Arkadien

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Dadah klammert sich an die Armstützen ihres elektrischen Rollstuhls für siebentausend Euro und bebt, weil sie sich angegriffen fühlt und gleichzeitig auf ein Wortgefecht mit ihrem Lebenscoach freut – denn so lautet die Rolle, die sie Arkady zuweist. Gleich bei ihrer Ankunft hat sie ihm ihre Seele anvertraut und voller Erleichterung deren Führung überlassen. Dennoch lehnt sie sich immer wieder wegen Kleinigkeiten auf, damit niemand vergisst, dass sie jederzeit ihre Freiheit – und ihr Geld – wieder für sich beanspruchen kann. Und so hebt sie zu einem Plädoyer für Blush und Wimperntusche an, die sie hartnäckig als Rouge und Mascara bezeichnet, trotzdem verstehen wir sie, vor allem, da sie beides im Übermaß aufträgt und uns das von Arkady gegeißelte Unnatürliche lebhaft vor Augen führt: asymmetrische, safrangelb bestäubte Wangenknochen, geschwollene, fettig glänzende Lippen, verspachtelte Falten, verklebte Wimpern. Neben ihr – natürlich nur im übertragenen Sinn, weil sie sich gegenseitig nicht leiden können und jede Tuchfühlung meiden – wirkt meine Großmutter so frisch und rosig wie ein Laib Reblochon. Man muss wissen, dass sie der Kosmetikindustrie schon lange vor ihrer Begegnung mit Arkady misstraute und lieber ihre von erweiterten Äderchen durchzogenen Wangen und ihr zerknittertes Dekolletee zur Schau stellt, als sich mit irgendeiner Creme zu behelfen – geschweige denn mit Skalpell oder Silikon.

Arkady hört Dadah nur mit einem zerstreuten, vielleicht sogar ungeduldigen Ohr zu. Er mag ja gerontophil sein, doch die senilen Haarspaltereien, in denen Dadah regelmäßig schwelgt, gehen ihm schnell auf die Nerven. Leider hat sie sich nun des Themas bemächtigt und wird so bald nicht lockerlassen. Im Gegensatz zu Arkady, der immer mit einer Bühne und einem andächtigen Publikum rechnen kann, wenn er sich äußern möchte, bleibt Dadah inzwischen die willfährige Aufmerksamkeit versagt, die sie in ihrer Glanzzeit erlebt hat. Zwar ist sie nach wie vor reich und furchterregend, ihr Verstand lässt sie aber meist dermaßen im Stich, dass ihr selbst die größten Speichellecker in ihrer Gefolgschaft kaum mehr zuhören. Doch obwohl Dadah nicht mehr alle Tassen im Schrank hat, bleiben ihr genug Synapsen, um zu merken, dass ihr Wort nichts mehr gilt. Darum nutzt sie jede Gelegenheit auf das Ausgiebigste, um andere zuzuschwallen, und setzt sich dabei souverän über sämtliche Unterbrechungen und Anzeichen von Überdruss hinweg. Mangelnder Zuspruch dient ihr sogar als Ansporn, und so dreht sie sich genüsslich in ihrem Rollstuhl hin und her und setzt mit ihrem Kontra-Alt dramatische Akzente:

»Das ist ja unerhört, dass eine Frau sich nicht einmal mehr hübsch machen darf, solange sie noch kann! Kleinere Unreinheiten zu beheben, ist außerdem ein Gebot der Höflichkeit! Heutzutage findet man äußerst wirksame Anti-Aging-Produkte. Ja wirklich!«

