Drei Jahre später

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Resigniert blickt sie die Felswände hinauf. Warum kann sie nicht einmal Glück haben? Sie hat es doch nun wirklich nicht leicht in ihrem Leben. Als alleinerziehende Mutter muss sie zusehen, wie sie klarkommt. Es ist schwer genug, von dem wenigen Geld zu leben, das sie als Aushilfe an der Tanke, im Supermarkt oder, wenn sie mal ganz viel Glück hat, als Urlaubsvertretung in der Produktion verdient. Voll arbeiten kann sie sowieso nicht, weil ihr fünfjähriger Sohn sie noch viel zu sehr braucht. Er ist so ein wildes Kind! Eigentlich muss sie den ganzen Tag um ihn herum sein, weil er ständig etwas anstellt, in Wut- und Trotzanfällen herumschreit und Sachen durch die Gegend wirft. Vermutlich hat er das von seinem Vater!

Ullas Gesicht nimmt einen verächtlichen Ausdruck an. Leon! Wieso hatte sie sich damals nur mit ihm eingelassen? Ihre Mutter hatte sie gewarnt. „Pass auf, dass du von dem nicht schwanger wirst“, hatte sie ihr immer wieder gesagt. Und Ulla hatte das mit dem schwanger werden auch gar nicht vorgehabt. Doch dann hatte sie diese Magen- und Darm-Sache gehabt und sich übergeben müssen. Das war vermutlich der Grund gewesen, warum sie trotz Pille ihren Sohn bekommen hatte. Jedenfalls hatte ihr Frauenarzt das vermutet.

Ihre Mutter hatte ihr damals mit einer Abtreibung in den Ohren gelegen. Sie würde sich nur unglücklich machen, hatte sie geschimpft. Der Leon würde bestimmt nicht lange bleiben! Außerdem würde der ja selbst nur von der Hand in den Mund leben. Der könnte doch keine Familie versorgen!

Natürlich hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört. Sie wollte einfach nicht hören. Sie wollte, dass es mit Leon klappte, dass er sie heiratete, ihnen eine gemeinsame Wohnung besorgte und sie sich in Ruhe um ihr Kind kümmern konnte!

Zunächst hatte Leon ihr das auch versprochen. Vielleicht nicht richtig versprochen, aber zumindest blieb er bei ihr, eine Zeit lang. Doch als man Ulla ihre Schwangerschaft immer mehr ansah, kam er seltener. Im Krankenhaus besuchte er sie dann nur noch einmal nach der Entbindung, dann war es aus. Er ließ sie einfach hängen und sie zog mit ihrem Kind bei ihrer Mutter ein. Die war überhaupt nicht glücklich mit der Situation und ständig musste Ulla mit ihr streiten, weil sie sich in ihre Angelegenheiten einmischte oder herumnölte, dass sie es ja gleich gesagt hätte und so weiter.

Aber ihre Mutter half ihr auch, Unterhalt von Leon einzuklagen und sich auch um weitere finanzielle Unterstützung zu kümmern, die Ulla als mittelloser, alleinerziehender Mutter zustand. Das hätte sie alleine nicht geschafft! Schließlich musste sie sich ja um das Kind kümmern!

Doch lange hielt Ulla es nicht bei ihrer Mutter aus. Zwar war die Situation insofern komfortabel, als Ulla sich erstens keine eigene Wohnung leisten konnte und zweitens ihre Mutter auf das Kind aufpasste, wenn sie ausgehen wollte. So konnte sie sich mit Freundinnen treffen, aber vor allem auch einen neuen Mann kennenlernen. Schließlich war das ihre einzige Chance, der beengten Wohnsituation bei ihrer Mutter zu entkommen!

Tatsächlich fand Ulla nach ein paar Monaten einen Kerl, bei dem sie einziehen konnte und der sogar Felix, ihren Sohn, leidlich akzeptierte. Aber lange ging das nicht gut. Also suchte sie sich den nächsten Mann, und so ging einer und ein anderer kam. Sie zog mal hierhin und mal dorthin und zwischendurch, wenn kein Partner da war, zurück zu ihrer Mutter. Weil ihr Kind klein war und selbst der mickrige Unterhalt durch den leiblichen Vater nur sehr unregelmäßig kam, wenn überhaupt, ging es nicht anders.

Bis Matthias sie eines Tages in einer Disco ansprach! Mit ihm hat sie endlich mal ein bisschen Glück gehabt! Endlich mal einer, der einen richtigen Job hat und der auch mit Felix zurechtkommt!

