Ein feines Haus

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Aus der Reihe: Die Rougon-Macquart #10
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»Warum denn?« fragte Pichon verdutzt.

»Weil es gut ist für die Frauen. Das macht sie nett.«

»Ach, meinen Sie?«

Er versprach, daran zu denken, er überquerte die Straße, wobei er schreckerfüllt nach den Droschken ausspähte, da ihn im Leben allein die quälende Angst vor Dreckspritzern plagte.

Zum Mittagessen klopfte Octave bei den Pichons, um das Buch wieder abzuholen. Marie las, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, beide Hände tief in das ungekämmte Haar vergraben. Soeben hatte sie, ohne erst ein Tischtuch aufzulegen, ein Ei aus einem Blechteller gegessen, der inmitten des Durcheinanders eines hastig gedeckten Tisches herumstand. Auf dem Boden schlief Lilitte, war dort vergessen worden und lag mit der Nase auf den Scherben eines Tellers, den sie sicher zerschlagen hatte.

»Nun?« fragte Octave.

Marie antwortete nicht sogleich. Sie hatte ihren Morgenrock anbehalten, dessen Knöpfe abgerissen waren, so daß ihr Hals zu sehen war, sah unordentlich aus wie eine Frau, die eben aufgestanden ist.

»Ich habe kaum hundert Seiten gelesen«, sagte sie schließlich. »Meine Eltern sind gestern gekommen.« Und sie sprach mühsam mit einem bitteren Geschmack im Mund: Als sie noch jung war, hätte sie gern tief in den Wäldern gewohnt. Immerzu hatte sie davon geträumt, sie träfe einen Jäger, der in sein Horn stieß. Er war näher gekommen und vor ihr in die Knie gesunken. Das war in einem Dickicht geschehen, in weiter Ferne, wo Rosen blühten wie in einem Park. Darauf waren sie mit einem Mal miteinander vermählt gewesen, und dann hatten sie ewig lustwandelnd dort gelebt. Sie war sehr glücklich gewesen und hatte sich nichts weiter gewünscht. Mit der Zärtlichkeit und Ergebenheit eines Sklaven hatte er ihr zu Füßen gelegen.

»Heute morgen habe ich mit Ihrem Mann gesprochen«, sagte Octave. »Sie gehen nicht genug aus, und ich habe ihn bewogen, Sie ins Theater zu führen.«

Aber sie schüttelte den Kopf, ein Schauer ließ sie erblassen. Es trat Schweigen ein. Sie fand sich in dem engen Eßzimmer mit seinem kalten Tageslicht wieder. Das Bild des mürrischen und korrekten Jules hatte jäh seinen Schatten auf den Jäger aus den Liedern, die sie sang, geworfen, auf den Jäger, dessen fernes Horn stets in ihren Ohren ertönte. Zuweilen horchte sie: vielleicht kam er. Ihr Mann hatte niemals ihre Füße in seine Hände genommen, um sie zu küssen; auch war er niemals niedergekniet, um ihr zu sagen, daß er sie anbete. Jedoch liebte sie ihn sehr; aber sie wunderte sich, daß die Liebe nicht mehr Süße in sich barg.

»Sehen Sie, mir benimmt es den Atem«, sagte sie, auf das Buch zurückkommend, »wenn in den Romanen Stellen vorkommen, wo die Leute einander Liebeserklärungen machen.«

Zum ersten Mal hatte sich Octave hingesetzt. Er hätte beinahe gelacht, da er gefühlsseligen Liebeleien wenig Geschmack abgewinnen konnte.

»Ich«, sagte er, »ich verabscheue leere Redensarten ... Wenn man füreinander schwärmt, ist es am besten, sich das sofort zu beweisen.«

Aber sie schien nicht zu begreifen, ihr Blick war klar.

Er streckte die Hand aus, streifte ihre Hand, beugte sich, um sich eine Stelle im Buch anzusehen, so weit zu ihr hinüber, daß sein Atem ihr durch den auseinanderklaffenden Morgenrock die Schulter wärmte, und ihr Fleisch blieb tot. Da stand er auf, von einer Geringschätzung erfüllt, in der auch etwas Mitleid lag.

