche überschattet wird. Den Platz darunter mit den in einem Halbkreis aufgestellten Holzbänken erinnert sie gut: Meistens fand dort der Gitarrenunterricht statt. Noch ein Stückchen weiter links entdeckt sie im dichten Gras ein paar Felsbrocken. Auch dort hat sie gerne gesessen, um zu proben, alleine für sich oder mit den anderen. Von da aus hatte sie einen fantastischen Blick auf das Bergmassiv im Norden, dort wo die Straße – oder besser die Schotterpiste – entlangführt, auf der man dieses Anwesen erreicht.

Sie lächelt bei der Erinnerung an die Stunden, die sie mit ihren Mitstreitern dort verbracht hat. Was wohl aus ihnen geworden ist? Zumindest Elli und Monika wird sie gleich wiedersehen – und natürlich Matthias! Auf seine neue Freundin ist sie besonders gespannt, richtig neugierig sogar! Was er wohl für einen Frauengeschmack an den Tag legt? Sie denkt nach. Bislang konnte sie nicht wirklich ein System bei seiner Wahl erkennen: Damals war er erst von Elli sehr beeindruckt gewesen, bis er sich dann, nach diesem denkwürdigen Nachmittag, an dem sie sich auf einem der Felsen sitzend gegenseitig ihre tiefsten Geheimnisse anvertraut hatten, mehr für Julie zu interessieren schien. Allerdings war das rein platonisch gewesen! Damals hatte er Julie von Tine, seiner Exfreundin erzählt, und die wiederum schien seiner Beschreibung nach weder mit Elli noch mit ihr selbst irgendwelche Gemeinsamkeiten zu haben – weder vom Aussehen noch vom Charakter oder der Lebenssituation her!

Nun ja, es wird nicht mehr lange dauern, dann wird sie Ulla selbst kennenlernen. Bestimmt ist sie nett! Zu Matthias passt eigentlich nur eine nette Frau, so gutmütig, wie er selbst ist!

Julie beschließt, ihren Rundgang fortzusetzen. Bald schon werden die nächsten Gäste da sein und dann ist für eine Woche an so etwas wie Ruhe und Besinnung nicht zu denken!

Mit flotten Schritten eilt sie über den Platz, am Haupthaus vorbei und auf die Südseite des Gebäudes zu, wo unter zwei mächtigen Platanen ein einfacher langer Holztisch, Bänke und Stühle aufgebaut sind. Julie ist entzückt: Hier hat sich nichts verändert! Dieser Platz, wo sie die Mahlzeiten eingenommen haben, sieht noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hat! Sogar die ausrangierten, zu Blumentöpfen umfunktionierten Töpfe auf der Mauer am Rande der Essecke meint sie unverändert wiederzuerkennen. Und aus der Küche, hinter der nur einseitig geöffneten zweiflügeligen Holztür, vernimmt sie die vertrauten Klänge von eifrigen Handgriffen, die sicherlich das Abendessen vorbereiten. Kurz ist Julie versucht hineinzugehen und Edith und vielleicht auch Sandra zu begrüßen, die sie beide noch nicht gesehen hat. Aber dann entschließt sie sich, es sein zu lassen. Da drinnen wird man alle Hände voll zu tun haben, für die ganze Truppe zu kochen, und wenn sie dabei ständig von eintreffenden Gästen gestört werden, ist das vermutlich mehr lästig als angenehm!

Einen Moment noch bleibt Julie unschlüssig stehen, dann läuft sie am Tisch und den Bänken vorbei ein paar langgezogene, in den Fels gehauene breite Stufen hinab. Auf den Platz dort unten hat sie sich besonders gefreut!

Mit jedem Schritt, den sie sich abwärts bewegt, treten Bäume und Büsche an den Seiten zurück und geben den Blick frei auf eine Terrasse, die, im Halbrund angelegt, mit den weit in die Breite gezogenen Stufen anmutet wie ein Amphitheater. Jenseits der kleinen Mauer, die vor dem Abhang dahinter schützt, beginnt die Kulisse des Theaters, diese einzigartige, komplett unverstellte Aussicht über das Tal, das ganz weit in die fast unberührt scheinende Bergwelt hinausführt. Auf der großzügigen Terrasse angekommen hat man fast das Gefühl, allein auf einem hohen Berg zu stehen, die Welt zu seinen Füßen. Sich eine schönere Aussicht vorzustellen, erscheint fast unmöglich!