Seltsamerweise glaubt Dadah immer noch, ihre Haut weise nur winzige Makel auf, etwa ein brauner Fleck hier, oder dort eine geplatzte Ader, ein Lachfältchen vielleicht, die man alle leichter Hand mit Concealer oder Highlighter abdecken kann. Und da deutet sie auch schon mit zittrigem Finger auf ihre verheerten Gesichtszüge, als wollte sie uns zeigen, welche Wunder die Kosmetologie bei ihr bewirkt hatte – dabei ist Dadah der lebende Beweis ihrer Unwirksamkeit. Während sie für dreißig Sekunden triumphierend verstummt, nimmt Arkady geschwind den Faden seines Vortrags wieder auf und wendet sich dem »einzigen brauchbaren Spiegel« zu. Als guter Redner holt er etwas weiter aus und baut gezielt Spannung auf, sodass sich alle den Kopf zerbrechen und überlegen, was wohl gemeint sein könnte. Das gibt auch mir genügend Zeit, allerlei kraftlose Vermutungen anzustellen: die Augen, das Gewissen, die Quellen, die Brunnen, die Pfützen, der Himmel, was weiß ich. Dann erweist sich allerdings, dass ich vollkommen daneben liege, denn nun reckt sich der kleine Arkady hinter seinem Pult zur vollen Höhe auf und verkündet, dass Der Spiegel der einfachen vernichtigten Seelen und jener, die einzig im Wollen und Verlangen der Liebe verbleiben fortan unser aller Spiegel sein soll. Natürlich folgt auf diese Erklärung ehrfürchtiges Schweigen, aber mit ein paar flüchtigen Blicken nach links und nach rechts stelle ich fest, dass keiner was verstanden hat, abgesehen von Victor, dessen selbstgefällige, vielsagende Miene mich auf den Gedanken bringt, dass er hinter diesem hochliterarischen Verweis steckt. Sollte es sich nämlich um ein Buch handeln, dann stammt die Idee garantiert nicht von Arkady, der das Lesen verabscheut.

Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich das erkannte, weil er fortwährend bekundet, die Literatur im Allgemeinen und den großen Victor im Besonderen zu lieben, und weil er das Liberty House zudem noch sehr großzügig mit Glasschränken und Regalen ausgestattet hat, die Hunderte Bücher mit Goldschnitt fassen. Ich habe selbst, auf den Aubusson-Teppichen der Bibliothek sitzend und von einem Sonnenstrahl beleuchtet, stundenlang in ihnen geblättert, als vollendete Allegorie jugendlichen Bildungshungers, aber auch als Mensch gewordene Ratlosigkeit – denn es handelte sich bei den meisten Büchern um uralte Abhandlungen über Arithmetik oder Agronomie, die Arkady meterweise gekauft hatte, wohl eher darauf bedacht, die Einbände auf unsere Sesselbezüge abzustimmen, als unseren Wissensdurst mit richtigen Büchern zu stillen. Nachdem diese dekorativen Schwarten zur hagiografischen Sammlung der Schwestern vom Heiligsten Herzen hinzugekommen sind, bleibt für die Literatur hier im Grunde nur wenig Raum – ein Regalbrett, wenn überhaupt. Nein, ich übertreibe, denn auch wenn Victor ein furchtbarer Angeber ist, hegt er für die Poesie eine wirkliche Leidenschaft und besitzt eine eigene Bibliothek. Zu meinem Leidwesen befindet sich diese jedoch im Zimmer, das er mit Arkady teilt, und besteht außerdem aus einem herrlichen neogotischen Glasschrank mit drei Flügeltüren, die er stets mit einem Vorhängeschloss sichert, sodass ich mir noch nie Zugang dazu verschaffen konnte, trotz meiner heimlichen Erkundungen ihrer Hochzeitssuite.

