Arkadien

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6.

An diesem Tag arbeiten die gusseisernen Heizkörper mit Blumendekor auf Hochtouren, um uns unter lautem Gurgeln und Plätschern aufzuwärmen. Meine Großmutter kommt gerade von einem Urlaub auf Formentera zurück und ist in Topform. Neben ihr wirkt meine Mutter abgezehrter denn je, aber das will nichts heißen: Es geht ihr blendend, und sie wird uns alle überleben, mich eingeschlossen, da sie sich inzwischen jede Anstrengung und Sorge spart. Arkady steigt mit bekümmerter Miene auf die Kanzel, was mich wegen seines doch so unbeschwert-heiteren Gemüts ein wenig beunruhigt. Statt seines vergilbten Bündels von Pseudonotizen hat er eine Art großes Eintragungsbuch dabei, welches er auf das Pult legt, ohne dass seine Miene sich aufhellt.

»Die Zahlen sind richtig schlecht. Ich weiß nicht, wie es mit uns weitergehen soll, wenn es so weitergeht.«

Diese merkwürdige Doppelung fällt ihm nicht auf, dem Publikum wohl auch nicht, das ihm wie üblich mal mehr, mal weniger Aufmerksamkeit schenkt. Ich bin die einzige, die sich Sorgen macht. Meine Großmutter kratzt sich Schorf von der sonnengebräunten Wade, Victor poliert seinen Knauf, Dadah neigt schon den greisen Kopf und Daniel starrt Löcher in die Luft. Daniel? Aber ja, er ist auch da, mit seinem Rattanstock bewaffnet und bereit, sämtliche Ratten der Welt zu Brei zu schlagen. Nur dass es im Liberty House keine Ratten gibt und dass unser Daniel nichts mit Daniel aus dem Lesebuch zu tun hat, samt Bauernhof, Mauleselin, Gänsen und der kleinen Valérie. Nein, es handelt sich um Victors Patensohn, einen mürrischen jungen Schlaks. Mir war nie recht klar, worin Victors Patenschaft besteht, vermutlich eher aus erotischen Praktiken denn rein erbaulichen Absichten. Jedenfalls hängt sich Daniel mit einer geradezu lasziven, betont auffälligen Ermattung an die Fersen seines Patenonkels, als wäre er gerade erst dem Brautbett entstiegen. Das kommt mir für Arkady eher kränkend vor, wobei es ihm gar nicht in den Sinn käme, ausschließliche Liebe zu verlangen. Und damit komme ich wieder auf die Liebe zu sprechen, mein eigentliches Thema, besser gesagt, das von Arkady an diesem Dezembermorgen. Noch redet er über die Jahresbilanz, man merkt ihm aber an, dass er dazu keine Lust hat und so schnell wie möglich zur Sache kommen möchte. Jetzt ist es soweit: Sein Blick bohrt sich in meinen, doch kaum nehme ich dies erfreut zur Kenntnis, funkelt er mit seinem hellen Auge Dadah an, bevor er Rehlein, Gladys, Epifanio, Daniel, Kinbote, Coco, Jewel, Salo und alle anderen ins Visier nimmt, all seine Schäfchen, die sich in wolliger Trägheit aneinanderkuscheln.

»Omnia vincit amor!«

Keiner von uns kann Latein, mit Vergils Losung sind wir allerdings vertraut, weil Arkady sie sich zwischen seine beiden Schulterblätter hat tätowieren lassen und sie alle naselang wiederholt. Liebe besiegt alles, klar, doch Arkady will sie offenbar zum Kriegsgerät machen, zu einer Waffe, die zwar nicht tödlich, aber wirksam ist, um die Gesellschaft für unsere fortschrittlichen Ansichten zu gewinnen.