Unwillkürlich seufzt Julie tief auf vor Entzücken. Langsam schreitet sie über den Platz und lässt sich schließlich auf der Mauer nieder. Von diesem Blick in die Ferne hat sie oft geträumt und jetzt ist er Wirklichkeit!

 

Sie greift in ihre Hosentasche, zieht ein Päckchen und ein Feuerzeug hervor und steckt sich eine Zigarette an. Genüsslich inhaliert sie den Rauch und blickt in die Ferne. Dabei denkt sie zurück an den ersten Abend, damals vor drei Jahren, als sie auch hier auf der Aussichtsterrasse saß, ungefähr so wie jetzt. Es war bereits dunkel gewesen und von der oben liegenden Essecke war das fröhliche Geplauder und Gelächter der anderen bis zu ihr herunter gedrungen. Sie hatte allein hier unten gesessen und sich irgendwie ausgeschlossen gefühlt, obwohl sie das Alleinsein selbst gewählt hatte. Sie hatte gemeint, wegen ihrer dunklen Vergangenheit nicht zu denen gehören zu können, die ein „normales“ Leben lebten, eines, das nicht so verkorkst war wie ihres.

Ausgerechnet Matthias, dieser unreife Bengel, hatte ihr damals zu einer anderen Sicht auf die Dinge verholfen. Seitdem hat sich einiges geändert. Vor allem hat sie sich geändert! Sie ist offener geworden, vertraut sich manchmal sogar anderen Menschen an und sieht sich weniger als Außenseiter als früher. Dennoch: Über die schlechten Zeiten in ihrem Leben spricht sie immer noch mit niemandem. Matthias war und ist der Einzige, der Bescheid weiß. Es muss es auch keiner wissen. Es reicht, wenn sie selbst ihre Vergangenheit irgendwann verwinden kann.

Julie bläst stoßartig den Rauch ihrer Zigarette aus, fast ist es ein Stöhnen, was ihr unwillkürlich entgleitet.

Sie hatte wirklich gedacht, dass sie es verwunden hat, dass sie endlich in einer neuen Welt angekommen ist und ihre Vergangenheit nicht mehr zählt. Damals, kurz nach ihrem Urlaub, hatte sie es sogar fertig gebracht, das Grab ihrer Eltern zu besuchen. Sie hat versucht, sich posthum mit ihnen zu versöhnen – nicht um ihrer Eltern willen, denn die hatten nichts davon und zumindest ihrem Vater wäre es vermutlich auch ziemlich egal gewesen. Aber um ihrer selbst willen wollte sie mit ihrer Vergangenheit abschließen und sie hatte das Gefühl gehabt, dass dieser Besuch auf dem Friedhof dazugehörte. Ein paar Tage später hatte sie dann gemerkt, dass sie sich leichter fühlte, befreit, und dass sie nicht mehr so oft an das denken musste, was war und was sie getan hatte. Sie hatte geglaubt, sie sei über den Berg, sie hätte es geschafft, ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Doch dann …

Sie fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Tränen steigen ihr in die Augen. Jetzt bloß nicht weinen! Wer weiß, wie lange sie hier alleine ist. Es geschieht ja immer im ungünstigsten Moment, dass plötzlich jemand um die Ecke kommt, und das wäre jetzt ein ganz blöder Einstieg in den Urlaub!

Julie versucht sich zu beruhigen und ihre Gefühle zurückzudrängen. Doch plötzlich ist alles wieder da. Plötzlich fühlt sie sich fast genauso wie vor drei Jahren, wie eine Außenseiterin, eine, die nicht dazu gehört. Doch dieses Mal ist der Grund nicht, dass sie etwas Schlimmes getan hat, sondern dass sie vielleicht etwas tun muss, was sie sich möglicherweise kaum verzeihen kann.