Ich liebe Arkady und halte ihn für den Inbegriff von Seelengröße, dennoch muss ich zugeben, dass Victor und er sich selbst die prunkvollsten Räumlichkeiten zugeteilt haben, während den Gästen des Liberty House geradezu klösterliche Zellen oder Bettnischen zugewiesen wurden, die man durch Unterteilung der Schlafsäle gewonnen hatte. Ich selbst verfüge nur über ein fünf Quadratmeter kleines Kämmerchen, und meine Eltern sind kaum besser dran. Das ist mir aber egal. Es gefällt mir sogar, auf so engem Raum zu hausen, und ich fühle mich in meinem Schlupfwinkel mit dem winzigen Fenster geborgen. Vor allem, weil besagtes Fensterchen auf das Geäst einer Atlas-Zeder blickt und ich mich allein schon über ihre Nachbarschaft freue, über den Duft ihrer Zapfen, das beständige Schrammen ihrer Zweige gegen die Fassade, das fröhliche Getöse der Vögel, die in ihnen nisten und mich jeden Morgen wecken – jeden Morgen, als wäre es der erste Morgen. Bevor ich ins Liberty House einzog, lebte ich in einem Zustand sensorischer Entbehrung, der mir nicht einmal bewusst war. Eltern, die ihr Kind mehr als hundert Meter von einem Grasmückennest oder Zistrosenstrauch entfernt aufwachsen lassen, sollten strengstens bestraft werden. Meine Eltern haben diesen Fehler begangen, sodass ich um ein Haar nie das Vergnügen erlebt hätte, meine Blütenblätter in der Sonne zu entfalten, die Wange an einen harzigen Baumstamm zu schmiegen oder auf eine Gewitterfront zuzustürmen.

Arkady wagt sich an eine mitreißende Exegese der gelungensten Seiten seines Spiegel der einfachen Seelen, aber ich höre ihm gar nicht mehr zu, weil mir schlagartig diese Erkenntnis gekommen ist: Die einfache und vernichtigte Seele bin ja ich; das Verlangen der Liebe ist mein einziges Verlangen – ohnehin habe ich nie so recht gewusst, was die Liebe von der Vernichtigung unterscheidet. Während der Mann meines Lebens sich voller Begeisterung über Marguerite Porète und die Brüder und Schwestern vom Freien Geist auslässt, lasse ich meinem eigenen freien Geist freien Lauf, auf dass er die duftenden Pfade meiner Ländereien beschreite. Dort, vom zirpenden Lied der Zikaden umgeben, genieße ich die Vernichtigung und das Gefühl, dass mein ganzes Wesen sich im Wind verstreut wie der Kopf einer Pusteblume.

»Niemand kann als Mensch ausgelöschter sein!«

Arkady blickt mich an, als erriete er meine Gedanken und richtete diesen Schlusssatz direkt an mich, höchstwahrscheinlich ein Zitat der bemerkenswerten Marguerite Porète, deren gesammelte Werke zu beschaffen ich mir augenblicklich vornehme – es sei denn, sie stecken bereits zwischen zwei Bänden des Palmier séraphique, einem Machwerk, das sowohl Arkadys Vorliebe für Halbledereinbände befriedigt als auch dem spirituellen Trachten der Schwestern vom Heiligsten Herzen gerecht wird. Der Titel – Seraphisches Palmbuch – gefällt mir sehr, und ich habe es mehrmals angefangen, doch mit jedem Versuch sinkt es mir unweigerlich aus der Hand, sobald ich beim erbaulichen Leben des Jean Parent ankomme, auch bekannt als »Meister der Tränen«, was mir längst eine Warnung hätte sein sollen: Nichts ist langweiliger als Heulsusen. Kurzum, auch ich bin ausgelöscht, meinen bukolischen Betrachtungen vollkommen hingegeben, wesenloses Schirmchen einer Pusteblume, oder gehe ganz und gar in meiner Vergötterung Arkadys auf, als eifrige Schülerin, Groupie, fast schon Leibdienerin – ganz wie er will. Doch etwas in mir sträubt sich gegen die Auflösung, das spüre ich, etwas hält stand. Zart, aber zäh, wie ein Versprechen auf neuerliches Sprießen nach sommerlicher Glut oder winterlichem Frost, wie eine empfindliche Jahreszeit, für die es keinen Namen gibt, außer meinem, vielleicht.