Im Liberty House schwimmen wir in Liebe – in der Liebe, die Arkady uns schenkt und die wir erwidern, aber auch in der Liebe, die wir einander entgegenbringen, selbst wenn das Gemeinschaftsleben unweigerlich zu Irritationen führt. Wir … Ich behaupte, dass ich dieses Pronomen verwenden kann, ohne dass es lächerlich wird, ohne dass es auf ein blutleeres, verkümmertes Gefüge wie die Paarbeziehung oder die Familie verweist. Ich behaupte sogar, dass mein Start ins Leben mich zur Spezialistin für das Wir macht, im Gegensatz zu den meisten Menschen, die davon keinen Schimmer haben und ein Leben lang nicht auf die Idee kommen, dass man etwas anderes sein kann als sein eigenes Ich. Ich war von Kindesbeinen an wir, das macht die Sache leichter. Nicht nur, dass ich Haus und Tisch mit mindestens dreißig Leuten jeden Alters und jeder Herkunft geteilt habe, ich musste auch auf eine besondere Nähe zu meinen Eltern und meiner Großmutter verzichten, die sich alle sehr bald auf neue Bindungen einließen und von der unverhofften Deregulierung ihres Sexlebens entzückt waren. Außerdem musste ich mich mit dem Gedanken anfreunden, dass Arkady allen gehörte. Darum kann ich wir sagen, ohne dass es anmaßend oder unpassend wäre. Darum bin ich auch nicht weiter erstaunt über Arkadys neue Predigt. Im Grunde regt er doch nur an, dass wir alles, was wir intra muros ausprobieren, auch außerhalb unserer Gemeinschaft zur Anwendung bringen, nämlich Selbstlosigkeit, schranken- und bedingungslose Lust und eine vollkommen freie, vollkommen wilde Liebe. Nach dieser gedanklichen Eskapade konzentriere ich mich wieder auf den Redner – den Mann meines Lebens, obwohl er das nicht wahrhaben will und diese Wendung keinerlei Sinn für ihn ergibt. Arkady ist beim Lauf der Welt angelangt, tatsächlich läuft die Welt verkehrt, weil sie nicht begreift, dass es reichen würde zu lieben, etwas Aufmerksamkeit und Wohlwollen aufzubringen, die unwiderstehliche Kraft des Begehrens so weit wie möglich zu teilen und zu verbreiten, um der Barbarei ein für alle Mal den Garaus zu machen.

»Wenn ich an diese vielen unglücklichen Menschen denke, die sich gegenseitig umbringen …«

Der Blick verliert sich in der Ferne, die Stimme wird unstet, die Aussage vage. Wir werden nicht erfahren, ob er an die jüngsten Attentate denkt oder an den Krieg in Syrien, auch wenn er aus diesem Land stammt. Vielleicht ist er dort nur geboren, da er praktisch nie darüber spricht und von seiner Herkunft und Lebensgeschichte ohnehin kaum etwas preisgibt, als hätte diese erst mit Victor und dem Liberty House begonnen. Davor nichts oder nur sehr wenig: Er ist in Syrien geboren, hat im Libanon gelebt, in der Schweiz, in Polen – also nirgends, beziehungsweise in Ländern, die keinem etwas sagen. So oder so ist die Liebe seine Heimat, das Liberty House, wir. Darum pocht mein Herz so heftig, wenn ich ihn ansehe und ihm zuhöre, im Einklang mit seinen Gefühlen, seiner Empörung, seinem Mitleid, seiner unermesslichen Trauer über die törichten Gesetze, die das Leben bestimmen. Ich bin in ihm, wie er in mir, was für alle Mitglieder unserer kleinen freiheitlichen Bruderschaft gilt. Liebe besiegt alles, wer wüsste das besser als ich, nachdem ich erleben durfte, wie er den Wahn meiner Eltern besiegt hat, ihre Soziopathie, ihre krankhafte Unentschlossenheit, ihre suizidalen Anwandlungen, ihre depressiven Anfälle, ihre vielfältigen Phobien, ihre Unfähigkeit, sei es, ein Kind aufzuziehen, sei es, für sich irgendeine Art von Zukunft zu entwerfen. Ich habe gesehen, wie sie, von Arkady geliebt und angeleitet, ihre zusammengeknüllten Seelchen so weit entfalteten, dass sie zu umgänglichen Erwachsenen wurden – auch wenn sie noch längst nicht reif genug sind, aber was soll’s, ich habe mich daran gewöhnt und bin reif genug für drei.