Sie schaudert. Sie weiß nicht, was sie tun soll, und sie kann mit niemandem darüber reden. Wer sollte sie verstehen? Außerdem fürchtet sie sich gewaltig davor, am Ende von irgendwem zu irgendetwas überredet zu werden, was sie am Ende bereut. Nein, diese Sache muss sie alleine durchstehen. Da kann ihr niemand helfen! Wie auch?

Kurze Zeit später drückt sie ihre Zigarette aus und zündet sich gleich darauf eine zweite an. Zur Beruhigung. Sie beschließt, dass sie an diese Sache keinen Gedanken mehr verschwenden wird – vorerst – wenn diese Zigarette zu Ende geraucht ist. Sie wird sich nichts anmerken lassen, einfach nur ihren Urlaub verbringen und am Ende der Woche wissen, was sie tun wird. Einfach so. Dann wird sie eine Entscheidung treffen, und zwar die, die sich für den Moment am besten anfühlt. Mehr kann sie nicht von sich erwarten. Doch bis dahin wird sie alles tun, um nicht mehr daran zu denken.

Nach ein paar Minuten fühlt Julie sich fast wieder im Gleichgewicht. Sie erhebt sich nach einem abschließenden Blick auf das Tal – was für ein wunderschöner Ort das hier doch ist! – dreht sich um und schlendert die Treppenstufen hinauf. Die Essecke unter den beiden Platanen liegt immer noch verlassen da, nur eine grau getigerte Katze hat es sich jetzt auf dem Mauervorsprung zwischen zwei gelb und weiß blühenden Gewächsen in ausrangierten Kochtöpfen bequem gemacht. Julie kann nicht widerstehen, ihr weiches Fell zu streicheln und damit das pelzige Tier bei seiner vorabendlichen Siesta zu stören. Doch nach einer kurzen Irritation der Katze darüber, dass jemand sie aus Morpheus‘ Armen reißt, lässt sie sich die leichte Nackenmassage dann doch gefallen und leckt Julie mit ihrer rauen Zunge kurz über die Hand.

Plötzlich hört Julie, dass sich in einiger Entfernung eine Tür öffnet. Neugierig hebt sie den Blick und lässt ihn über den großen Platz hinter dem Haupthaus gleiten, an dessen gegenüberliegender Seite ein zweistöckiger Turm steht, an den sich ein flacheres Gebäude schmiegt. Der Turm ist an zwei Seiten umgeben von einer gemütlichen Veranda, unter deren Dach sich eine kleine, unscheinbare Holztür befindet, die zum Musikraum führt. Aus dieser Tür tritt nun ein hochgewachsener, sehr schlanker Mann mit blonden, etwas struppigen Haaren, einem lässigen olivgrünen T-Shirt und ebensolchen dunkelgrauen kurzen Hosen zu groben, schon etwas ausgelatschten Schuhen. Julie kennt ihn und kann es kaum fassen: Das ist Josh! Wie um alles in der Welt kommt er hierher?

„Josh!“, ruft sie, lässt die Katze im Stich und läuft erfreut quer über den Platz auf ihn zu.

„Hi Julie!“, grüßt er lächelnd zurück und kommt ihr raschen Schrittes entgegen. „Schön, dich zu sehen!“

„Ich hätte nicht erwartet, dich hier wiederzutreffen. Bist du extra aus Neuseeland angereist?“

Julie ist überrascht. Natürlich – vor drei Jahren hatte er auch schon vom anderen Ende der Welt bis hierher finden müssen, sonst hätten sie sich nicht kennengelernt. Außerdem weiß sie, dass er familiäre Verbindungen nach Europa hat: Seine Mutter ist Deutsche und sie lebt – oder lebte zumindest damals – wieder in ihrer alten Heimat. Trotzdem erstaunt es sie, dass der Mann den weiten Weg noch einmal auf sich genommen hat, um an diesem abgelegenen Ort aufzuschlagen. Ob er den Urlaub auch dieses Mal mit einem Besuch bei seiner Mutter verbindet? Warum nicht? Vielleicht hat Josh ein weniger angespanntes Verhältnis zu seinen Eltern als sie es hatte. Es soll ja sogar Leute geben, die ihre eigenen Eltern mögen!