Als Ulla ihn kennenlernte, da wusste sie gleich, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Obwohl Matthias damals schon vierunddreißig Jahre alt war, wirkte er dennoch wie ein lieber, etwas zu groß geratener Junge mit seinen fast eins neunzig, seinen kurzen blonden Haaren und der schwarzen Kunststoffbrille. Deshalb fasste Ulla von Anfang an Vertrauen zu ihm. Als er dann auch kein bisschen geschockt, ja eher sogar begeistert reagierte, als sie ihm von ihrem Kind erzählte, da war für sie klar: Mit dem zieht sie zusammen! Bei dem wird sie es gut haben – zumindest weitaus besser als bei ihrer ständig keifenden Mutter!

Das ist jetzt fast zwei Jahre her und eigentlich kann Ulla ganz zufrieden mit dem sein, wie sie es getroffen hat. Matthias geht arbeiten und wenn er zu Hause ist, dann spielt er auch gerne mit Felix. Gut … seine Arbeitszeiten sind etwas ungünstig, weil er als Koch fast immer abends arbeiten muss. Das ist natürlich blöd, wenn Ulla mit ihren Freundinnen ausgehen will! Aber dann springt von Zeit zu Zeit immer noch ihre Mutter ein, um Felix zu hüten – wie auch jetzt, wo Matthias und sie nach Italien fahren. Matthias hätte den Kleinen sogar mitgenommen, doch als Ulla erfuhr, dass ganz sicher kein „Kinderparadies“ oder irgendwelche Animateure in Italien auf sie warteten, wo sie den Kleinen abgeben konnte, fand sie es doch besser, ein paar Tage kinderfrei zu haben. Schließlich kümmerte sie sich fast den ganzen Tag um ihn, wenn er nicht vormittags im Kindergarten war oder sie ein paar Stunden irgendwo arbeiten konnte. Da käme sie auch mal gut eine Woche ohne ihn klar, dachte sie. Außerdem wusste sie, dass er es bei der Oma gut hatte. Die verwöhnte ihn mit Süßigkeiten und bei ihr durfte er den ganzen Tag fernsehen oder am Computer spielen, wenn er wollte.

Doch auch, wenn Ulla weiß, dass sie es mit Matthias auf jeden Fall besser getroffen hat als mit all seinen Vorgängern – sie hat sich mehr vom Leben erträumt! Mit seinem Gehalt kann auch Matthias keine großen Sprünge machen und es reicht gerade so für sie beide, denn ihr Verdienst und das bisschen Unterhalt für ihren Sohn Felix sind kaum mehr als ein Taschengeld. Davon allein könnte sie nicht leben! Gerade deshalb kann sie nicht verstehen, warum Matthias nicht ein bisschen ehrgeiziger ist! Er könnte bestimmt mehr verdienen, wenn er sich mehr anstrengte! Und warum muss er eigentlich Koch sein? Das ist zwar toll, wenn er mittags oder auch abends, wenn er zufällig zu Hause ist, etwas Leckeres zaubert – und das kann er wirklich gut! Ulla hat während ihrer Beziehung schon fünf Kilo zugenommen! Aber gerade am Abend könnte sie ihn gut daheim gebrauchen. Dann müsste sie nicht immer auf ihre Mutter zurückgreifen, damit die auf Felix aufpasst, wenn sie mal etwas unternehmen will. Ein ganz normaler Job wäre da für Matthias doch viel besser! Woanders könnte er sicher auch noch mehr verdienen!

Aber das kommt für Matthias nicht infrage. Deshalb müssen sie sich auch jeden Urlaub vom Mund absparen. Und was kriegt sie dafür? Einen Ausflug in die Wildnis! Ein Überlebenstraining in der Pampa! Da können sie sich einmal einen Urlaub leisten und ihrem Freund fällt nichts Besseres ein, als sich mit ihr in die Büsche zu schlagen! Sie wollte doch einfach nur mal ein bisschen Spaß haben und ein bisschen Komfort! Warum kann es ihr nicht einmal ein bisschen gut gehen?