Auch wenn wir vor neuen Technologien geschützt sind, heißt das nicht, dass uns keine Nachrichten erreichen: Ihre Wellen branden gegen die Feldsteinmauern, die das Anwesen einfrieden. Victor lässt sich täglich eine eklektische Auswahl von Printmedien zustellen und verbringt den Vormittag mit der Lektüre von Le Monde, La Croix und Le Figaro – ja, auf diese drei beschränkt sich sein Eklektizismus, die auch uns, sobald Monsieur Mirror sie gewissenhaft durchgelesen und ihre Seiten zerknittert und beschmutzt hat, zur Verfügung stehen. Nicht dass er besonders schmutzig wäre oder seine Hände nie abwischt, aber er sondert ständig eine Art fettigen Dunst ab. Allein deswegen begnüge ich mich oft mit den Kommentaren der anderen, um mich über das Tagesgeschehen zu informieren. Außerdem habe ich in der Schule leicht Zugang zum Internet und mache davon ausgiebig Gebrauch. Schließlich bin ich gegen rein gar nichts hypersensibel und selbst wenn, würde ich es um nichts in der Welt meinen Glaubensgenossen verraten, erst recht nicht meinen Eltern; ich bin nicht gerade froh darüber, in einer weißen Zone zu leben, und ich gäbe alles für ein iPhone. Andererseits bietet das Leben im Liberty House so viel, dass ich bestimmt nicht weinen werde, nur weil man mir den Zugang zu sozialen Netzwerken erschwert. Ich habe meine eigenen Netzwerke. Sie schlängeln sich unter den Buchen und Eschen, sie kreuzen die Pfade der Stare und Eichhörnchen, sie führen an Wiesen und Hochwäldern entlang, an Herbstzeitlosen, die in aller Unschuld ihre giftigen Staubblätter öffnen, an Brombeersträuchern, die ebenfalls in aller Unschuld mit ihren schwarzen Ranken Fallen stellen. Ich bin glücklich. Ich brauche weder Periscope noch WhatsApp oder Snapchat.

Während ich wieder einmal in Gedanken abgedriftet bin, hat Arkady seinen Dienstbefehl formuliert: Er beschwört uns, in die Welt hinauszugehen, um sämtliche leidenden Seelen, die wir dort zwangsläufig antreffen würden, mit Liebe zu überschütten. So einfach und großherzig dieses Programm klingt, ist es in Wahrheit eine Rekrutierungsoffensive, die auf reiche Leute abzielt. Natürlich darf man jeden und alle lieben, von dieser Möglichkeit macht Arkady selbst regen Gebrauch und vögelt sich ohne Ansehen der Geschlechts- oder Alterszugehörigkeit durch, wenn wir aber unser gemeinsames Dach und unser beschauliches Landleben erhalten wollen, müssen wir etwas wählerischer werden. Das Beste wäre, schwerreiche Witwer oder in Ungnade gefallene Erben für unsere Sache zu begeistern, damit das viele Geld sinnvolle Verwendung fände. Sicher, wir haben Dadah, doch sie überweist der Gemeinschaft nur einen winzigen Bruchteil ihres Vermögens und weigert sich hartnäckig, Arkady in ihrem Testament zu bedenken, außerdem droht sie ständig damit, uns zu verlassen und ihre großzügigen Gaben auf irgendeinen Neffen zu verwenden, der so bestechlich wie undankbar sein dürfte. Fortbestand und Wohlergehen des Phalansteriums hängen von der Diversifizierung seiner Einkommensquellen ab und wir alle können zu dieser Diversifizierung etwas beitragen.

 

»Ihr seid meine Liebesschwadrone«, brüllt Arkady. »Los, raus mit euch! Stürmt die Straßen und Plätze, sprecht die Leute an, erzählt ihnen von unserem Experiment. Sie warten nur darauf, dass man mit ihnen über Liebe redet, dass man sich für ihre Seele interessiert, dass man sie überhaupt an die Existenz dieser Seele erinnert! Die sie selbst wahrscheinlich vergessen haben.«

Da hat er nicht Unrecht. In der Außenwelt, ob in der Schule oder auf dem Markt, redet mit mir niemand über seine oder meine Seele. Neben mir zappelt Daniel herum, stöhnt und lässt mich an seiner Ungeduld teilhaben:

»Ist das jetzt eine Heilige Messe oder was?«, flüstert er in mein offenes Ohr. Aber ja, in gewisser Hinsicht schon, und warum auch nicht? Obwohl ich selbst nie hingegangen bin, habe ich die katholische Liturgie schließlich mit jeder Pore aufgenommen, da mir ständig Reliquiare, Heiligenlegenden oder Fotos verzückter Nonnen begegnen. Sechzig Jahre nach dem Auszug der Schwestern vom Heiligsten Herzen atmen die Wände des Liberty House noch immer Frömmigkeit, während Arkady selbst im Ritus der Syrisch-Orthodoxen Kirche erzogen wurde. Auch wenn er selten darauf zu sprechen kommt, hat er sich eine gewisse Vorliebe für Goldornamente, lockige Bärte, purpurne Messgewänder und Zauberkunststücke bewahrt: Jagt man die Religion zur Tür hinaus, springt sie durch das Fenster wieder herein. Als unser Gemüsegarten im Vorjahr von Blattläusen befallen wurde, sprach Arkady sogar ein Exorzismusgebet, das er einer zweisprachigen, in schwarzes Chagrinleder mit Goldprägung gebundenen griechisch-arabischen Handschrift entnommen hatte, dem Erbstück einer kykladischen Großtante. Im Namen der Cherubim und Seraphim wurden zwanzig verschiedene Arten von bösartigen Winzlingen mit Nachdruck aufgefordert, Auberginen und Chinakohl unverzüglich zu verlassen, und ich muss zugeben, dass die Schädlinge sich sofort aus dem Staub machten, vermutlich vor lauter Schreck über Arkadys Vehemenz, gut möglich aber auch, dass es an der Schmierseife lag, die wir wild versprüht hatten.