„So sieht das wohl aus“, grinst Josh. „Es ist ganz hübsch hier“, ergänzt er mit einem nonchalanten Lächeln.

Seltsam! Wenn es nicht der immer coole Josh wäre, dann hätte Julie sich jetzt einbilden können, dass er ein wenig verlegen wirkt. Doch verlegen zu sein, passt definitiv nicht zu Josh!

In diesem Moment spürt Julie, wie etwas weich an ihr Knie stupst. Sie schaut an sich herunter und sieht, dass ein großer braun-schwarz gefleckter Hund ihre Aufmerksamkeit sucht und vermutlich gekrault werden will.

„Lucky! Dich gibt es ja auch noch!“, ruft sie begeistert und beugt sich sofort zu dem Tier hinab, um ausgiebig das dicke Fell zu kraulen. Dabei umschmeichelt sie den Vierbeiner unermüdlich mit Komplimenten darüber, was für ein feiner Hund er sei und so ein lieber Kerl und vieles mehr.

Josh ist erleichtert. Er kennt es absolut nicht von sich, dass er verlegen wird. Aber er muss zugeben, dass genau das gerade passiert ist! Es ist ihm tatsächlich unangenehm, auf den Grund seines Hierseins angesprochen zu werden. Dabei ist doch gar nichts dabei, wenn er hier Urlaub macht. Warum soll er es nicht tun? Andere machen das schließlich auch!

Dennoch weiß er, dass das nicht ganz dasselbe ist. Er muss ehrlicherweise zugeben, dass er – so großartig dieser Ort in Italien auch ist – vermutlich nicht hier wäre, wenn Elli nicht angekündigt hätte, hierherzukommen. Aber selbst dann, wenn Elli ein Grund für seine Reise hierher ist, warum hat er das nicht einfach gesagt? Warum hat er Julie nicht ganz cool geantwortet: „Du wusstest vielleicht nicht, dass ich kommen würde, aber ich wusste, dass du hier sein würdest – von Elli.“ Was ist schon dabei? Sie haben sich hier kennengelernt und nun treffen sie sich wieder hier! So what?

Aber genau das konnte er eben nicht einfach sagen. Er hätte das Gefühl gehabt, etwas erklären zu müssen. Deshalb hat er geschwiegen und er ist dem Hofhund Lucky sehr, sehr dankbar dafür, dass dieser die Situation gerettet hat und Josh nicht in die Verlegenheit kam, irgendetwas erläutern zu müssen!

Dankbar schaut Josh zu dem Hund hinunter, der sich mittlerweile auf ein gemütliches Wellnessprogramm eingerichtet zu haben scheint und sich zu Julies Füßen austreckt, um ihre Zuwendungen in maximal entspannter Position genießen zu können.

Als Josh sich unbeobachtet fühlt, blickt er hoch, den Schotterweg entlang, der zwischen dem Haupthaus zur Linken und einer Schafwiese zu Rechten zum Parkplatz führt und von dort zu einer von Zypressen gesäumten Allee wird, die an Büschen, Gemüsebeeten und Stallungen vorbei nach ungefähr hundert Metern im Wald verschwindet. Von dort werden in nicht allzu ferner Zukunft Elli und auch die anderen Gäste mit ihren Autos anreisen.

Elli! Ein bisschen aufgeregt ist er schon, dass er sie gleich wiedersehen wird. Sie ist ihm nicht gleichgültig, keineswegs! Er mag sie, sehr sogar, wie er sich eingestehen muss. Die Zeit, die sie damals, nach der gemeinsamen Urlaubswoche hier, miteinander in Deutschland verbracht hatten, war wunderschön gewesen. Dennoch war für ihn immer klar gewesen, dass ihre Beziehung keine auf Dauer sein kann. Wie auch, wenn sein Lebensmittelpunkt in Neuseeland liegt und ihrer in Deutschland?