Matthias ist hingerissen. Je näher sie ihrem Ziel kommen, diesem unglaublichen Ort in Italien, wo er einen so großartigen Urlaub verbracht und so wundervolle Menschen kennengelernt hat, umso aufgeregter wird er. Jetzt sind sie schon fast da! Sie müssen nur noch diese unendlich erscheinende Abfolge von schmalen Haarnadelkurven hinter sich bringen, die sich meistens bergauf und manchmal auch bergab schlängeln und von Zeit zu Zeit immer grandiosere Aussichten immer weiter ins Land freigeben. Da, schon wieder so eine Aussicht, bei der man am liebsten anhalten und aus dem Auto steigen möchte, um sie zu genießen! Doch das wäre leider lebensgefährlich, wenn ein nachfolgendes Auto sie vielleicht an dieser unübersichtlichen und sehr schmalen Stelle nicht rechtzeitig sähe!

Also fährt er weiter und eigentlich wünscht er sich ja auch nichts sehnlicher, als endlich anzukommen an diesem Ort, auf den er sich so gefreut hat! Auch auf die Menschen freut er sich, die ihm damals ans Herz gewachsen sind: Stefano, der eigentlich Stefan heißt und vor vielen Jahren seinen Job als Vertriebschef eines großen Unternehmens an den Nagel hängte, um in das Land zurückzukehren, aus dem seine Eltern ursprünglich nach Deutschland auswanderten, um dort zu arbeiten. Seine Frau Sandra, die begnadete Gitarristin, die sich nun voller Begeisterung um die zum Gut gehörende Landwirtschaft kümmert. Und natürlich Edith, Sandras Mutter, die, gesegnet mit dem Aussehen einer typisch italienischen Mama, den Kochlöffel schwingt und ihre Gäste mit ihrer vorzüglichen landestypischen Küche in Verzückung versetzt. Matthias freut sich auch auf Cosima und Don Carlos, der eigentlich Karl heißt, aber aussieht wie ein spanischer Flamencotänzer und deshalb diesen Spitznamen trägt. Carlos war früher Musicaldarsteller und gibt nun sein Können, ganz speziell sein gesangliches, an seine Schüler weiter. Seine Kollegin, die kleine, quirlige Cosima mit den langen roten Locken ergänzt Carlos‘ Gesangsunterricht durch intensive Einheiten an der Gitarre, wobei sie es immer wieder schafft, auch weniger versierte Gitarristen mit ein paar einfachen, aber effektvollen Schlag- und Zupftechniken an aufwändig anmutende Stücke heranzuführen und so in einer einzigen Woche beeindruckende Ergebnisse hervorzurufen.

Ganz besonders jedoch freut sich Matthias darüber, dass auch einige der anderen Gäste von damals wieder dort sein werden: die hübsche, hochgewachsene Elli mit den hellblauen Augen und dem dunkelbraunen Pagenschnitt, die schicke, durch ihre markanten Gesichtszüge immer etwas streng aussehende, aber herzensgute Monika und natürlich Julie, die Dritte im Bunde der drei Frauen, die er damals im Urlaub kennenlernte.

Bei dem Gedanken an Julie wird Matthias gleich noch etwas wärmer ums Herz. Die attraktive, manchmal etwas distanziert wirkende Schweizerin mit der braunen Lockenmähne und dem hübschen, breiten Lächeln findet er schon sehr faszinierend. Vielleicht liegt das an ihrer etwas spröden Art, die er heimlich bewundert, vielleicht aber auch an der Geschichte, die sie ihm – und nur ihm! – damals erzählte. Er hatte es wie eine Auszeichnung empfunden, dass sie sich ausgerechnet ihm anvertraute und Einblicke in ihr Leben schenkte, die sie sonst niemandem gewährte. Seit jenem Moment, den sie in der warmen Sonne auf einem Felsbrocken sitzend verbrachten, als sie ihm ihr Geheimnis anvertraute, das sie so lange schon quälte, fühlt er sich ihr besonders verbunden.

 

Seitdem ist viel Zeit vergangen und sie stehen nur sporadisch im E-Mail-Kontakt. Doch immerhin schrieb sie ihm vor ein paar Monaten, dass sie sich mit Elli und Monika wieder für eine Urlaubswoche in Italien verabredet hatte. Warum hätte sie ihm das schreiben sollen, wenn sie sich nicht vielleicht ausrechnete, ihn, Matthias, dadurch überreden zu können, auch dort hinzukommen? Zwar weiß sie von Ulla und … um Himmels willen, nein! Darum geht es doch gar nicht! Sie sind Freunde! Vielleicht auch … Seelenverwandte, weil sie Dinge voneinander wissen, die für andere ein Geheimnis bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das allein ist schon etwas ganz Besonderes, was es nur selten im Leben gibt. Aber alles andere ist natürlich völlig abwegig! Julie wohnt schließlich in der Schweiz und er in Deutschland. Mindestens 400 Kilometer liegen zwischen ihnen. Da kommt man nicht mal eben so auf einen Kaffee vorbei!