So oder so habe ich, wie alle anderen, meine Anweisungen erhalten: Falls ich einem Reichen begegne, soll ich ihn verführen und ins Liberty House bringen, wo Arkady die Sache besiegeln wird. Da es mir so offenkundig an Charisma fehlt, ist es wirklich besser, wenn andere an meiner Stelle das Begonnene zu Ende bringen. Mir fällt auf, dass Daniel in Bezug auf seine Attraktivität die gleichen Zweifel hegt wie ich. Tatsächlich ähneln wir uns sehr und werden häufig für Geschwister gehalten: Groß, pferdeähnlich, knochig und mit sehr dunklem Teint, haben wir beide etwas Androgynes an uns, das für Verwirrung sorgt. Und so haben wir beschlossen, gemeinsam auf die Pirsch zu gehen, um unsere Chancen zu erhöhen. Mit meiner Figur einer Kampfringerin und den ersten Anzeichen eines Damenbarts sehe ich aus wie zwanzig, dabei bin ich noch keine fünfzehn – in diesem Alter soll ja meine Entjungferung im großen Stil begangen werden, es sei denn, Arkady verweigert die führende Rolle, die ich ihm dabei zudenke, in diesem Fall würde ich den Anstich auf später verschieben und einfach nur meinen Geburtstag feiern. Daniel hingegen ist sechzehn, ohne die geringste Spur jugendlicher Frische aufzuweisen. Wegen seines schleppenden Gangs, seiner stets gerunzelten Stirn, seines aschgrauen Teints und seines trüben Blicks kann man ihn sogar leicht für sechs Jahre älter halten. Trotzdem wird er mich zum Sonntagsmarkt begleiten. Während Marqui Blumen und Ratschläge zur Selbstentfaltung an den Mann bringt, werden wir Kunden ködern – sofern ihnen ein gewisser Wohlstand anzumerken ist. Wir haben ebenfalls etwas zu verkaufen: unsere Jugend, klar, aber auch unser kleines freiheitliches Evangelium. Die Zeugen Jehovas, die sich gleichfalls zwischen den Ständen tummeln, müssen sich warm anziehen, mit ihren altmodischen Broschüren und ihrer Verkündigung des Königreichs. Daniel und ich leben doch im Königreich, es existiert, es ist bereits da, nur wenige Kilometer von diesem mediterranen Markt entfernt; wir brauchen es nicht zu verkündigen, wir brauchen nur unsere willigen Opfer dorthin zu führen, die vielen müßigen Privatiers, die nicht wissen, was sie mit ihrem Geld, mit ihrer Zeit, mit ihrem Leben anstellen sollen. Selig, die reich sind, denn ihnen wird alles gehören, wenn sie bereit sind, unserer frohen Botschaft zu lauschen, unseren glühenden Worten, dieser feurigen Rede, die besagt, dass wir sie gern leidenschaftlich lieben wollen, wenn sie uns nur den Nervus Rerum stärken, die goldene Munition für den Krieg liefern, den wir gegen die Ungerechtigkeit und den Aberwitz dieser Welt führen.