Arkady hat seine Predigt beendet und schickt uns weg zu unseren Beschäftigungen. Alle stemmen sich erleichtert aus ihren Stühlen. Nur Victor bleibt auf seinem sitzen, man muss allerdings wissen, dass er Hilfe braucht, um sich hochzuquälen, und dass ich ihm diesen Gefallen ganz sicher nicht tun und sein angestrengtes Ächzen und das Schwabbeln seiner Plautze nicht ertragen werde, hopp, ich husche davon, obwohl er nach mir Ausschau hält und seinen Siegelring auf den Knauf seines Stocks klirren lässt. Soll er doch allein zurechtkommen: Ich habe mich zwar der Sklaverei verschworen, doch er ist mein Herr nicht.

 
5.

Im Liberty House arbeiten alle halbwegs gesunden Erwachsenen – was nicht besonders viele sind, nimmt dieses Haus doch vor allem Invalide auf, und zwar jeglicher Art. Meine Mutter etwa ist wegen ihrer Neigung zur raschen Ermüdung und ihres Migränefelds von jeder Tätigkeit entbunden. Ja wirklich, in Ermangelung elektromagnetischer Strahlen musste ihre Empfindlichkeit eine andere Ausdrucksform finden. Außerdem hat sich ihr Körper an bestimmte Symptome gewöhnt: ihr diese zu entziehen, wäre fast so grausam gewesen wie sie weiterhin technologischer Verschmutzung auszusetzen. Auch wenn es ihr sehr viel besser geht, neigt sie noch immer zu Panikattacken, Kopfschmerzen und niedrigem Blutdruck. Wohingegen sich mein Vater der Zucht und dem Verkauf von Blumen verschrieben hat und dabei feststellen durfte, wie viel Liebe und Geduld er dafür aufbringt.

Lange vor unserer Ankunft gedieh das Liberty House auf Arkadys Anregung hin zu einer Produktionseinheit für Bio-Anbau von Obst und Gemüse. Also haben wir einen Obst- und einen Gemüsegarten, auf die ich einen gewissen Anspruch erhebe, auch wenn sie nicht ausdrücklich zu meinem Verantwortungsbereich zählen. Der Obstgarten interessiert mich nicht genug, um ihn den Wespen streitig zu machen, die wegen der gärenden Äpfel und Birnen dreist, ja sogar richtig aggressiv werden, aber der Gemüsegarten ist ein herrlicher Ort, mit seinen Reihen von ins Kraut schießenden Kohlköpfen, den Belrubi-Erdbeerpflanzen, den schweren Kürbissen und dem Geruch der Tomatenblätter, den Sonne wie Regen intensivieren.

Mein Vater fing zunächst behutsam an, mit Dahlien und Kapuzinerkresse, dann aber, vom Erfolg seiner Sträuße auf den Märkten im Umland berauscht, erweiterte er seine Angebotspalette: Gladiolen, Schwertlilien, Tulpen, Nelken, Osterglocken, Ringelblumen, Margeriten, und wurde zum Experten für Samen, Sämlinge, Naturdünger und natürliche Insektizide. Mit leuchtenden Augen und zutiefst bewegt kehrte er aus dem Garten und den Gewächshäusern zurück und konnte sich ebenso endlos über die Blütenknospe der Herbstanemone auslassen wie über den Duft der Lilien oder Freesien. Blumen sind tatsächlich ein geniales Gesprächsthema: Probieren Sie es aus, Sie werden feststellen, dass jeder dazu eine Meinung hat, jeder seine Lieblingsblume oder, ganz im Gegenteil, eine, die er wegen ihres penetranten Dufts oder ihrer Arroganz nicht zu ertragen vermag. Doch, doch! Immer gibt es wen, dem das Heliotrop zu prätentiös oder die Pfingstrose zu sehr von ihrem eigenen Krausköpfchen eingenommen ist: Zeitgleich mit seinem Thema hatte mein Vater sein Publikum gefunden, Leute, die ihm endlich zuhören, ihm, der sich bis dahin seiner Untauglichkeit als Gesprächspartner schmerzhaft bewusst war. Als er einmal am Mittagstisch ein wenig ins Schwadronieren geriet, mit geröteten Wangen und in hastigem Tempo – so hatte man Marqui noch nie erlebt -, zog er sogar die Aufmerksamkeit von Victor dem Kleinen auf sich, der voll und ganz mit dem Löffeln seiner Kürbiscremesuppe beschäftigt war. Nach dem Essen schleifte er meinen Vater in die Bibliothek und zog zwei Bücher mit blauem Perkalineinband heraus, die laut den sorgfältig eingeklebten Exlibris eine gewisse Odette Garnier der Gemeinschaft vom Heiligsten Herzen vermacht hatte: Botanik für Damen, Band I und II.

