Arkadien

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Bevor wir über die ungerechte Behandlung unserer tierischen Freunde Tränen vergießen, schlage ich allen eine Schnupperlehre im Dschungel vor, wohlwissend, dass der Dschungel gleich vor unserer Tür beginnt. In jedem Vorstadtgarten, auf jeder Grünfläche findet man ganze Populationen von kleinen Folterknechten im Feder- oder Fellkleid. Von Insekten gar nicht zu reden, die in der Universalgeschichte der Grausamkeit ein eigenes Kapitel verdienten. Jeder Garten ist zunächst ein Garten der Qualen, die anderen im Humus oder harmlosen Blätterrauschen verborgen bereitet werden. Und die Krustentiere stehen dem in nichts nach. Wenn Sie diese für ungefährlich halten, zu nichts anderem fähig als mit Mayonnaise garniert auf Ihrem Teller zu enden, dann haben Sie noch nicht von der Cymothoa exigua gehört, die nach und nach die Zunge des Wirtsfisches vertilgt, um dann ihren Platz einzunehmen, indem sie sich mit den Beinen am Stumpf festkrallt. Und was soll man zum Sackkrebs sagen, der seinen Sadismus bekanntlich an der Strandkrabbe auslebt, indem er, neben anderen Misshandlungen, deren Geschlechtsorgane umfunktioniert. Antispeziesisten wissen ja gar nicht, wie recht sie haben, wenn sie behaupten, das Schlimmste spiele sich im Meer ab, auch wenn sie dabei nur an den Schaden denken, den die Schleppnetzfischerei anrichtet, aber vollkommen außer Acht lassen, was die Meerestiere sich gegenseitig antun. Und so kann Arkady sich noch so lang und breit über das beeindruckende Gehirn der Kopffüßer auslassen oder über die Solidarität unter Affen, mir ist das völlig schnuppe: Ich weiß nun mal Bescheid und werde auch künftig meinen Cheeseburger essen, im Gegensatz zu den Mitgliedern meiner erweiterten Familie und ohne dass sie es merken, da ich jeden Tag mit der ehrlichen Miene und dem matten Blick eines waschechten Vegetariers heimkomme – denn ich bin eine Schlange, was in unserem Eden einiges heißen will. Was soll’s. Ich stehe zu meinen Schandtaten, meinen Eidbrüchen und deren Verschleierung, wenn das die Voraussetzung sein soll für ein halbwegs friedliches Dasein an diesem Ort, den mein Umfeld beharrlich als Garten der Lüste betrachtet, und zwar aus purer Unfähigkeit heraus, die Seiten voller Mord und Blut zu lesen, die dort Tag für Tag geschrieben werden.

8.

Als ich hier ankam, teilte ich die irrationalen Ängste meiner Eltern, doch mit den Jahren haben meine eigenen die ihren verdrängt. Bald bin ich fünfzehn, mit irgendwelchen Weichmachern oder elektromagnetischen Strahlen kann man mir keinen Schrecken mehr einjagen. Es liegt mir fern, deren schädliche Wirkung abzustreiten, doch in Wahrheit beunruhigt mich das, was der Mensch dem Menschen antut, weitaus mehr als Umwelthormone und krebserregende Substanzen. Wenn man schon eine Todesursache braucht, wäre mir eine lange Krankheit lieber als die Kugel einer Kalaschnikow: Bei einer langen Krankheit hätte ich Zeit, die Dinge auf mich zukommen zu lassen, Zeit, mich an den Gedanken zu gewöhnen, Zeit, die Freunde auszuwählen, die ich um mich scharen, und den Ort, an dem ich den Tod erwarten würde – tief im Herzen meines Reichs kenne ich eine Schlucht, nein, keine richtige Schlucht, nur eine kleine Bodensenkung, mit weichem Gras ausgelegt und von einem Nussbaumwäldchen umschlossen, die sich dafür perfekt eignet. Vorausgesetzt, ich sterbe nicht vorher, von einer Maschinengewehrsalve oder der Explosion einer Apexbombe dahingerafft. So unwahrscheinlich ein gewaltsamer Tod in meinem Fall auch ist, denke ich unwillkürlich an ihn, sobald ich die Umfassungsmauer des Liberty House hinter mir lasse, die im Fall einer Invasion zwar nichts Abschreckendes an sich hätte, aber sehr anschaulich macht, was uns von all jenen trennt, die sich nicht für den Weg der Weisheit in sieben Stufen entschieden haben.