Und es klappt: Vom ersten Sonntag an sammeln wir neue Anhänger. Offenbar bilden Daniel und ich bei aller individueller Reizlosigkeit ein unwiderstehliches Paar. Und natürlich hat Arkady uns überzeugende Elemente für die Ansprache mitgegeben: das Ende der Welt, die allgemeine Vergänglichkeit, die sieben Spiegel der Seele, die überwältigende Vision der Liebe. Wenn mir die Worte fehlen, springt Daniel mit ungewohnter Verve ein. So kannte ich ihn bisher nicht und muss gestehen, dass er mich richtig umhaut. Woher nimmt er diesen spöttischen Witz und dieses lüsterne Augenfunkeln, während er sonst so müde und lustlos dreinblickt? An diesem Tag fahren wir ganz berauscht von unserem Erfolg im Kleintransporter meines Vaters zum Liberty House zurück: Eine gewisse Nelly Consulat, die sich als Urenkelin eines Astronomen vorstellt und vor allem selbst als Millionärin bezeichnet, hat großes Interesse an unserem Angebot bekundet. So blond wie Dadah brünett ist, jedoch viel fitter als Letztere, obwohl beide ungefähr gleich alt sind, halten wir diese Nelly alle für ein erstklassiges Neumitglied, sodass Arkady sie mit allen Ehren und einem üppigen Festmahl empfangen will.

»Wir bereiten für sie unseren Tofu im Blätterteigmantel mit Trüffelcreme zu, und den Flan aus roter Beete mit Mascarponeschaum, einverstanden? Und unsere Ravioli mit Salbei-Butternut-Füllung: Sie wird begeistert sein!«

Wie immer, wenn es ums Fressen geht, spitzt Victor die Ohren und gibt seinen Senf dazu: »Und dazu vielleicht noch Tempehscheiben mit Minze und Preiselbeeren? Und zum Nachtisch ein Sabayon aus Jasmin und Himbeeren!«

Essen ist wie Blumen: ein ideales Gesprächsthema für Leute, die nichts in der Birne oder sich gegenseitig nichts zu sagen haben, was vermutlich Hand in Hand geht. Und wieder möchte ich Sie ermuntern, das selbst einmal auszuprobieren und das Thema aufzuwerfen, einfach so, ganz beiläufig. Sie werden staunen, wie sich die Gesichter aufhellen, die Zungen lösen und Quasi-Autisten das Wort ergreifen, um ihr Rezept für Schokoladenkuchen preiszugeben oder sich zu ihrer Vorliebe für Fisch oder Fleisch zu bekennen – eine Vorliebe, die bei uns keine Rolle spielt, da wir streng vegetarisch leben, deswegen auch Tempeh und Tofu. Dem Veganismus sind wir entronnen, aber nur knapp, nach turbulenten Debatten und einer nicht minder turbulenten Abstimmung. Hätte Fiorentina nicht aufgepasst wie ein Luchs, wäre die Umfrage sicher mit einem Sieg der Anti-Gluten-Fraktion ausgegangen, einer kleinen und sehr umtriebigen Lobby in unserer Gemeinschaft. Fiorentina hat sich jedoch mit ihrem ganzen Gewicht in die Waagschale geworfen, und so werde ich umgehend mein Versäumnis wettmachen und ihr die verdiente Anerkennung zollen.

7.

Wäre ich nicht bereits in Arkady verliebt, wäre ich es bestimmt in Fiorentina, ihrem fortgeschrittenen Alter zum Trotz – wobei sich dieses nur schwer bestimmen lässt. Eines immerhin steht fest: Sie war vor allen anderen da. Anscheinend zählte sie sogar zu den Schülerinnen des Heiligsten Herzen, damals, als das Liberty House noch als Mädcheninternat fungierte. Arkady und Victor haben sie dort vorgefunden und gleich miteingekauft, samt Haus und Anwesen, das sie gespensthaft verwaltete. Aufgrund der ungeschriebenen Gesetze, die unser Leben im Liberty Haus regeln, hat sie einen Spitznamen verpasst bekommen, der genauso kryptisch ist wie meiner, nämlich Mrs. Danvers. Sie findet sich damit ab, wie mit allem anderen, den Launen von Arkady, den Schrullen von Victor, dem Aktionismus der Veganer, dem Leichtsinn der einen und den Schwächen der anderen. Dies fällt ihr umso leichter, als sie sowieso nur macht, was sie will. Es dauert eine Weile, bis man ihre Charakterstärke erkennt, da sie mit ihrer Schürze und ihrem sanften Blick wie eine Allegorie der Fügsamkeit wirkt – tatsächlich schätzt sie Fügsamkeit vor allem bei den anderen. Man braucht sie nur in ihrer Küche zu erleben, wo sie Hilfe allein unter der ausdrücklichen Bedingung annimmt, dass die Helfer sich ihr unterordnen und sich ausschließlich an ihre Anweisungen halten. Angesichts dieses eisernen Willens hatte die Anti-Gluten-Fraktion nicht die geringste Chance. Nein, ich irre mich und muss einsehen, dass die Liebe mich blind macht – was in ihrem Wesen begründet liegt. Ich irre mich, denn trotz ihrer autokratischen Neigungen und ihres ehernen Herzens erlitt Fiorentina an dem Tag, als sie uns ihr vitello tonnato nicht mehr servieren durfte, eine furchtbare Niederlage. Dazu muss man wissen, dass Fiorentina aus dem Piemont stammt: Für sie steht im Mittelpunkt einer Mahlzeit ganz selbstverständlich der Wildschweinbraten, mit einem Carpaccio als Vorspeise und Polenta als Beilage – oder allenfalls eine Pfanne voller gebratener Steinpilze. Für Desserts hat sie gar keinen Sinn und bereitet sie ohne Lust oder besonderen Eifer zu, dennoch sind ihre crostata di castagne, ihr semifreddo al torroncino oder ihre sbriciolata fragole e panna von erlesenster Qualität.