»Scheint dich ja zu interessieren, wirf mal einen Blick hinein. Stell dir vor: Blumen haben eine Sprache!«

Dabei war Sprache genau das, woran es meinem Vater gebrach, weshalb er trotz eingefleischter Denkfaulheit diese Bücher von der ersten bis zur letzten Seite las – seither ist er wie ausgewechselt.

Um das Ausmaß dieser Metamorphose greifbar zu machen, muss ich bis zur Schulzeit des armen Eros Marchesi – meines Vaters – zurückgehen. An seine Jahre in der Vorschule erinnert er sich nur vage, soweit er weiß, hat er alle zufriedengestellt, immer freudig bereit, im Chor mitzusingen, Bälle zurückzuspielen oder in Reifen zu springen; sonst war er immer schön artig und streckte die Zunge nur heraus, wenn er die vier krakeligen Buchstaben seines Vornamens zeichnete. In der ersten Klasse wurde es komplizierter. Der kleine Eros war mit einem vertrauensvollen Lächeln hineingegangen, mit unendlich gutem Willen und der Überzeugung, dieser Wille würde reichen, um alles richtig zu machen. Das aber war nicht der Fall: Er wollte so gern und machte alles falsch. Genauer gesagt, scheiterte er exakt an dem, was in seinem ersten Grundschuljahr das Allerwichtigste zu sein schien – lesen lernen. Mit den Buchstaben hatte er nie Schwierigkeiten gehabt, ehe er sie zusammenbringen sollte. Das Alphabet rezitierte er wie ein kleiner Papagei und fand auf Anhieb das X oder das M in der gestickten Fibel, die ihm seine Großmutter mütterlicherseits hinterlassen hatte. Mit Wörtern lief es nicht so gut, geschweige denn mit Sätzen, doch alles drehte sich just darum: Um Buchstaben, die Wörter bildeten, die wiederum Sätze bildeten, die allen etwas sagten, nur ihm nicht. Nein, ich übertreibe, im Januar hatten es von den dreißig Schülern seiner Klasse drei immer noch nicht kapiert: Mein Vater, eine kleine Migrantin, die nur Shikomor sprach, und ein seltsames Kind, in dessen Zuckerhutschädel wohl kein Gehirn passte.

Von der ersten Stunde an bereitete sich mein Vater gründlich auf den Unterricht von Madame Isnardon vor. Er legte sich die Utensilien auf seinem kleinen Pult ordentlich zurecht, schlug das Lesebuch auf, verschränkte die Arme und sperrte die Ohren weit auf. Vergebens. Die Buchstaben auf der Seite fingen sogleich an zu tanzen, und die schrillen Erläuterungen von Madame Isnardon verstärkten seine Panik nur noch. Daniel führte die Mauleselin in den Stall, die Magd tischte einen dampfenden Braten und Mandarinen auf, Valérie verletzte sich mit einem Feuerstein, die Gänse marschierten zum Teich, und so ging es endlos weiter. Die sepiafarbenen Illustrationen im Buch klärten ihn zum Glück ein wenig über das bukolische Leben von Daniel und Valérie auf, sonst wäre er in Tränen ausgebrochen. Fragen beantwortete er auf gut Glück, nahm die Bilder zu Hilfe, erkannte hier und da ein Wort wieder, landete ganz selten einen Treffer und zog sowohl die mitleidigen Blicke von Madame Isnardon als auch das höhnische Lachen seiner Klassenkameraden auf sich. Im April hatte sogar die Kleine von den Komoren begriffen, worauf es ankam, und las stockend vor, während sie ihm immer wieder triumphierende Blicke zuwarf: »Daniel schlägt die Ratte mit einem Rattanstock und tötet sie.« Daniel war tatsächlich grausam, sie aber auch.