Als er aufbrach, sagte sie noch: »Ich lese sehr langsam, vor morgen werde ich nicht fertig sein ... Morgen wirdʼs aber Spaß machen! Kommen Sie abends herein.«

Gewiß, er hatte nichts weiter mit ihr im Sinne, und dennoch war er in Aufruhr versetzt. In ihm entstand eine seltsame Freundschaft für dieses junge Ehepaar, das ihn aufbrachte, so blödsinnig kam es ihm dem Leben gegenüber vor. Und in ihm reifte der Gedanke, den beiden gegen ihren Willen gefällig zu sein: er würde sie zum Abendessen mitnehmen, würde sie betrunken machen, würde seinen Spaß daran haben, wenn sie sich einander an den Hals hängten. Wenn ihn diese Anwandlungen von Güte überkamen, dann warf er – der sonst keine zehn Francs verliehen hätte – das Geld leidenschaftlich gern zum Fenster hinaus, um zwei Verliebte aneinanderzuketten und ihnen Glück zu schenken.

Im übrigen brachte die Kälte der kleinen Frau Pichon Octave wieder auf die feurige Valérie zurück. Die würde sich bestimmt nicht zweimal über den Nacken blasen lassen. Er machte Fortschritte in ihren Gunstbezeigungen: als sie eines Tages vor ihm die Treppe hinaufstieg, hatte er ein Kompliment über ihr Bein gewagt, ohne daß sie böse zu sein schien.

Endlich bot sich die Gelegenheit, auf die er so lange gelauert. Es war an dem Abend, an dem er eigentlich zu Marie gehen wollte, wie er es ihr versprochen hatte: sie würden allein sein, könnten über den Roman plaudern, ihr Mann sollte erst sehr spät heimkommen. Aber von Entsetzen bei dem Gedanken an diesen literarischen Schmaus gepackt, war der junge Mann lieber ausgegangen. Dennoch wagte er sich gegen zehn Uhr hin, da traf er auf dem Treppenflur des ersten Stocks Valéries Dienstmädchen, das mit verstörter Miene zu ihm sagte:

»Madame hat einen Nervenanfall, der gnädige Herr ist nicht da, die Leute gegenüber sind alle im Theater ... Kommen Sie, ich flehe Sie an. Ich bin allein, ich weiß nicht, was ich machen soll.«

Valérie lag mit starren Gliedern ausgestreckt in einem Sessel ihres Schlafzimmers. Das Dienstmädchen hatte ihr das Korsett aufgeschnürt, aus dem der Busen hervorquoll. Übrigens ließ der Anfall fast sofort nach. Sie schlug die Augen auf, wunderte sich, daß sie Octave erblickte, benahm sich im übrigen wie in Gegenwart eines Arztes.

»Ich bitte Sie um Verzeihung, mein Herr«, murmelte sie mit noch immer erstickter Stimme. »Das Mädchen ist erst seit gestern bei mir, und sie hat den Kopf verloren.«

Die vollkommene Ruhe, mit der sie ihr Korsett ablegte und ihr Kleid wieder zunestelte, setzte den jungen Mann in Verlegenheit. Er blieb stehen, schwor sich, nicht so fortzugehen, wagte jedoch nicht, sich zu setzen. Das Dienstmädchen, dessen Anblick sie zu reizen schien, hatte sie hinausgeschickt; dann war sie zum Fenster gegangen, um die von draußen eindringende kalte Luft tief einzuatmen, wobei sie den Mund in langem nervösem Gähnen weit aufriß.

Nach einem Schweigen begannen sie beide zu plaudern.

Das habe sie mit ungefähr vierzehn Jahren bekommen, Doktor Juillerat sei es müde, an ihr herumzudoktern; bald habe sie es in den Armen, bald im Kreuz. Kurzum, sie gewöhne sich daran; das sei schließlich egal, wo doch bestimmt niemand ganz gesund sei.

Und während sie sprach und ihre Glieder schlaff waren, geriet er bei ihrem Anblick in Erregung, sie wirkte herausfordernd auf ihn mit ihrem unordentlichen Aufzug, mit ihrem bleifarbenen Teint, ihrem Gesicht, das von dem Anfall verzerrt war wie von einer langen Liebesnacht. Hinter der schwarzen Woge ihres aufgelösten Haars, das ihr auf die Schultern herabfloß, glaubte er den armseligen und bartlosen Kopf des Ehemanns zu sehen. Da streckte er die Hände aus und wollte sie mit der brutalen Gebärde, mit der er eine Dirne gepackt hätte, nehmen.