Doch warum ist er dann hier? Was will er von ihr und wie soll er sich ihr gegenüber verhalten?

Diese Frage stellt er sich, seit er die Reise gebucht hat. Bis heute hat er allerdings keine Antwort darauf gefunden. Sucht er vielleicht doch unbewusst nach einer festen Partnerin und will herausfinden, ob Elli das sein kann? Würde sie das überhaupt wollen?

Vermutlich schon, denkt er nach kurzem Überlegen. Er weiß nicht warum, aber er fühlt es, auch wenn sie das Thema natürlich niemals angeschnitten, sondern weiträumig umgangen haben – damals in Deutschland und natürlich erst recht in ihrem unverbindlichen E-Mail-Wechsel danach. Wie hätte eine Beziehung auch funktionieren sollen bei der Entfernung, die zwischen ihren beiden Welten liegt? Obwohl, wo ein Wille ist … ist da ein Wille?

Er merkt, wie eine altvertraute Anspannung in ihm hochkriecht, ein unangenehmes Gefühl, das ihm die Luft zum Atmen zu nehmen scheint und das immer dann auftaucht, wenn seine Gedanken sich in eine Richtung bewegen, die mit „fester Beziehung“ zu tun hat. Er fühlt sich plötzlich wie eingesperrt, auch wenn er längst ahnt, dass das nichts mit Elli zu tun hat, sondern mit ihm selbst.

Will er, dass das ewig so weitergeht? Will er sich immer wieder von irgendetwas abhalten lassen, sein Leben mit jemandem zu teilen? Ist die Unabhängigkeit, die er sucht, nicht nur ein anderes Wort für Einsamkeit? Will er so den Rest seines Lebens verbringen? Und falls nicht, wäre Elli dann nicht genau die Richtige?

Statt eine Antwort auf diese Frage zu finden, hört er von Ferne Motorengeräusche. Ein, nein zwei Autos nähern sich dem Gut. Ob sie in einem davon sitzt?

„Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft!“

Julie horcht auf.

„Das könnten Elli und Monika sein! Oder Matthias! Die drei kommen nämlich auch!“, erklärt sie ihm.

Wieder spürt Josh Verlegenheit in sich hochsteigen, jetzt sogar noch mehr als vorhin. Er sollte ganz schnell etwas dazu sagen, dass er das alles sehr wohl weiß, nämlich von Elli. Er öffnet den Mund, um etwas Entsprechendes möglichst gelassen von sich zu geben, da läuft Julie schon los, ungeachtet des sehr enttäuschten Blickes aus zwei großen, dunklen Hundeaugen, die das weder verstehen noch gutheißen können.

Josh dagegen muss zugeben, dass er erleichtert ist. Er hat versucht, es ihr zu sagen – ehrlich!

Etwas langsamer folgt er der davoneilenden Julie, die schon fast am Haupthaus vorbei und auf dem Parkplatz angekommen ist. In diesem Moment taucht erst ein und dann noch ein weiteres Auto aus dem Wald auf, durch den der Weg vom Anwesen zur Schotterstraße führt. Tatsächlich: Am Steuer des ersten Wagens sitzt Elli. Sein Herz schlägt für einen kurzen Moment schneller, als er die Fahrerin erkennt. Ihre Haare sind länger geworden. Sie sieht … großartig aus!

 

Dann fällt sein Blick auf die Beifahrerin, die ihn verblüfft anstarrt: Es ist Monika.

In diesem Moment schießt Josh durch den Kopf, dass nicht nur er vermieden hat, Julie darüber aufzuklären, dass er sehr wohl weiß, dass Elli, Monika und Matthias hierher kommen werden. Auch Elli hat es augenscheinlich vermieden, ihren beiden Freundinnen gegenüber den Umstand zu erwähnen, dass Josh hier sein wird, und das, obwohl sie stundenlang mit Monika im selben Auto unterwegs war. Soso!

Monika kann es nicht fassen. Dass Julie hier sein würde, wusste sie. Aber Josh? Was macht der hier? Der kommt doch aus Neuseeland, wenn sie sich richtig erinnert? Unglaublich! Was für ein Zufall, dass er in genau derselben Kurswoche hier ist wie die drei Mädels und Matthias!