In der ersten Zeit zählte das Liberty House nur eine Hand voll Mitglieder und suchte gleichzeitig nach seiner Ausrichtung, Funktionsweise und Hausordnung. Das heißt, dass Fiorentina sich nach Herzenslust am Herd austoben und alle Welt ihrer Fleischdiät unterwerfen konnte, abwechselnd mit arrosticini, Leber auf venezianische Art, Hackbraten und gezupften Ochsenbäckchen – und natürlich mit ihrem berühmten Wildschweinbraten. Ich war nicht dabei, was ich bedaure, denn Daniel schwärmt mir mit Tränen in den Augen von ihrem fritto misto aus Kalbsbries vor. Doch dann musste sich Fiorentina zack nach zwei, drei Jahren ungeteilter Herrschaft geschlagen geben. Nicht, dass man ihr Titel und Amt streitig gemacht hätte, nein, sie blieb unumstößlich die Herrscherin unserer Küche, dafür hatte Arkady aber die Gleichheit von Mensch und Tier zu einer der sieben Säulen seiner Weisheit erklärt und uns somit lebenslänglich den Genuss von Osso Bucco und Kaninchen in Senfsauce entzogen. So esse ich eben in der Kantine Fleisch, obwohl meine Eltern der Schulverwaltung zahlreiche antispeziesistische Briefe geschickt haben. Und ich hege den Verdacht, dass auch Fiorentina gegen unsere Statuten verstößt und ihr vitello tonnato still und heimlich in ihrer gigantischen mittelalterlichen Küche verzehrt.

Dabei ist Arkady gerade dann besonders eloquent, wenn er über Tiere redet, ich könnte mich bei diesem Thema kaum auf eine einzige Predigt stützen, da es diesbezüglich Dutzende gibt – und ich mein eigenes, also Fiorentina, nicht aus den Augen verlieren will. Aber was kann ich noch über diese italienische Sphynx erzählen, die Daniel Metallica nennt, ein Spitzname, der sich durch Anschaulichkeit auszeichnet und dem Gerüst aus rostfreiem Stahl entspricht, das sie hinter ihrer sanften Miene, ihrem Wachspuppenteint und ihrem piemontesischen Gurren verbirgt? Fiorentina hat zwar eine Tochter und eine Enkelin, aber weder Ehemann noch Schwiegersohn. Als würden sich im Valle Maira die Frauen untereinander fortpflanzen. Tochter und Enkelin tauchen gelegentlich bei uns auf, um endlos lange auf Italienisch zu tuscheln. Wo sie herkommen und wo sie leben, wenn sie nicht gerade im Liberty House herumgeistern? Ein Rätsel, ein weiteres Rätsel in diesem Leben, das nur aus wohlgehüteten Geheimnissen und strengster Zurückhaltung in jeder Lage besteht. Selbst wenn man sie niederwalzte, würde Fiorentina den Schlüssel zu ihrer Seelenfestung nicht hergeben.