Was uns trennt, wird mir an jedem Werktag aufs Butterbrot geschmiert. Ich brauche nur in den Bus zu steigen, der die Schulkinder einsammelt, entlang eines Flusses, dessen Namen ich nicht nennen werde. Obwohl ich mich immer vorne hinsetze und meine Stirn an die Scheibe presse, heimse ich binnen einer halben Stunde so viele blöde oder beleidigende Bemerkungen ein, dass es für ein ganzes Leben reichen dürfte. Nicht, dass sich diese Bemerkungen gegen mich richten – gegen mich oder sonst jemanden. Sie werden geradezu mechanisch unter den Gymnasiasten gewechselt, und alles andere passt dazu: das Gegrinse, das Spucken, die Steppjacken mit den Kapuzen aus Webpelz, die Rucksäcke mit demselben schwarz-roten Logo, bei allen dieselbe Hässlichkeit, nur ich habe meine eigene. Es geht gar nicht darum, dass ich jeden Morgen aufs Neue von der Grobheit und Engstirnigkeit meiner Altersgenossen eingeholt werde: Wenn ich nur meine Schulzeit aushalten müsste, würde ich mich damit abfinden, vor allem, weil sie bald vorbei ist. Nein, mich beunruhigt, dass ich bei den Erwachsenen genauso wenig Güte spüre wie bei den Kindern – von den Jugendlichen gar nicht zu reden, denen Boshaftigkeit zur zweiten Natur wird. Außerhalb meiner kleinen geheimen Bruderschaft haben die Menschen keine Lust, gut zu sein, sie denken auch nicht daran, besser zu werden, nach Höherem zu streben, sich zu bilden. Mit ihrer krassen Ignoranz kommen sie sehr gut zurecht. Und wenn sie die Gelegenheit bekommen, auf mich zu schießen, werden sie es tun. Dafür braucht es keinen Grund: Wahnsinn reicht. In der Außenwelt heißt es alle gegen alle und jeder für sich – nein, nicht einmal das: Jeder tötet zunächst sein Inneres ab, denn man muss gestorben sein, ehe man in den Krieg zieht.

Letztlich hat mich meine Erziehung weder darauf vorbereitet, Gewalt zu verstehen, noch darauf, sie zu erleiden – und erst recht nicht, sie anzuwenden. Um sich auf dem Gebiet der Barbarei auszukennen, genügt es nicht zu beobachten, wie Katzen Mäuse umbringen, oder regelmäßig mit dem Schulbus zu fahren, und das Problem mit den Menschen in meinem Umfeld, angefangen bei meinen Eltern, besteht darin, dass ihre Güte sie zu Schwächlingen macht. Im Fall eines Angriffs wären sie unfähig, sich wirksam zur Wehr zu setzen. Ein Glück, dass das Haus so schwer zugänglich ist. Da nur eine einzige Straße dorthin führt, werden wir den Feind schon von Weitem kommen sehen – so haben wir wenigstens Zeit, uns zu verschanzen, wenn wir schon nicht zu den Waffen greifen. Und dann komme, was wolle. Im Keller ist genug Proviant vorrätig, um einer mehrmonatigen Belagerung standzuhalten, und bekanntlich zeichnen sich Terroristen nicht gerade durch Geduld aus.

Angst und Schrecken halten mich jedoch nicht davon ab, mich in die nächstgelegene Stadt zu wagen, deren Namen ich ebenfalls nicht nennen werde. Man sollte nur wissen, dass es sich um eine grenzüberschreitende Kommune von überschaubarer Größe handelt, wo so viele Straßen, Läden und Cafés mit gut besuchten Terrassen zu finden sind, dass eine Fünfzehnjährige sich darin verlieren kann, und zwar genüsslich verlieren, von Passanten gestreift, aus denen Freunde werden könnten. Offenbar habe ich den Glauben an die Menschheit nicht vollends verloren, da ich auf ein Wunder hoffe, das mir unter allen Gesichtern ein bestimmtes zu erkennen geben wird, auf eine lichte Stelle in der dunklen Masse, auf einen unbekannten Freund, den ich als Erinnerung in mein schwebendes Schloss tragen werde. Denn das kommt erschwerend hinzu: Weil mir ständig die Lehre leidenschaftlicher Liebe eingetrichtert wird, weil ich ständig die Glutsprache des Begehrens zu hören bekomme, denke ich nur noch daran. Deswegen suche ich trotz meiner panischen Angst vor Überfällen und Anschlägen unter den Lichtern der Stadt weiterhin nach der verwandten Seele, selbst wenn ich schnurstracks in die Geborgenheit meiner Dachkammer zurückeile, selbst wenn ich zu meiner geheimen Senke renne, um mich dort einzuigeln, oder zur Gabelung eines Nussbaums, selbst wenn ich meinen Vater in seinem nach Freesien duftenden Treibhaus aufsuche, wo mir nichts passieren kann. Dabei will ich doch unbedingt, dass mir etwas passiert, und darüber hinaus weiß ich nicht mehr, ob ich mir die Zuneigung meiner Angehörigen wünschen soll, die vom Blumenhauch beschlagenen Glasscheiben, das italienische Gurren von Fiorentina in ihrer Küche, das groteske, aber harmlose Watscheln von Victor, die erstarrten Harztropfen am Stamm meiner Pinien, den betörenden Duft des Sommers, den blauen Himmelsfleck inmitten metallgrauer Gewitterwolken, das Klingeling unsichtbarer Herden, die Katze, die mir hartnäckig auf meinen Geheimpfaden folgt – meine Zone, die es gegen alles und jeden zu verteidigen gilt, auch und zuerst gegen mein Verlangen, auf Abwegen zu wandeln. Denn mir ist durchaus bewusst, dass ich das Liberty House mit diesen unvermeidbaren jugendlichen Impulsen von innen her bedrohe.