Mein Vater hatte mit allen möglichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Die erste bestand darin, dass manche Buchstaben für ihn farbig waren und die anderen nichts dergleichen erwähnten, mit keiner Silbe. Als er das a als roten Buchstaben zu bezeichnen wagte, machte Madame Isnardon runde Augen und nahm dann den Faden ihrer geduldigen Erklärung wieder auf: »R-a, Ra, wie in Ratte, wie in Rattan, verstehst du?« Nein, er verstand nichts, oder nur, dass dieser schreckliche Daniel die Ratte mit einem Rattanstock zu Brei geschlagen hatte. Denn das war für ihn eine weitere Schwierigkeit – er wusste nicht, welchen Wirklichkeitsgehalt er den Sätzen zuschreiben sollte, die alle um ihn herum munter von sich gaben. Mit der Zeit war ihm Valérie ans Herz gewachsen, ihr blonder Zopf, ihre Puppe, ihre Kleidchen; die Mauleselin, die Ziege und die Gänse schienen ihm ebenso liebenswert, und er bangte um sie, wenn sie so kopflos zum Fluss eilten, in dem zu ertrinken sie Gefahr liefen – und wo ihnen auch noch Daniel mit seinem unerbittlichen Rattanstock auflauerte. Am Ende mischte sich auf der Seite im Lesebuch alles bunt durcheinander, die harmlosen Spiele von Valérie, die Tollerei der Gänseherde und die Umtriebe des schrecklichen Daniel. So sehr er sich konzentrierte, die Augen aufriss, den Zeigefinger anleckte, um der Zeile zu folgen, verketteten sich die Wörter unter seiner Fingerkuppe wie Prozessionsspinnerraupen, wobei hier und da ein Vokal trügerisch aufblinkte: blau das e, orange das o … Er hielt inne und warf Madame Isnardon einen entmutigten Blick zu. Für ihn war das zutiefst bedrückend, als gäbe es ein System, so gewaltig wie magmatisch – nur dass alle anderen damit zurechtkamen und dem Unförmigen eine Form gaben, die chiffrierten Botschaften entschlüsselten, die Daniel und Valérie von ihrem kleinen Bauernhof aus schickten, und deren verborgenen Sinn freilegten.