„Das gibt’s nicht! Schau dir an, wer da ist!“, sagt sie zu Elli gewandt.

„Unfassbar!“, murmelt diese und parkt ihr Auto sorgfältig neben Julies blauem Kastenwagen, der durch das weiße Kreuz auf rotem Grund am Nummernschild unverkennbar der Eidgenossin zuzuordnen ist.

„Das finde ich auch!“, gibt Monika zurück.

Dann stutzt sie. Urplötzlich tauchen Bilder vor ihrem inneren Auge auf, die sie fast vergessen hatte. Doch jetzt steht ihr alles so deutlich vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Sie sieht die Szene von vor drei Jahren ablaufen, als sich alle voneinander verabschiedeten. Das war genau hier gewesen, auf diesem Parkplatz. Es war der Abreisetag und die Kursteilnehmer hatten sich vor dem Haupthaus versammelt, um ihre Autos zu beladen und sich Lebewohl zu sagen. Dabei sah sie Elli, wie sie neben ihrem Wagen stand und auf Matthias wartete, mit dem sie zurück nach Deutschland fahren wollte. Dann sie sah Josh, wie er sich Elli näherte. Zu dumm, dass Monika dann für einen Moment woanders hingesehen hatte! Doch als ihr Blick wieder in die Richtung der beiden fiel, sah sie, wie Josh Elli an sich zog und küsste – jedoch nicht nur auf die Wange, wie man es vielleicht in einigen Teilen der Welt und in einigen Kreisen zu tun pflegt, sondern auf den Mund! Das war definitiv keine unverbindliche Verabschiedung gewesen, wie man sie irgendwo anders praktizieren mochte – bestimmt auch nicht in Neuseeland. Das hatte mehr zu bedeuten!

Monika ist perplex. Sie schaut von Elli zu Josh und wieder zu Elli.

Ob es da etwas gibt, was ihre Freundin ihr nicht erzählt hat? Wie es wohl damals weitergegangen ist mit den beiden? Ist es überhaupt weitergegangen? Josh ist nie ein Thema gewesen in den E-Mails, die sie sich von Zeit zu Zeit schrieben. Hätte sie vielleicht mal nachfragen sollen?

Misstrauisch blickt sie nach links zur Fahrerin. Doch Elli springt bereits aus dem Auto, bevor Monika irgendetwas in ihrem Gesicht ablesen kann. Eilig steigt sie selbst aus dem Wagen und sieht, wie Julie und Elli sich um den Hals fallen. Wie gebannt behält sie Elli im Blick und wartet neugierig darauf, was sie als nächstes tun wird. Wie wird die Begrüßung mit Josh ausfallen?

Plötzlich tippt ihr jemand auf die Schulter.

„Die großartige Jazz-Diva ist wieder da! Monika! Wie ich mich freue, dich wiederzusehen!“

Überrascht dreht Monika sich um und steht dem Gutsherrn gegenüber, der sich unbemerkt genähert hat.

„Stefano! Was ist das schön, wieder hier zu sein! Ich bin so glücklich, dass das geklappt hat!“

Sie nehmen sich in den Arm und kurz danach ist auch Sandra, seine Frau, zur Stelle und umarmt Monika ebenfalls. Sofort müssen die wesentlichen Informationen darüber ausgetauscht werden, wie es allen geht und dass sie sich überhaupt nicht verändert haben, oder vielleicht doch – man sehe ja sogar noch viel jünger aus als früher!

Dann kommen Matthias und Ulla heran und so verliert Monika im allgemeinen Hallo Elli und Josh aus den Augen. Als sie schließlich selbst dem Neuseeländer gegenübersteht, ist Elli schon ganz woanders.

In diesem Moment biegt ein weiteres Auto auf den Parkplatz ein. Erst glaubt Monika, ihren Augen nicht zu trauen. Dann bricht sie in schallendes Gelächter aus.

„Ja, ist das denn hier ein Klassentreffen?“, ruft sie begeistert. „Das sind ja Carola und Maik!“