Ich bin fünfzehn und ich will nicht sterben, klar, jedenfalls nicht in einem Kugelhagel oder unter den Trümmern eines zerbombten Flughafens. Ich will aber auch nicht vollständig und für alle Zeiten verschont bleiben, oder anders gesagt: Ich bin fünfzehn und ich will gern sterben, aber nicht, bevor ich geliebt wurde, nicht, bevor ein Daumen meinen Wangenknochen berührt hat. Eine sehr merkwürdige Formulierung, ja, ich weiß, man muss es gesehen haben, um es zu verstehen, muss gesehen haben, wie Arkady mit einem ebenso zärtlichen wie bohrenden Daumen Victors Gesicht streichelt, um zu verstehen, warum es wahr ist, ja, die Liebe siegt über alles, und warum ich es laut und deutlich sagen kann, ich habe diesen Sieg ja miterlebt, diese Rettung in letzter Minute von allem, was drohte zu versinken, verlorenzugehen, Schaden zu nehmen. Jetzt wird es aber Zeit für mich, gerettet zu werden und gewisse Versprechen erfüllt zu sehen.

»Nächste Woche werde ich fünfzehn. Weißt du noch, was du zu mir gesagt hast?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn ich fünfzehn bin, wirst du mit mir schlafen.«

»Habe ich das wirklich gesagt?«

 

»Ja.«

»Hast du deine Regel?«

»Was bist du denn so auf meine Regel fixiert? Nein, habe ich nicht, na und?«

»Du bist sehr süß, Farah Facette, aber ich würde lieber mit einer richtigen Frau schlafen.«

»Aber du hast doch gesagt, wir brauchen nur zu warten, bis ich sexualmündig bin!«

»Das ist sicher besser, aber so lange du körperlich noch ein Kind bist, hilft das auch nicht weiter.«

»Brüste habe ich aber schon, guck mal!«

Eigentlich brauche ich ihm gar nichts zu zeigen, weil er oft genug Gelegenheit hat, mich unbekleidet zu sehen: Wir haben nur Gemeinschaftsduschen, und die Hausordnung schreibt allen Nudismus vor. Doch zwischen jenen, die sich wie meine LGBT-Großmutter bei jedem Wetter nackt zeigen, und denen, die wie Fiorentina sogar im Hochsommer Seidenstrumpfhosen tragen, sind in unserer Gemeinschaft alle möglichen Varianten vertreten. Ich laufe selbst in Shorts oder Höschen herum, sobald es warm genug ist, ohne meine magere Brust zu bedecken. Ich lasse sie – bleiche Kugeln und blasslila Warzen – nur zu gern von der Sonne bescheinen, damit sie ihre hässliche Winterfärbung verliert.

»Und auch Schamhaar!«

Arkady wirft einen skeptischen Blick auf den Bund meiner Pyjamahose, verzichtet jedoch auf eine Überprüfung. Da entgeht ihm was. Schamhaar ist das Üppigste, was ich zu bieten habe.