Nachdem die Klassenlehrerin ihnen einen Wink gegeben hatte, erkannten meine Großeltern schließlich, wie schwer ihrem Sohn das Lesen fiel, und sie bemühten sich um Abhilfe, setzten immer mehr heimische Übungsstunden an, mit dem kleinen Jungen auf dem Schoß und dem aufgeschlagenen Lesebuch auf dem Wohnzimmertisch. Leider scheiterte Eros zu Hause genauso kläglich wie in der Schule. Was ist bloß mit dem Jungen los? Ist er zu beschränkt? Diese Frage stellten sich meine besorgten Großeltern am Ende jener Sitzungen, die für alle eine Prüfung waren. Möglicherweise war mein Vater wirklich beschränkt, obwohl er über einen normalen IQ verfügte, der ihm erlaubte, Rechenaufgaben zu lösen oder sich drei Gedichtstrophen zu merken – natürlich unter der Voraussetzung, dass man ihm das Gedicht vorlas. Ungeachtet seines IQS musste er die erste Klasse im Folgejahr wiederholen, während das Gros seiner Mitschüler in die zweite versetzt wurde. Das Kind mit dem Zuckerhutschädel war auch in der Ersten verblieben, es saß wie gewohnt in der letzten Reihe und hatte seinem Leidensgenossen mit einem unmerklichen Zwinkern seiner Eidechsenaugen Mitgefühl und Solidarität bekundet. Diese Art von Bruderschaft kränkte Eros, der entschlossen war, kraft doppelter Anstrengung ans Ziel zu kommen, doch verfehlte er dieses Ziel nach wie vor. Zu seinem Glück starb das Kind mit dem Zuckerhutschädel bereits im November, vor Ort, aus heiterem Himmel, kerzengerade auf seinem Klassenstuhl und vollkommen lautlos. Sein Herz, vermutlich ebenso verkümmert wie sein Hirn, wollte nicht weiterkurbeln und setzte dem kurzen Leben von Jean-Louis – so hieß das Kind – ein Ende. Eros war der einzige, dem schließlich auffiel, dass Jean-Louis in eine unnatürliche Starre verfallen war und seine Eidechsenaugen sich getrübt hatten. Was tun? Er fasste sich ein Herz und schlich zum Schreibtisch von Madame Isnardon, um ihr ins Ohr zu flüstern: »Frau Lehrerin, Jean-Louis ist tot!«

Anders als Eros erwartet oder sogar befürchtet hatte, war Madame Isnardon in schallendes Gelächter ausgebrochen, weil sie glaubte, er hätte einen Scherz versucht, und auf diesen eingehen wollte, vor allem aber, weil es für sie unvorstellbar war, dass ein siebenjähriges Kind urplötzlich starb, und dies an einem denkbar unpassenden Ort.

»Ach was, er ist gewiss nicht tot! Du weißt doch, dass Jean-Louis immer so still und so brav ist. Im Gegensatz zu einigen anderen!« Bei dieser Gelegenheit warf sie dem Grüppchen unverbesserlicher Schwätzer einen vernichtenden Blick zu – es kam ja nicht so oft vor, dass man den armen Jean-Louis als Vorbild hinstellen konnte. Doch just in diesem Augenblick war der Unglückliche endlich vom Stuhl gefallen und hatte dabei verschiedene hochgefährliche Gegenstände verstreut: eine Gartenschere, Schraubenmuttern, eine Rauchgranate und mehrere Fläschchen Rum. Dieser unerwartete Tod brachte also ans Licht, dass Jean-Louis sehr wohl ein Innenleben gehabt und nach Monaten des Misserfolgs und der Demütigung aus lauter Groll sogar seine persönliche Version des Schulmassakers von Littleton geplant hatte. Wer weiß, ob nicht die Strapazen der Vorbereitung zu seinem vorzeitigen Ableben geführt hatten? So oder so traf es Eros sehr hart, als hätte der schreckliche Daniel ihm einen Schlag mit dem riesigen Rattanstock verpasst. Durch Jean-Louis’ Tod glückte das, was kein Unterricht, keine Lehrmethode, kein Lesebuch zuwege gebracht hatte: Die Buchstaben hörten auf zu blinken, die Silben hörten auf, sich zu verdrehen, die Wörter gerieten nicht mehr durcheinander. Auf so brutale wie tragische Weise war es Eros wie Schuppen von den Augen gefallen – und er las. Inzwischen hatten seine Eltern vom Hausarzt der Familie eine sachkundige Diagnose erhalten: Ihr kleiner Junge sei hochgradig legasthenisch und dysorthographisch. Selbst wenn er dem Analphabetismus entgehe, würde für ihn die Schriftsprache immer eine offene Fallgrube bleiben.