Wow! Dieses winzige Dorf, das sie gerade durchfahren! Als wäre hier in ferner, mystischer Vergangenheit die Zeit stehen geblieben! Eigentlich ist es nur eine Ansammlung von aus grauem Stein erbauten Häusern mit kleinen Fenstern, schiefen Holztüren, manche mit üppig blühenden Kästen und Blumenampeln geschmückt. Drei recht betagte Herren haben es sich auf einer kleinen Bank gemütlich gemacht und beäugen neugierig das Gefährt, das die oft geflickte Dorfstraße passiert, als würden solche Ereignisse wie dieses, dass Fremde sich hierher verirren, nur selten sein. Einer der Männer sitzt vornübergebeugt auf einen knorrigen Stock gestützt, der nächste hat einen hellbraunen Hund zu seinen Füßen, der entspannt alle Viere von sich streckt, und der dritte kaut vergnügt auf irgendetwas herum – vermutlich Tabak, denkt Matthias. Was für ein Bild! Richtige Originale! Die müsste man eigentlich fotografieren!

„Ist das nicht unglaublich? Und das ist alles echt! Hier wohnen richtige Menschen!“, ruft er begeistert.

Zur Antwort bekommt er nur ein kurzes „Hm“. Doch dafür hat er Verständnis. Schließlich sind sie heute sehr früh aufgebrochen und standen noch in Deutschland für mindestens eine Stunde im Stau. Auch die restliche Fahrt zog sich wegen der Mautstelle am Brenner und einer Baustelle auf der italienischen Autobahn mächtig in die Länge. Er ist sich sicher, dass Ulla einfach müde ist. Schließlich braucht sie auch sonst ihren Schlaf und ist unausstehlich, wenn sie zu wenig davon bekommt!

„Es wird ihr schon gefallen“, glaubt Matthias. „Wenn wir erst da sind, wird sie es lieben!“

Unbeirrt ob Ullas Einsilbigkeit passiert er das malerische Dorf und kämpft sich weiter die Straße hinauf. Die ist nun von einer asphaltierten Fahrbahn zu einer staubigen Schotterpiste geworden. Matthias meint sich zu erinnern, dass es jetzt nicht mehr weit sein kann. Gut, das hat er vorhin auch schon gedacht. Und davor auch, als sie diese besonders scharfe Kurve genommen haben, die auch das letzte Mal – daran erinnert sich – völlig überraschend vor ihnen auftauchte! Ja, diese Serpentinen ziehen sich in die Länge! War das vor drei Jahren auch schon so gewesen?

Langsam erwacht die Erinnerung, wie er damals mit Elli, die eine Mitfahrgelegenheit nach Italien anbot, anreiste, und wie sie vermuteten, sie wären falsch abgebogen, als sie auch nach einer gefühlten Ewigkeit, die sie sich Kurve um Kurve die Berge hinaufgeschraubt hatten, immer noch nicht am Ziel waren.

Aber jetzt, wo sie auf der Schotterpiste sind – er weiß es ganz genau! – jetzt kann es nicht mehr weit sein! War da irgendwo, kurz bevor man das Gut erreichte, nicht diese Stelle mit dem grandiosen Ausblick? Wo man das Gut auf der gegenüberliegenden Seite des Tals sehen konnte wie auf einem Gemälde? Na klar! Da gab es ein kurzes Stück Straße, wo der ohnehin meist spärliche Bewuchs der Berghänge für ein paar Meter die Sicht freigab auf das Anwesen, das damals, nach der schier unendlich langen Fahrt von Deutschland bis hierher, in der spätnachmittäglichen Sonne vor ihnen lag wie ein wahr gewordener Traum! Dahinten muss die Stelle sein, vermutlich hinter dem nächsten Felsvorsprung! Nee, doch nicht. Aber gleich! Hinter der nächsten Kurve! Bestimmt!

Tatsächlich, da ist es! Leider steht dort schon ein Auto. Aber hey, an das erinnert er sich! Damit ist er vor drei Jahren nach Italien gereist! Das muss Elli sein! Sie hat also den alten Japaner noch? Und ist das neben ihr nicht Monika?

„Die Beiden kenne ich!“, jubelt Matthias und betätigt übermütig die Hupe.