»Fünfzehn und immer noch keine Regel, da sollten wir vielleicht einen Arzt fragen. Wobei ich mich mit der Pubertät von Mädchen nicht so gut auskenne … Wie ist es bei den Mädchen in deiner Klasse?«

Die Mädchen in meiner Klasse sind schon lange keine Mädchen mehr. Alle haben schon seit der Siebten richtige Brüste und regelmäßige Blutungen. Ich bin die einzige, deren Körper noch zögert. Wir einigen uns darauf, dass Arkady mich bald zu einem Frauenarzt begleitet, aber das löst mein Problem nicht, schließlich geht es mir darum, die Liebe zu finden. Stimmt ja gar nicht, wenn man’s genau betrachtet, die Liebe steht mir ja gegenüber, in einem dreifarbigen Trainingsanzug, der wen auch immer verunstalten würde, nur ihn nicht – ihn, den Äußerlichkeiten nach eigenem Bekunden im Allgemeinen kalt lassen und Kleidervorschriften ganz besonders. Arkady, du meine Liebe … Alles wäre so viel einfacher, wenn du meiner keimenden Weiblichkeit Tribut zollen könntest, anstatt mir Surrogate anzubieten:

»Warum nimmst du dir dafür nicht Nello? Der ist doch süß, dieser Nello.«

Nello, beziehungsweise Daniel, ist nicht übel, aber er gibt sich nicht die geringste Mühe, begehrenswert zu erscheinen, und läuft immer so rum, als würde er tausend Tode sterben. Bevor ich mit ihm was auch immer ausprobiere, müsste ich ihm diesen leidenden Blick austreiben.

»Oder Salo. Wie wär’s mit Salo?«

Salo ist unser Bipolarer, darum weiß ich nicht so recht, wie ich Arkadys Vorschlag aufnehmen soll. Habe ich Lust auf einen Mann mit fixer Idee? Denn das ist Salo nun mal: Er hat seine Marotten und kann sich stundenlang über etwas auslassen, ohne den sichtlichen Überdruss oder die Ausweichmanöver seines Gegenübers zur Kenntnis zu nehmen. Ohnehin scheint sein Bewusstsein für die Existenz anderer Menschen nur sehr schwach ausgeprägt zu sein. Natürlich ist das auch bei vielen vollkommen zurechnungsfähigen Leuten der Fall, dennoch wünsche ich mir, dass mein erster Liebhaber sich zur Abwechslung mal ein wenig auf mich konzentriert. Nichts gegen das Gemeinschaftsleben oder die kollektive Liebe, aber ich hätte es gern etwas exklusiver. Dabei ist die Liebe im Liberty House diffus und unbestimmt: Jeder bekommt seinen Teil und alle verfügen über das Ganze – was mir in der Theorie mehr zusagt als in der Praxis. Seit ich hier angekommen bin, teile ich alles mit allen: die Duschen, die Mahlzeiten, die Haushaltspflichten, die Abende am Kaminfeuer oder die Sonnengrüße. Selbst meine Eltern gehören mir nicht mehr, und manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich verdattert anblicken, als wären sie derart mit ihrer eigenen Existenz beschäftigt, dass sie meine vollkommen vergessen hätten. Ihre elterliche Sorge haben sie ganz und gar Arkady übertragen, wie sie sich im Übrigen aller Lasten entledigt haben, aller Verpflichtungen und Zwänge eines Erwachsenenlebens. Treffe ich sie zufällig im Flur oder im Gemüsegarten, reagieren sie recht gnädig auf meine Liebkosungen, die an einen hechelnden Welpen erinnern, wirken zugleich aber auch immer leicht erstaunt, als fragten sie sich, was ihnen diese Zärtlichkeitsbekundungen eingetragen hatte.

Da ist es kein Wunder, dass ich zumindest bei einem Menschen leidenschaftlichere Gefühle und eine stärkere Hingabe als die laue Zuneigung wecken möchte, die mir die Mitglieder unserer Bruderschaft entgegenbringen, Eltern und Lehrmeister eingeschlossen. Ich würde es sehr gern über Dating-Portale versuchen, aber die multimediale Bibliothek an meiner Schule sperrt diese Internetseiten, als wäre es völlig ausgeschlossen, dass Jugendliche nach der Liebe suchen. Wenn Arkady mich also auch künftig verschmäht, habe ich nur dann eine Chance, auf einen Partner zu stoßen, der meinen Ansprüchen genügt, wenn ich weiterhin durch die Straßen der Stadt streife, diese Straßen, die im Regen blinken, als wollten sie mich vor der Verzweiflung bewahren und sagen: Nur Geduld, die Liebe wird kommen.

9.