»Nanu, was denn?« sagte sie mit höchst überraschter Stimme. Nun betrachtete sie ihn ihrerseits mit so kalten Augen und ohne jede Erregung, daß er sich zu Eis erstarrt fühlte und seine Hände mit linkischer Langsamkeit wieder sinken ließ, weil er einsah, wie lächerlich seine Gebärde war. Dann setzte sie mit einem letzten nervösen Gähnen, das sie im Keime erstickte, langsam hinzu: »Ach, lieber Herr, wenn Sie wüßten!« Und ohne böse zu werden, zuckte sie die Achseln, war gleichsam zermalmt von dem Gefühl der Verachtung und des Überdrusses für den Mann.

Als Octave sah, wie sie, ihre nur lose zugebundenen Röcke nachschleifend, auf einen Klingelzug zuging, glaubte er, sie entschließe sich, ihn hinauswerfen zu lassen.

Aber sie verlangte bloß Tee; und sie bestellte ihn sehr leicht und sehr heiß.

Völlig aus der Fassung gebracht, stotterte er herum, entschuldigte sich, gelangte zur Tür, während sie sich erneut tief in ihren Sessel ausstreckte mit der Miene einer fröstelnden Frau, die ein heftiges Schlafbedürfnis verspürt.

Auf der Treppe blieb Octave bei jedem Stockwerk stehen. Also liebte sie das nicht? Er hatte soeben gespürt, daß sie gleichgültig war, ohne Begierde und ohne Auflehnung, ebensowenig gefügig wie seine Chefin, Frau Hédouin. Warum sagte Campardon, sie sei hysterisch? Es war albern, daß er ihn durch Erzählen dieser dummen Geschichte getäuscht hatte; denn ohne die Lüge des Architekten hätte er ein solches Abenteuer niemals riskiert. Und er war ganz benommen über diesen Ausgang, verwirrt in seinen Ansichten über die Hysterie und mußte an die Geschichten denken, die erzählt wurden. Trublots Bemerkung fiel ihm wieder ein: bei diesen verdrehten Weibern, deren Augen wie glühende Kohlen leuchteten, wisse man nicht, woran man sei.

Ärgerlich auf die Frauen, dämpfte Octave oben das Geräusch seiner Stiefeletten. Aber die Tür von Pichons ging auf, und er mußte sich dreinschicken. Marie wartete auf ihn, sie stand in dem schmalen Raum, den die rußige Lampe schwach erhellte. Die Wiege hatte sie an den Tisch herangezogen, dort in dem Rund gelben Lichts schlief Lilitte. Das Mittagsgedeck war anscheinend auch zum Abendessen verwendet worden, denn das zugeschlagene Buch lag neben einem schmutzigen Teller, auf dem noch Radieschenstrünke waren.

»Sind Sie fertig?« fragte Octave, erstaunt über das Schweigen der jungen Frau.

Sie schien berauscht, das Gesicht war verquollen wie beim Erwachen aus einem allzu schweren Schlaf.

»Ja, ja«, sagte sie mühsam. »Oh, einen ganzen Tag habe ich dagesessen, den Kopf zwischen den Händen, und war vertieft darin ... Wenn einen das packt, dann weiß man nicht mehr, wo man ist ... Mir tut der Hals ganz weh.« Und da sie wie gerädert war, sprach sie nicht weiter von dem Buch, so erfüllt war sie von ihrer Erregung, von den verworrenen Träumereien über ihre Lektüre, daß sie schier erstickte. In ihren Ohren sauste es bei den fernen Rufen des Horns, das der Jäger aus ihren Liedern im blauen Märchenland der idealen Liebe Blies. Darauf sagte sie ohne Übergang, sie sei am Vormittag in die Kirche Saint-Roch gegangen, um die Neunuhrmesse zu hören. Sie habe sehr geweint, die Religion sei ein Ersatz für alles. »Ach, ich fühle mich jetzt wohler«, sagte sie, wobei sie tief aufseufzte und vor Octave stehenblieb.