„Das ist Matthias! Juhu!“, ruft Elli übermütig und winkt heftig. „Das neben ihm ist sicher seine Freundin!“

„Anzunehmen“, denkt Monika spöttisch und amüsiert sich über den jugendlichen Überschwang ihrer Begleiterin.

Ein bisschen beneidet sie Elli jedoch auch darum. Sie selbst fühlt sich für so viel Lebhaftigkeit zu alt, obwohl auch Monika sich ehrlich darüber freut, Matthias wiederzusehen. Schließlich ist er ein wirklich netter Kerl, wenn er damals auch etwas nervte mit seiner unreifen Art. Aber vielleicht hat er die nun abgelegt? Julie hatte Elli und ihr geschrieben, dass er seine Freundin mitbrächte, die ein Kind habe und der er wohl auch finanziell etwas unter die Arme greifen müsse – jedenfalls hatte Julie das aus den Mails, die sie von Matthias erhalten hatte, herausgelesen. Wenn er nun also Verantwortung für eine Frau und ein Kind trägt, dann ist er daran vermutlich gereift?

Sie würde sich darüber freuen. Vor allem deshalb, weil sie weiß, wie sehr sich Matthias damals eine eigene Familie wünschte. Vielleicht hat er nun bekommen, was er haben wollte?

Der kleine, unter der beachtlichen Staubschicht vermutlich weiße Wagen kommt kurz vor ihnen zum Stehen. Kaum, dass er einen Halt findet auf dem schmalen Seitenstreifen, ist Matthias schon mit einem Satz aus der Fahrertür gesprungen und stürmt auf die beiden Frauen zu. Elli hüpft ihm freudestrahlend entgegen und fällt ihm um den Hals. Dann dreht sie sich übermütig zu Monika um und ruft: „Schau mal! Er hat sich kein bisschen verändert! Sogar die Brille ist noch dieselbe!“

„Naja, ein bisschen zugelegt hat er um die Hüften“, ruft Monika nach einem kurzen Blick auf Matthias boshaft. Aber auch sie lacht und umarmt ihn herzlich, als Elli ihn loslässt. „Nichts für ungut“, sagt sie entschuldigend und grinst ihn frech an.

„Du hast ja recht“, antwortet der große Blonde gutmütig. „Seit ich in festen Händen bin, bin ich ruhiger geworden. Das kriegt natürlich auch meine Figur zu spüren! Das ist sie übrigens, meine Freundin!“

Er dreht sich zum Auto um, aus dessen Beifahrerseite eine kleine Person mit glatten, aschblonden, halblangen Haaren klettert und zögernd um die offene Tür herum auf die Gruppe zusteuert. Unverhohlen mustert Monika die Frau in dem hellgrauen T-Shirt und der engen, hellbeigefarbenen Stretchhose. „Oh je“, denkt sie, „eine Stilberatung könnte der jungen Frau nicht schaden!“ Sie findet, dass das Grau des T-Shirts sie noch farbloser erscheinen lässt, als sie sowieso schon ist, und die enge Hose recht unvorteilhaft den mächtigen Hintern betont, der fast deplatziert wirkt an der ansonsten schmalen, fast zerbrechlich wirkenden Person. „Jedenfalls ist damit schon mal klar, dass sich Matthias nicht wegen ihres Aussehens für sie entschieden hat“, überlegt Monika.

Im nächsten Moment erschrickt sie und findet sich furchtbar, über die junge Frau nur wegen ihres Äußeren so herablassend zu urteilen. Schnell bemüht sie sich, etwas Positives an Ullas Erscheinung zu finden. „Hm, das Gesicht ist eigentlich ganz niedlich, jetzt, wo sie ein schüchternes Lächeln wagt. Vermutlich könnte sie etwas aus sich machen, wenn sie sich Mühe gäbe. Doch irgendwie sieht sie nicht danach aus, als würde sie sich mit irgendetwas Mühe geben“, findet Monika.

Erneut haut sie sich innerlich auf die Finger und beschließt, sich jetzt wirklich zusammenzureißen. Lächelnd geht sie auf Ulla zu.

„Hallo, ich bin Monika. Nette Hose!“, meint sie freundlich.