Da manche Zusagen leichter einzuhalten sind als andere, bringt mich Arkady wie versprochen zum Frauenarzt. Sollte er aber glauben, mich deswegen nicht mehr entjungfern zu müssen, täuscht er sich gewaltig – so leicht kommt er mir nicht davon. Der Frauenarzt heißt Madame Tourteau, und ich ahne zwar, dass in diesem Namen eine geheime Anspielung auf deren Fachgebiet steckt, bin jedoch viel zu gestresst, um zu erraten, was ein Taschenkrebs mit Gynäkologie zu tun hat. Ohne genau zu wissen, was mich erwartet, fürchte ich mich vor der Untersuchung meiner Geschlechtsorgane und dem Durchkneten meiner unterentwickelten Brustdrüse. Meine Angst erweist sich als unbegründet, denn Madame Tourteau ist reizend und zeigt sich kein bisschen überrascht, dass ich von meinem geistigen Führer begleitet werde. Der gibt sich allerdings als mein Vater aus und wedelt mit dessen elektronischer Gesundheitskarte vor der Nase der netten Ärztin herum.

»Und was führt dich hierher, Farah?«

»Na ja, ich hab meine Regel nicht.«

»Aha. Seit wann?«

»Wie, seit wann?«

Sie sieht mich ebenso müde wie geduldig an:

»Deine Regel. Wie lange hast du sie schon nicht mehr? Du hast wohl Angst, schwanger zu sein?«

»Das ganz sicher nicht: Ich bin Jungfrau!«

Unwillkürlich blicke ich aus dem Augenwinkel zu Arkady, um mich zu vergewissern, wie diese Mitteilung auf ihn wirkt, aber er behält seinen väterlich zufriedenen Blick bei, während Madame Tourteau ihre Sonntagsrede über die Unregelmäßigkeiten des Menstruationszyklus bei sehr jungen Mädchen hält:

»Es besteht wirklich kein Anlass zur Sorge. Erst recht nicht, wenn du noch keinen Geschlechtsverkehr hattest.«

Jetzt blickt sie Arkady aus dem Augenwinkel an. Vermutlich fragt sie sich, inwiefern ich im Beisein meines Vaters die Wahrheit sagen kann. Dieser legt eine schützende Hand auf mein Schlüsselbein und beeilt sich, das Missverständnis aufzuklären:

»Farah hat noch nie ihre Regel gehabt. Kein einziges Mal. Darum sind wir hier. Normalerweise ist es mit fünfzehn …«

Madame Tourteau macht sich schwungvoll daran, uns zu beruhigen:

»In Frankreich beträgt das Durchschnittsalter für die erste Regelblutung zwölfeinhalb Jahre! Das heißt, manche Mädchen bekommen sie mit acht und andere mit sechzehn. So ist das nun mal.«

»Ja, aber die Mädchen in meiner Klasse …«

»Tss, tss, ich werde dich trotzdem untersuchen, aber ich beharre darauf: Es ist durchaus nicht unnormal, mit fünfzehn noch keine Regel zu haben. Zieh dich aus. Soll dein Papa so lange rausgehen?«

Auf keinen Fall will ich mit Madame Tourteau allein sein. Sie macht zwar einen netten Eindruck, aber man weiß ja nie, genauer, man weiß nur allzu gut Bescheid. Ich für meinen Teil weiß aus Erfahrung, dass ich bei anderen das Schlimmste zu wecken vermag, sadistische Triebe und wahnhafte Anfälle. Papa soll bleiben.

Mit den Füßen in den Steigbügeln erdulde ich stumm, dass Madame Tourteau ein Metallobjekt in meine Scheide einführt und schonungslos, wenn auch mit nachlassendem Eifer darin herumwühlt. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit, doch irgendwann zieht sie ihr Folterwerkzeug wieder raus und wirft die gepuderten Latexhandschuhe beiseite.

Arkady hüstelt höflich:

»Ob das ratsam ist, so ein Spekulum bei einer Jungfrau?«

Sie blickt ihn entrüstet an und entgegnet:

»Monsieur, um die Vagina und den Gebärmutterhals zu untersuchen, hat man bis dato nichts Besseres gefunden als das Spekulum. Mit dem man überdies alle möglichen Proben entnehmen kann. Im Fall Ihrer Tochter ist das allerdings …« Sie hält inne, damit er sich selbst ausmalen kann, warum der Fall seiner Tochter so viel heikler ist als das Gros ihrer gynäkologischen Praxis.