 

Es trat Schweigen ein. Sie lächelte ihm mit ihren treuherzigen Augen zu. Niemals hatte er sie so nutzlos gefunden mit ihrem dünnen Haar und ihren umflorten Zügen. Aber als sie ihn weiter betrachtete, wurde sie ganz blaß, sie taumelte; und er mußte die Hände ausstrecken, um sie zu stützen.

»Mein Gott, mein Gott!« stammelte sie aufschluchzend.

Verwirrt sah er sie an.

»Sie sollten etwas Lindenblütentee trinken ... Das kommt vom zu vielen Lesen.«

»Ja, als ich das Buch zugeschlagen habe und mich allein sah, da ist mir das auf den Magen geschlagen ... Wie gut Sie sind, Herr Mouret! Ohne Sie hätte ich mir weh getan.« Unterdessen blickte er sich suchend nach einem Stuhl um, auf den er sie setzen konnte.

»Soll ich Feuer machen?«

»Danke, dabei würden Sie sich schmutzig machen ... Ich habe wohl bemerkt, daß Sie immer Handschuhe tragen.«

Und bei diesem Gedanken hatte sie wieder die erstickende Beklemmung befallen, und auf einmal ohnmächtig werdend, küßte sie, als habe es ihr Traum gerade zufällig so gefügt, ungeschickt ins Leere hinein und streifte dabei das Ohr des jungen Mannes.

Octave empfing diesen Kuß voller Bestürzung. Die Lippen der jungen Frau waren eisig. Als sie dann mit einer Hingabe des ganzen Körpers an seine Brust gerollt war, entflammte er in einer jähen Begierde, und er wollte sie nach hinten ins Schlafzimmer tragen. Aber diese so derbe Annäherung weckte Marie aus der Bewußtlosigkeit ihres Falles; der Instinkt der Frau, der Gewalt angetan wird, empörte sich, sie sträubte sich, sie rief nach ihrer Mutter und vergaß ihren Mann, der gleich heimkehren würde, und ihre Tochter, die neben ihr schlief.

»Nicht das, o nein, o nein! Das ist verboten.«

Glühend sagte er immer wieder:

»Es wird ja keiner erfahren, ich werde es niemandem sagen.«

»Nein, Herr Octave ... Sie verderben doch das Glück, das mir die Begegnung mit Ihnen verschafft hat ... Das führt zu nichts, versichere ich Ihnen, und ich hatte mir so manches erträumt ...«

Da redete er nicht mehr, er hatte eine Vergeltung zu üben, unverblümt sagte er sich im stillen: Du, du mußt dran glauben! Da sie sich weigerte, ihm ins Schlafzimmer zu folgen, drückte er sie brutal rücklings über die Tischkante; und sie unterwarf sich, zwischen dem vergessenen Teller und dem Roman, den ein Stoß zu Boden fallen ließ, nahm er Besitz von ihr. Die Tür war nicht einmal geschlossen worden, inmitten des Schweigens stieg die Feierlichkeit der Treppe herauf. Auf dem Kopfkissen der Wiege schlief friedlich Lilitte.

Als sich Marie und Octave in der Unordnung der Röcke, wieder erhoben hatten, fanden sie einander nichts zu sagen. Sie ging mechanisch nach ihrer Tochter sehen, nahm den Teller weg, stellte ihn dann wieder hin. Er blieb stumm, von demselben Unbehagen erfaßt, so unerwartet war das Abenteuer gekommen, und er erinnerte sich, daß er die brüderliche Absicht gehabt hatte, dafür zu sorgen, daß sich die junge Frau ihrem Mann an den Hals hängte. Da er das Bedürfnis verspürte, dieses unerträgliche Schweigen zu brechen, murmelte er schließlich:

»Hatten Sie denn die Tür nicht zugemacht?«

Sie warf einen kurzen Blick auf den Treppenflur, sie stammelte: »Wahrhaftig, sie war offen.«

Ihr Gang schien gehemmt, und auf ihrem Gesicht lag Ekel.

Der junge Mann dachte jetzt, bei einer Frau ohne Gegenwehr, in dieser tiefen Einsamkeit und Dummheit, sei das eigentlich kein Spaß. Nicht einmal Lust hatte sie empfunden.