Während sie das sagt, fällt ihr Blick auf die hinter der Frau stehende Elli, die sie entgeistert anstarrt, als könne sie unmöglich ernst meinen, was sie da gerade von sich gegeben hat. Oh je. Was redet sie nur für einen Blödsinn? Ist sie noch zu retten? Diese Hose? Nett? Sie scheint wirklich urlaubsreif zu sein! Naja, der Stress der letzten Zeit …

Mit einem energischen Kopfschütteln vertreibt sie die dunklen Gedanken, die sich gerade bei ihr niederlassen wollen. „Nicht jetzt“, denkt sie und lächelt noch ein wenig strahlender, um ihren Fauxpas wiedergutzumachen. Hoffentlich ist Ulla nicht empfindlich und denkt, sie wolle sich über sie lustig machen! Die Hose ist schließlich komplett unvorteilhaft! Selbst Elli, ihrer immer gutmütigen, manchmal fast ein bisschen naiven Freundin ist aufgefallen, dass sie das Beinkleid unmöglich schick finden kann. Hoffentlich hat es sonst niemand bemerkt!

Doch Matthias grinst nur vor lauter Stolz über seine Eroberung und Ulla dreht sich suchend zu ihm um, als ob sie von ihm erwarte, dass er ihr nun sagt, wie es weitergeht. Nein, die beiden scheinen nichts gemerkt zu haben!

Erleichtert nimmt Monika zur Kenntnis, dass Matthias seine Freundin nun an der Hand nimmt und an Ellis Auto vorbei zum Rand der kleinen Parkbucht führt, um ihr mit einer großartigen Geste die Aussicht über das Tal und ganz besonders natürlich das Gut zu zeigen, das vor ihnen auf dem Plateau in einigen hundert Metern Entfernung in der Sonne liegt.

„Das ist der Ort, an dem wir Urlaub machen werden“, schwärmt er großartig und beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der örtlichen Gegebenheiten. Er erklärt seiner Ulla, was das Haupthaus und was die Nebengebäude sind, wagt eine Vermutung darüber, wo sie wohl untergebracht sein werden, beschreibt schließlich die Sitzgruppe unter den mächtigen Platanen, wo sie sich zu den Mahlzeiten versammeln, und erklärt ihr, dass das Abschlusskonzert vermutlich wieder auf der beeindruckenden Aussichtsterrasse unterhalb des Essplatzes stattfinden wird.

Monika schüttelt kaum merklich den Kopf. Matthias scheint ganz in der Rolle des großen Welterklärers aufzugehen! Das hatte er schon damals an sich! Wie er so dasteht und in dozierendem Tonfall das Gut und die dortigen Gegebenheiten erläutert, wirkt er fast wie ein Lehrer, der seiner wenig bemittelten Schülerin erklärt, wie sich die Welt dreht. Erstaunlicherweise lässt Ulla das klaglos über sich ergehen und hört ihm einfach nur zu.

„Vermutlich sind das die Qualitäten, die Matthias an ihr schätzt, dass er stundenlange Vorträge halten und dabei das Gefühl haben darf, dass sich jemand dafür interessiert“, denkt Monika bissig. Dann schüttelt sie den Kopf. Geht das schon wieder los? Kann sie nicht einmal etwas Nettes denken?

Doch als Matthias damit beginnt, Ulla die sanitären Einrichtungen zu erklären, findet Monika, dass sie eingreifen sollte.

„Sag mal Matthias, findest du nicht, dass Ulla das alles vor Ort selbst viel besser entdecken kann?“

„Gute Idee“, pflichtet Elli ihr bei. „Ich will jetzt auch unbedingt ankommen!“

Damit drückt sie ihre Zigarette aus, die sie sich eben angezündet hat. Trotz Monikas ausdrücklicher Versicherung, dass es ihr nichts ausmache, wenn Elli im Auto rauche, hat diese sich nicht dazu überwinden können, ihre nichtrauchende Mitfahrerin mit Zigarettenqualm zu belästigen, wofür Monika ihr heimlich dankbar ist. Deshalb musste Elli eben dringend die Gelegenheit für ein Rauchopfer nutzen, was ihr einen mitfühlenden Blick ihrer Freundin einbringt.

„Also ich fahre jetzt los. Wer kommt mit?“, ruft Elli und reißt die Fahrertür ihres Autos auf.

„Halt! Nimm mich mit!“, schreit Monika lachend und läuft auf die Beifahrerseite zu.

Das ist auch das Stichwort für Matthias und Ulla, sich in Bewegung zu setzen.

„Tolle Hose“, murmelt Elli, als sie beide im Auto sitzen und das letzte kleine Stückchen Weg zum Gut im Konvoi mit Matthias und Ulla zurücklegen. Missbilligend schüttelt sie den Kopf.