»Ich werde eine Echografie vornehmen. Wissen Sie, was das ist?«

Ich stelle fest, dass sich mittlerweile alles zwischen Arkady und Madame Tourteau abspielt, als läge ich nicht mitten im Raum auf dem Rücken, so nackt wie am Tag meiner Geburt. Offenbar kennt sich Arkady mit bildgebenden Verfahren in der Medizin bestens aus, keine Ahnung, wie er dazu kommt, sodass er mit der Ärztin über Wellen, Ultraschall und Piezoeffekt plaudert, während sie ihre Sonde über meinen gelverklebten Bauch führt und bläulich pulsierende Bilder uns ihr rätselhaftes Signal senden. Fast rechne ich damit, dass auf dem Bildschirm ein Fötus in 3D erscheint, doch nichts erscheint, natürlich nicht. Es vergeht Zeit. Madame Tourteau scheint immer mehr Aufnahmen zu machen und Maße zu nehmen, wobei sie die Abzüge mit gestrichelten Linien versieht, die genauso mysteriös anmuten wie alles andere, wie diese Lichttrichter, in denen dunkle, kaum konturierte Gebilde treiben.

»Gut …«

Offensichtlich ist es alles andere als gut, trotzdem wische ich mir den Bauch ab und ziehe mich rasch wieder an, damit die Diagnose mich nicht in hilfloser Rückenlage erwischt. Die Mühe hätte ich mir auch sparen können, da die Ärztin mich keines Blickes würdigt: Wenn sie nicht gerade ihre Aufnahmen durchsieht, fingert sie an ihrem Montblanc herum oder wendet sich an Arkady, wobei sie aus lauter Verlegenheit jeweils beim Satzanfang hängenbleibt:

»Das ist recht eigenartig, denn normalerweise … Ich mag mich ja … Und trotzdem sollte man annehmen … Tja, mal sehen, ob … Wir werden also …«

Auch Satzanfänge nehmen mal ein Ende, sodass ihr die rhetorischen Vorsichtsfloskeln ausgehen und sie mit ihrem Kugelschreiber in meine Richtung deutet:

»Allem Anschein nach hat Farah keine Gebärmutter. Und auch keine richtige Vagina.«

Niemand weiß besser als ich, dass ich eine habe, sie selbst hat ihre Nase und ihr Spekulum gute zehn Minuten lang reingesteckt, was soll also dieser Zirkus?

»Das heißt, sie hat nur eine drei Zentimeter große cupula. Grob gesagt fehlen ihr die zwei oberen Drittel der Vagina. Meiner Ansicht nach haben wir es hier mit dem MRKHS zu tun, dem Küster-Hauser-Syndrom, wenn Ihnen diese Bezeichnung lieber ist.«

Mir ist gar nichts lieber, und die Bezeichnungen sind mir schnurz. Ich will nur meine Gebärmutter wiederhaben und auch die zwei fehlenden Drittel meiner Vagina. Man wird mir nämlich nicht ausreden können, dass ich sie vor meinem Eintreten in die Praxis von Madame Tourteau noch hatte, zumindest lebte ich in dieser Vorstellung, was aufs Gleiche hinausläuft, wenn man bedenkt, wie wenig ein fünfzehnjähriges Mädchen von beidem Gebrauch macht. Natürlich hatte ich schon mal den Finger in meine Scheidenhöhle gesteckt und festgestellt, dass es dort nicht viel zu erkunden gab, weil ich aber keine Ahnung hatte, wie sie bei anderen beschaffen war, hielt ich mich einfach an die klitorale Befriedigung.

Inzwischen ist Madame Tourteau nicht mehr zu bremsen. Von ihrer Diagnose berauscht, erzählt sie uns jetzt voller Überschwang von den Fehlbildungen, die mit meiner utero-vaginalen Aplasie einhergehen.

»Hören Sie gut?«

»Äh … ja.«

»Sind Sie sich da wirklich sicher? Und was ist mit Ihrem Rücken? Keine Beschwerden? Keine Verkrümmung der Wirbelsäule? Keine Skoliose?«

»Ich habe eine Hyperkyphose.«

»Da haben wir’s! Das passt ins Bild! MRKHS-Patientinnen haben oft Probleme mit dem Knochenwachstum. Ihre Nieren sollte man auch überprüfen, am besten durch eine Magnetresonanztomografie

 

»Wann bekomme ich denn meine Regel?«

»Niemals. Ihre Eierstöcke wirken zwar funktionstüchtig, aber Sie werden keine Regel haben.«

Arkady wacht allmählich aus der Benommenheit auf, die ihn befallen hatte, als er von meiner seltenen Krankheit erfuhr – offenkundig ist sie so selten, dass Madame Tourteau zum ersten Mal eine solche Patientin in ihrer heimeligen Praxis empfängt, die sich bisher Verhütungsmethoden, Schwangerschaftsbegleitungen und Hormonersatztherapien widmete, möglicherweise auch dem einen oder anderen Fall von Brustkrebs, wenn überhaupt.