 

Da ist es kein Wunder, dass er vierzig Jahre später begeistert die Idee aufgreift, mit Blumen statt Worten zu kommunizieren. Die beiden mühsam entzifferten Bände der Botanik für Damen erweisen sich als Quelle wertvoller Informationen. Ihm ist durchaus bewusst, dass er mit Alpenveilchen und Geranien lediglich Gefühle und Empfindungen ausdrücken kann, aber das ist immerhin etwas, außerdem hofft er, eine reichere Blumensprache zu entwickeln als jene, die er dank Odette Garnier, Victor Ravannas und der so treffend benannten Roselyne Saniette – Autorin seiner neuen Bibel – begierig aufgenommen hat.

Auf den Märkten verkauft er inzwischen fertige Sträuße, mit rechteckigen Kärtchen versehen, die er trotz seines hinlänglich bekannten Handicaps hingebungsvoll selbst beschriftet. Demnach bedeutet ein Bund roter Amaryllis, weißer Hortensien und blauer Anemonen Auch wenn Sie mir zu kokett sind und ich unter Ihren Launen leide, vertraue ich Ihnen weiterhin, während Schwertlilien und feuerrote Levkojen von überschwänglicher Liebe künden – heute mehr als gestern und längst nicht so sehr wie morgen.

Überdies ist mein Vater in der Lage, sich dem komplizierten Gefühlsleben seiner Kunden anzupassen und ihnen personalisierte Gebinde anzubieten. Möchte man um Verzeihung bitten oder um ein Rendezvous, eine Warnung aussprechen, seinem Bedauern über eine Indiskretion oder Verleumdung Ausdruck verleihen: Blumen können alles sagen und das tun sie ausgiebig. Bald schon ist er etwas überfordert, weil die Kunden nicht nur gern bei ihm bestellen, sondern ihm auch gern ihr Herz ausschütten.

»Wissen Sie, Monsieur Marchesi, ich habe wirklich kein Glück: Immer falle ich auf Heteros rein, die nur mal sehen wollen, wie das ist, mit einem Kerl zu schlafen, einfach so, für eine Nacht, und zack sind sie wieder weg. Während ich mich emotional binde, daran kann mich doch keiner hindern, oder?«

»Nein, ganz sicher nicht.«

»Und so falle ich jedes Mal wieder auf die Schnauze.«

»Ich stelle Ihnen ein paar Glockenblumen zusammen. Und Gelben Enzian.«

Und so ähnelt mancher Strauß am Ende eher einem Apothekenrezept als einer Liebesbotschaft: Rosa Kamille für den unverstandenen Geliebten, gelbe Mädchenaugen für den glücklosen Rivalen, bunte Löwenmäulchen für den, der es gar nicht mehr erwarten kann. Gerade bei den leidenden Seelen wirken die Sanftmut und Geduld meines Vaters Wunder, sodass an seinem Stand jeden Sonntag ein Riesenandrang herrscht. Ich diene ihm als Aushilfe, binde Strauß um Strauß und befestige am Stängel der Aronstäbe, Kapuzinerkressen oder Hyazinthen jeweils ihre kleine Simultanübersetzung: Hören Sie auf Ihr Herz, Zu lieben ist Ihnen jetzt verwehrt, Die Hoffnung, die Sie mir schenken, entzückt mich. Währenddessen hält mein Vater die Hand eines untröstlichen Kunden und beschwört ihn, sich durch Blumen heilen zu lassen. Schlussendlich hat er seine Bestimmung gefunden und eine neue Einkommensquelle für das Liberty House: Dank seiner kodierten Sträuße und den therapeutischen Einlagen überweist mein Vater der Gemeinschaft stetig wachsende Beträge. Aber noch längst nicht genug, wie wir bald sehen werden. Dabei können zwar nicht alle arbeiten, aber alle können Geld verdienen, wie unser spiritueller Führer zu wiederholen nicht müde wird – und damit muss ich wohl auf einen weiteren der denkwürdigen Vorträge von Arkady zu sprechen kommen.