 

„Ist mir so rausgerutscht“, gibt Monika zu.

Doch dann entdeckt sie ein Funkeln in Ellis Augen. Wie auf Kommando prusten beide los und können sich kaum wieder einkriegen! Monika merkt, wie sehr ihr diese Albernheiten gefehlt haben. Nun freut sie sich noch mehr auf diese Woche, in der sie mit Elli und Julie sicher noch manches Mal Gelegenheit haben wird, von Herzen zu lachen. Das wird ihr guttun und sie ablenken!

Herrlich! Endlich ist sie wieder da!

+

Carola und Maik

Der schlanke, attraktive Mann mit den kurzen dunklen Haaren ist bester Laune. Er sitzt am Steuer seines anthrazitfarbenen Kombis und freut sich auf den vor ihm liegenden Urlaub. Am liebsten würde er fröhlich vor sich hin pfeifen, doch dann würde er seine Frau wecken, der auf dem Beifahrersitz gerade die Augen zugefallen sind.

Prüfend wirft er einen Blick zur Seite, ob sie immer noch schläft. Dabei fällt ihm wieder einmal auf, wie hübsch sie ist: blonde lange Haare, ein ebenmäßiges Gesicht, eine schlanke, aber dennoch sehr weibliche Figur. Selbst jetzt, wo sie tief in Träumen versunken ist, wirkt sie perfekt, wie dahin gemalt oder drapiert für ein Werbefoto von einer schlafenden Schönheit, mit dem die Marketingabteilung des Autoherstellers den Reisekomfort des Kombis unterstreichen möchte.

Zufrieden schaut Maik wieder nach vorn auf die Straße. Auch wenn er manchmal daran zweifelte, wenn seine Ehe schwierige Momente erlebte: Er hat doch eine gute Wahl getroffen vor achtzehn Jahren! Carola war schon damals, als sie sich kennenlernten und sie gerade zweiundzwanzig Jahre alt war, eine bildschöne Frau, die bei vielen Männern Begehrlichkeiten weckte. Doch jetzt, mit vierzig, ist sie fast noch schöner und Maik muss zugeben, dass er mächtig stolz darauf ist, so eine Frau an seiner Seite zu haben!

Dabei ist er sich durchaus dessen bewusst, dass er mit seinen siebenundvierzig Jahren optisch ebenfalls eine Menge bietet. Er weiß genau um seine Anziehungskraft auf das weibliche Geschlecht, die mit den Jahren und auch mit den mittlerweile leicht ergrauten Schläfen noch größer geworden ist. Er hat sich gut gehalten, obwohl ihm die Arbeit als Dachdeckermeister und Geschäftsführer seines Betriebs kaum Zeit für Sport lässt. Da er jedoch handwerklich noch viel selbst macht, kann er das leidlich ausgleichen.

Fast hätte er jetzt doch angefangen zu pfeifen, als sein Blick auf die vorbeiziehende Landschaft fällt, die sonnenbeschienenen Hügel und die kleinen Dörfer, die sich an die Erhebungen schmiegen. Erst in letzter Sekunde kann er sich davon abhalten, seine Frau mit einer musikalischen Einlage zu wecken.

Ja, er freut sich wirklich auf diesen Urlaub. Vor drei Jahren waren sie schon einmal dort, auf dem Gut von Stefano und Sandra, haben den ganzen Tag lang Gitarre gespielt, gesungen und abends viel roten Landwein genossen. Es war wirklich schön gewesen!

Ob auch ein paar bekannte Gesichter unter den diesjährigen Teilnehmern des Musikkurses sein werden?

Er denkt zurück und überlegt, wer damals mit ihnen gemeinsam dort gewesen ist. Da hatte es diesen Schlagerfan gegeben, der mit seinem Pottschnitt auch schon so aussah wie aus den 70ern übrig geblieben! Maik grinst, als er an ihn denkt. Aber nett war er! Dann gab es da noch diesen großen blonden Kerl mit Brille, der etwas kindlich wirkte, und natürlich diesen Neuseeländer, mit dem sich Carola ständig unterhalten hatte. Auf den legt er ja gar keinen Wert! Aber warum soll ausgerechnet dieser Typ noch einmal den weiten Weg zu einem Musikkurs nach Italien antreten? Das ist wirklich unwahrscheinlich!

Ja und dann … Maik muss erneut grinsen … da gab es doch auch diese Friseurin mit den bunten Haaren. Sabrina hieß sie! Sabrina, ja, mit der hatte er sich gut verstanden. Das war ja auch eine Marke! Was aus der wohl geworden ist?