»Wird sie Kinder haben können?«

»Ohne Gebärmutter und ohne Gebärmutterhals? Unmöglich. Es wäre ja schon ein Glück, wenn sie Geschlechtsverkehr haben kann!«

»Wieso?«

»Ihre Tochter kann nicht penetriert werden. Bei einer Vagina von drei Zentimetern, wo denken Sie hin!«

An diesem Punkt scheint ihr endlich aufzugehen, wie grausam ihre Aussagen sind, sie wird rot und will uns nur noch schleunigst loswerden, kritzelt in Windeseile Briefe an andere Ärzte, die in Sachen MRKHS-Syndrom versierter sind als sie, und wirft mit Beschwichtigungen um sich:

»Man kann wunderbar ohne Gebärmutter leben. Und die Regel ist vor allem eine Unannehmlichkeit. Manche meiner Patientinnen würden alles darum geben, sie nicht mehr zu haben.«

Als sie uns – mit allerlei Überweisungsscheinen und Rezepten versehen – zur Tür bringt, wird sie von ihrem Diagnosedämon eingeholt und greift mit inquisitorischer Hand nach meinem Kiefer, um ihn ins Licht zu halten.

»Was mir allerdings zu denken gibt, ist dieser Hirsutismus. Normalerweise haben MRKHS-Patientinnen einen weiblichen Phänotyp. Ihr Äußeres ist normal, mit Brüsten und schwacher Behaarung, in der Schamgegend, unter den Achseln – mehr nicht. Farah scheint jedoch einen Schnurrbart zu bekommen …«

Arkady schiebt mich eilends hinaus, bevor Madame Tourteau uns schlankweg erklärt, dass ich dabei bin, von innen wie von außen zu vermännlichen, doch das Unheil ist bereits angerichtet und so schleichen wir bedrückt zurück zum Auto.

»Sollen wir noch eine Runde drehen? Magst du zum Hafen?«

Im Gegensatz zu meinen Eltern, die nicht das Geringste von meinem Leben außerhalb des Liberty House ahnen, weiß Arkady über meine städtischen Eskapaden bestens Bescheid.

»Nein. Ich will nach Hause.«

»Komm schon, Farah, wir gehen was trinken. Bei den Sablettes gibt es ein tolles Café. Ich kenne die Kellnerin, außerdem haben sie dort einen unglaublich guten Prosecco. Du wirst begeistert sein.«

Ich bezweifle nicht, dass er die Kellnerin dieses Cafés kennt und noch viele andere, dank seiner Neigung, allerorten mit aller Welt ins Gespräch zu kommen, aber ich habe keine Lust, meinen Kummer im Spumante zu ertränken, und wäre er noch so hervorragend. Nein, meinen Kummer möchte ich durchleiden, ich möchte ihn gründlich unter die Lupe nehmen, ehe ich ihn in die Knie zwinge. Nur dass Arkady anderes im Sinn hat.

»Wir gehen da jetzt hin.«

Pech gehabt, es ist Anfang Dezember und sein tolles Café in der Nachsaison geschlossen, wie alle Cafés entlang des Strandes. Wir treten wie zwei Deppen auf den Sand ein und lassen uns von der trostlosen Atmosphäre um uns herum durchdringen.

»Ist doch egal, dass du keine Gebärmutter hast, Farah. Ich habe schließlich auch keine.«

»Ja, aber du bist ein Mann. Während ich mich immer für ein Mädchen gehalten habe. Bis heute jedenfalls.«

»Bist du ja auch!«

»Bin ich nicht! Ich habe weder Gebärmutter noch Vagina.«

»Das ist doch alles Quatsch. Sieh dir mal Daniel an.«

»Was ist mit Daniel?«

»Er hat weder Behaarung noch Adamsapfel und ist trotzdem ein Junge!«

»Entschuldige mal, Daniel ist ein ganz schlechtes Beispiel!«

»Warum?«

»Weil er genauso ist wie ich: weder Junge noch Mädchen!«

Wir setzen uns auf einen Wall aus feuchtem Sand, gegenüber einem grauen, reizlosen, aufgebrachten Meer – meilenweit entfernt von dem, wie es sein kann, wenn die Sonne es zum Spiegel ihrer Pracht kürt.