Ihr Zimmer liegt gleich neben meinem, im abgelegensten Teil des Hauses, dennoch kann ich an den Fingern einer Hand abzählen, wie oft ich im Laufe von zehn Jahren Gelegenheit hatte, einen Blick auf ihre Chenilletagesdecke, ihren Kleiderschrank aus dunklem Holz und das Foto von Papst Benedikt XVI. zu erhaschen – entweder hat sie den Übergang zu Franziskus noch nicht vollzogen oder sie hegt gegen ihn einen Groll, der nicht minder obskur ist als der Rest ihres Seelenlebens. Kurzum, neben Kruzifix und Palmzweig lächelt breit und mit päpstlich erhobener Hand allein Benedikt. Fiorentina, sie lächelt nie und lacht noch weniger. Nein, ich übertreibe und lasse mich von meinem Hang zu stehenden Wendungen mitreißen, denn sie hat durchaus heitere Momente – man muss nur zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, will man sie nicht verpassen. Sie ergeben sich ganz unerwartet und aus völlig undurchschaubaren Gründen, auch wenn ich mit der Zeit ein paar Konstanten ausgemacht habe. So kann Fiorentina über Tiere Tränen lachen, vor allem, wenn sie jung und ungestüm sind, denn auch Fleischesser sind empfänglich für den tollpatschigen Charme eines Kätzchens oder Kalbes.

 

Zu Fiorentinas Pech ist unsere Liebe zu Tieren anders geartet als ihre und verbietet, dass man sie verzehrt. Das hat Fiorentina sehr wohl verstanden und sie verzichtet darauf, ihre Missbilligung offen zu zeigen, aber ich spüre sie in ihren Gesten, ob sie Eier schlägt, Staudensellerie zerteilt oder ihren Maisgrieß rührt, alles Gesten, die sie perfekt beherrscht, ohne ihre Kochkünste damit voll entfalten zu können. In Ermangelung besserer Speisen serviert sie uns Borretschflans, Auberginentians, Minestrone, Raukenpesto oder Pfifferlingfrikassee, doch ohne rechte Überzeugung. Wäre sie dem Ort nicht so stark verbunden, wäre sie nach all der Zeit nicht sogar unfähig, woanders zu leben, hätte sie ihre Dienste sicher vernünftigeren Leuten angeboten. Leider haben die Bewohner des Liberty House den Antispeziesismus voll und ganz verinnerlicht, würde Fiorentina also wieder Fleisch auftragen, müsste sie mit lebenslanger Verbannung rechnen, das heißt mit dem Tod, angesichts ihres Alters und ihrer Unkenntnis der modernen Welt. Oder könnte sie dank ihrer Seelenstärke in einer feindlichen Umgebung überleben? Und wer weiß, ob sie nicht bereits Schlimmeres ausgestanden hat? Zwischen der nackten Armut ihres heimatlichen Tals und dem missionarischen Wahn der Schwestern vom Heiligsten Herzen hat sie bestimmt keine einfache Kindheit gehabt. Das Erwachsenenalter dürfte für sie eine Erleichterung gewesen sein, und ich kann verstehen, dass sie ungerührt bleibt vom Los der Hühner und Schweine, deren Alltag sie sicher in einem Schuppen mit losen Planken und über einer Schüssel Kastanienbrei geteilt hat. Die anderen Hausbewohner sind nicht so abgehärtet, sie können das tierliche Leid nicht ertragen. Ich stehe eher auf Fiorentinas Seite und teile die Ansicht, dass ein Hase dazu bestimmt ist, im Pfeffer zu landen. Zwar habe ich gelernt, so zu tun, als ob die Tiere meine Geschwister wären, aber ich denke mir meinen Teil.

Ich weiß nicht, wann Arkady und Victor sich zum Vegetarismus bekehrt haben. Als ich mit meiner Familie im Phalansterium angekommen bin, stand bereits fest, dass man dort weder Fleisch noch Fisch mehr isst. Eier und Milchprodukte waren noch umstritten, doch inzwischen hat Fiorentina, wie schon berichtet, über den veganen Fundamentalismus und die orthorektischen Fantasien mancher Bewohner obsiegt.