Er erinnert sich, dass diese Frau in ihrem Drang, zu jeder Zeit alle Welt mit ihrem Gesang zu unterhalten, nicht zu stoppen gewesen war. Doch er war gut mit ihr zurechtgekommen. Mit solchen Frauen kommt er immer prima klar!

Maik schaut zu seiner Angetrauten hinüber, die eben den Kopf zur Seite dreht. Ihre Augen sind immer noch geschlossen. „Sieht aus, als ob sie noch schläft“, stellt er fest.

Er erinnert sich, dass es damals, vor drei Jahren, um ihre Beziehung nicht allzu gut bestellt gewesen war. Schon auf der Anreise waren die Spannungen deutlich zu spüren gewesen und auf der Rückreise hatten sie sogar über die Scheidung gesprochen. Ein kurz entschlossener Abstecher an den Gardasee hatte das Schlimmste verhindert! Damals hatte sich eine Menge zwischen ihnen angesammelt. Sie hatten einige Tage gebraucht, um sich alles Mögliche an den Kopf zu werfen, wie Maik sich erinnert. Doch am Ende hatten sie beschlossen, es noch einmal miteinander zu versuchen.

Das war eine harte Zeit gewesen für ihre Beziehung. Obwohl – wirklich daran geglaubt, dass sie sich trennen würden, hatte er nicht. Sie waren ja auch damals schon sehr lange zusammen gewesen und hatten so viel durchgestanden! Außerdem ist Carola nicht der Typ für Kurzschlussreaktionen. Ab und zu regt sie sich ein bisschen auf, aber irgendwie finden sie dann doch wieder zueinander. So war es auch vor drei Jahren. Natürlich hatte es in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder „Aussprachen“ gegeben, doch dann hatte Carola sich beruhigt. Mit der Zeit haben sie sich zusammengerauft und jetzt läuft es doch ganz gut!

Dieses Mal jedenfalls sind die Vorzeichen für den Urlaub ganz andere! Vermutlich sind sie auch einfach erwachsener geworden und haben solche Beziehungsgewitter nicht mehr nötig. Sie sind eben beide keine zwanzig mehr!

Viele Gelegenheiten für Auseinandersetzungen gibt es ja auch gar nicht, weil sie beide sehr in ihre Arbeit eingebunden sind. Maik hatte damals aus dem Urlaub den Entschluss mitgebracht, mit seinem Dachdeckerbetrieb noch einmal richtig durchzustarten und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Mittlerweile hat er viel Erfolg mit seinen Photovoltaik-Anlagen und er hatte sogar ein paar Leute einstellen müssen, um die Nachfrage befriedigen zu können.

Währenddessen bastelt Carola weiter an ihrer universitären Karriere. Als Professorin hat sie sich gut etabliert und ist eine gefragte Expertin auf ihrem Gebiet, sie hält Vorträge und wird um Expertisen gebeten. Sie kommt viel herum und ist natürlich oft außer Haus. Aber er will ihrer Karriere auch nicht im Wege stehen! Sie hat damals, am Gardasee, ziemlich deutlich gemacht, dass sie nicht bereit ist, irgendwelche Kompromisse einzugehen oder berufliche Abstriche hinzunehmen. Und er – naja, toll findet er es immer noch nicht, dass sie ihren Beruf so in den Vordergrund stellt. Aber nun gut, da sie es unbedingt so will, lässt er es geschehen. Er hat sich mit ihren häufigen Abwesenheiten abgefunden und schließlich sogar akzeptiert, dass Carola eine Putzfrau eingestellt hat und das Essen häufiger aus der Tiefkühltruhe oder vom Bringdienst kommt, wenn sie keine Zeit und Lust hat zu kochen. Er hat sich sogar damit arrangiert, sich selbst zu versorgen, wenn sie abends Veranstaltungen hat, und die haben in den letzten Monaten sogar noch zugenommen, fällt ihm auf, als er jetzt darüber nachdenkt!

Glücklicherweise gibt es immer noch die Wirtschaft im Dorf und seine Mutter freut sich auch jedes Mal, wenn er vorbeikommt und sie ihn bekochen darf. Er kommt zurecht, auch wenn er manchmal neidisch auf seine Freunde schaut, deren Frauen neben bestenfalls einem Halbtagsjob abends immer zu Hause sind, um das Essen zu machen und Mann und Kinder zu versorgen.