»Wo liegt denn der Unterschied, ob du nun eine Gebärmutter hast oder nicht?«

»Ich hab auch keine Vagina.«

»Gehen wir die Probleme einzeln durch. Wozu überhaupt braucht man eine Gebärmutter?«

Ich weiß nicht mehr, welcher Idiot Gesundheit als das Schweigen der Organe definiert hat, doch eins steht für mich fest: Gesundheit ist in erster Linie das Vorhandensein dieser Organe, seien sie noch so laut und schmerzanfällig. Mir fehlt die Gebärmutter, ich leide am Küster-Hauser-Syndrom. So. Das ist meine Krankheit. Sie mag selten sein, mich aber macht sie voll und ganz aus. Während ich vom Leder ziehe, hört mir Arkady mit großen Augen zu.

»Ist das wirklich dein Ernst?«

»Mein voller Ernst. Siehst du, wie recht du hattest, als du meintest, meine Eltern hätten mich verpfuscht? Bei meiner Embryogenese ist was schiefgelaufen.«

»Es läuft doch immer irgendwas schief. Bei der Embryogenese oder sonst danach.«

»Aber ich habe nun mal keine Gebärmutter. Und die braucht man, um Kinder zu kriegen, da hast du die Antwort auf deine Frage.«

»Du bist fünfzehn! Du willst Kinder? Du bist selbst noch ein Kind!«

»Jetzt will ich keins, aber was, wenn ich später eins will?«

»Dann lässt du dir eine Gebärmutter implantieren. Deine Mutter kann dir ja ihre überlassen, sie braucht sie nicht mehr.«

»Und was ist mit meiner Vagina?«

»Die braucht auch kein Mensch!«

»Das sagst du!«

»Eben, und ich spreche aus Erfahrung: Sexualität beschränkt sich bekanntlich nicht auf den Vaginalverkehr.«

»Hast du nicht gehört, was Madame Tourteau gesagt hat, Arkady? Ich habe eine cupula! Cupula

»Wie nennst du sie?«

»Cupula.«

»Nein, die Gyn!«

»Madame Tourteau?«

»Madame Toretto, nicht Tourteau, mein Gott. Weißt du überhaupt, was das ist? Apropos Taschenkrebs, wie wär’s mit ’nem Teller Meeresfrüchte am Hafen?«

»Du bist doch Vegetarier, oder?«

»Klar, doch um dich aufzuheitern, würde ich so viele Taschenkrebse, Strandschnecken und Garnelen kaltmachen wie nötig.«

Ich weiß zu schätzen, dass er sich redlich um einen Themenwechsel bemüht; und auch, dass er bereit ist, gegen sämtliche Speisegebote zu verstoßen, die er unserer kleinen Gemeinschaft höchstpersönlich verkündet hat, dennoch finde ich, meine anatomischen Fehlbildungen verdienten etwas mehr Aufmerksamkeit.

»Weißt du überhaupt, was eine Cupula ist? Ich kenne nur eine, und zwar die der Eicheln. Ist dir klar, wie die aussieht, die Eichelcupula?«

Er weiß es natürlich, schließlich hat er mir gezeigt, wie man aus ihnen Pfeifen macht, während er mir zugleich das Wort und die Technik beigebracht hat: Man bildet eine Faust, platziert die Cupula zwischen Zeige- und Mittelfinger und bläst. Das erzeugt einen schrillen machtvollen Ton, der sämtliche Tiere des Waldes zu wecken vermag und im Notfall sehr hilfreich ist. Den Notfall kann ich auch von seinem Gesicht ablesen, während ich wütend aufzähle, was mir aufgrund meiner utero-vaginalen Aplasie alles entgehen wird: »Wie eine Sexbombe sehe ich sowieso nicht aus, was werden die Kerle erst für eine Fresse ziehen, wenn sie merken, dass sie mich nicht mal penetrieren können? Und selbst wenn ich einen finde, der sich davon nicht abschrecken lässt, und es zwischen uns was Ernstes wird, was soll ich ihm dann sagen? Wenn du ein Kind willst, mein Schatz, musst du dir eine andere suchen, denn ich werde niemals schwanger werden, selbst wenn du dich stundenlang in meiner Cupula abmühst. Wenn ich es nämlich richtig verstanden habe, ist meine Vagina nicht nur drei Zentimeter klein, sondern auch noch eine Art Sackgasse, oder? Ich fass es einfach nicht!«

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