Im Liberty House leben wir in gutem Einvernehmen mit allen möglichen Tieren: Mit Hunden und Katzen, natürlich, aber auch mit einem Haufen Geflügel und sogar einem kleinen Bestand an Kühen und Ziegen, die wir abwechselnd melken, während wir versuchen, ihrem dämpfigen Ausschlagen und übelriechenden Gefurze auszuweichen. Ich verstehe vollkommen, dass wir nicht das Recht haben, sie nur zu töten, um in den Genuss ihrer Hachse oder Hochrippe zu kommen, fordert man für sie jedoch die gleiche Achtung ein wie für Menschen, bin ich nicht bereit, diesen Schritt zu vollziehen, und der Umgang mit unserem degenerierten Kleinvieh bestärkt mich erst recht im Gefühl meiner Überlegenheit. Abgesehen von der Fähigkeit, Eier zu legen und sich heiser zu gackern, verfügen Hausund Perlhuhn über keinerlei nennenswerte Kompetenzen und sind nicht einmal besonders sympathisch. Hunde sind wenigstens freundlich, und ich kann nachvollziehen, dass man seine Freunde nicht verspeist, aber ein Huhn? Gott weiß, wie sehr ich Arkady liebe, doch wenn er auf die Kanzel steigt, um sich für die Tiere stark zu machen, verschwimmt alles vor meinen Augen, bekomme ich Ohrensausen, fliehe ich in Gedanken, renne meine Steilhänge hinunter, klettere die Bäume hoch, wälze mich im Gras mit seiner Glasur aus Herbstzeitlosen, warte darauf, dass dieses Wiederkäuen Claudelschen Unsinns ein Ende nimmt. Ja, Arkady, der zwar wenig liest, jedoch gern als Literaturkenner auftritt, hat Victor Hugo, Marguerite Porète und Paul Claudel zu seinen Lieblingsautoren erklärt und plündert sie im großen Stil, um seine verblasenen Predigten zu untermauern, anstatt sich auf seine eigenen Geistesgaben zu verlassen, so beachtlich diese sind – als weise seine herrliche Intelligenz einen blinden Fleck auf, einen toten Winkel, der sich seiner Vernunft entzieht und dafür wahnwitziger Tierliebe und der Verkündung von so absurden wie erniedrigenden Gaumenverboten Vorschub leistet.

Ich fordere alle auf, die gegen das Stopfen von Gänsen sind, eine halbe Stunde in deren Gesellschaft zu verbringen. Nach einigen Schnabelhieben werden sie vermutlich weniger Skrupel haben, sich ihre Foie gras schmecken zu lassen. Außerdem ist die Gans ein scheußliches Tier, mit ihren gelb umrandeten Augen, den schuppigen Füßen und diesem Hals, den sie streckt, als wollte sie einen Rekord brechen, den bisher Schwan oder Strauß halten – die ebenso hässlich und gemein sind. Zur Krönung des Ganzen gibt es in unserem Hühnerhof auch ein Pfauenpärchen. Das Weibchen mag ja noch angehen, das sich mit seinem unscheinbaren Gefieder nicht aufspielt, der Hahn ist dagegen unerträglich, mit seinen furchtbaren Schreien, dem vorgeschobenen Kropf und der aufbrausenden Entfaltung seines Prachtbürzels. Erwartungsgemäß hat Victor ihn zu seinem Totemtier gemacht: Als filigrane Figur ziert der Pfau seine Visitenkarten und sogar seinen Siegelring, ein Schmuckstück, das er als uraltes Erbstück zur Schau trägt, dabei hat er für dessen Fertigung verschiedene Ohrringe und sein Taufkettchen einschmelzen lassen. Aber zeichnet sich der Pfau nicht gerade durch seine Gefallsucht aus, ist er nicht, abgesehen von seinem dekorativen Aspekt, das unnütze Tier schlechthin?

Je mehr ich mit der Tierwelt zu tun habe, desto weniger verstehe ich, dass Arkady auf seine Vorherrschaft über niedere Wesen und auf die Möglichkeit ihrer größtmöglichen Ausbeutung verzichtet. Das äußere ich umso gelassener, als ich Tiere liebe und am glücklichsten bin, wenn ich einem Igel begegne, unverhofft auf ein Füchslein stoße oder auf einen Bussard mit wildem Blick. Und natürlich habe ich an unserer Meute von verkrüppelten Hunden und Katzen einen Narren gefressen. Denn das Liberty House nimmt nicht nur gesellschaftliche Außenseiter auf, es ist auch eine Zuflucht für Tiere, da Arkady und Victor ständig Laborkaninchen, Schafe, die für den Abdecker bestimmt sind, oder Kläffer, die man am Straßenrand ausgesetzt hat, retten. Unsere Hunde und Katzen werden selbstverständlich mit vegetarischen Kroketten gefüttert, wobei die Katzen sich ihren Anteil an tierischen Proteinen dadurch sichern, dass sie die Feldmäuse des Anwesens dezimieren, die sie zuvor ganz langsam bei lebendigem Leibe zerlegen. Und auch hier gilt: Man braucht nur etwas Zeit mit einer Katze zu verbringen, um zu erkennen, dass sie von allen Vivisektierern der grausamste und hemmungsloseste ist, ohnehin ist Grausamkeit in der Tierwelt, und der Mensch ist da natürlich inbegriffen, überaus verbreitet.