»Ach je! Das Buch ist runtergefallen!« sagte sie und hob es auf.

Aber eine Ecke des Einbandes war eingeknickt. Dies brachte sie einander näher und verschaffte ihnen Erleichterung. Sie fanden die Sprache wieder. Marie zeigte sich untröstlich.

»Es ist nicht meine Schuld ... Sie sehen ja, ich hatte es in Papier eingeschlagen, aus Furcht, es schmutzig zu machen ... Wir haben es ganz unabsichtlich hinuntergestoßen.«

»Lag es denn da?« sagte Octave. »Ich habe es gar nicht bemerkt ... Ach, was mich betrifft, mir ist das schnuppe! Aber Campardon hängt so an seinen Büchern!«

Sie reichten sich das Buch, suchten die Ecke wieder geradezubiegen. Ihre Finger umschlangen einander ohne ein Erbeben. Als sie über die Folgen nachdachten, verharrten sie wahrhaft bestürzt über das Mißgeschick, das diesem schönen Band George Sand zugestoßen war.

»Das mußte ja ein schlimmes Ende nehmen«, schloß Marie mit Tränen in den Augen.

Octave war genötigt, sie zu trösten. Er werde sich eine Geschichte ausdenken, Campardon werde ihn schon nicht fressen. Und in dem Augenblick, da sie sich trennten, setzte ihre Verlegenheit von neuem ein. Gern hätten sie einander wenigstens einen liebenswürdigen Satz gesagt; aber das Du erstickte ihnen in der Kehle. Zum Glück waren Schritte zu hören, das war der Ehemann, der die Treppe heraufkam. Schweigend faßte Octave sie wieder und küßte sie nun seinerseits auf den Mund. Abermals unterwarf sie sich willfährig, und ihre Lippen waren eisig wie zuvor.

Als er lautlos in sein Zimmer zurückgekehrt war, sagte er sich, während er seinen Überzieher ablegte, daß auch diese hier so was nicht zu lieben scheine. Was begehrte sie dann aber, und warum fiel sie den Leuten in die Arme? Die Frauen waren entschieden recht komisch.

Am folgenden Tag erklärte Octave nach dem Mittagessen bei Campardons gerade noch einmal, er habe vorhin ungeschickterweise das Buch vom Tisch gestoßen, da kam Marie herein. Sie fuhr Lilitte in den Jardin des Tuileries, sie fragte, ob man ihr Angèle anvertrauen wolle. Und ohne jede Verwirrung lächelte sie Octave zu, betrachtete sie mit ihrer unschuldigen Miene das auf einem Stuhl liegengebliebene Buch.

»Wieso denn? Ich bin Ihnen doch dankbar«, sagte Frau Campardon. »Angèle, geh und setz dir einen Hut auf ... Bei Ihnen ist mir nicht bange.«

Marie, die ganz sittsam ein einfaches dunkles Wollkleid trug, sprach von ihrem Mann, der gestern abend erkältet heimgekehrt sei, und vom Fleischpreis, den man bald nicht mehr werde erschwingen können. Als sie Angèle dann mitgenommen hatte, beugten sich alle zu den Fenstern hinaus, um sie zusammen weggehen zu sehen. Auf dem Bürgersteig schob Marie langsam mit ihren behandschuhten Händen Lilittes Wagen vor sich her, während Angèle, die sich beobachtet wußte, neben ihr einherging und die Augen niederschlug.

»Das ist doch wenigstens eine anständige Frau!« rief Frau Campardon aus. »Und so sanft! Und so ehrbar!«

Da klopfte der Architekt Octave auf die Schulter und sagte:

»Es geht doch nichts über die häusliche Erziehung, mein Lieber!«

Fünftes Kapitel

An diesem Abend war bei Duveyriers Empfang und Konzert. Gegen zehn Uhr wurde Octave, der zum ersten Mal von ihnen eingeladen worden war, in seinem Zimmer mit dem Ankleiden fertig. Er war ernst, er empfand eine dumpfe Gereiztheit gegen sich selbst. Warum hatte es mit Valérie, einer Frau mit so angesehener Verwandtschaft, nicht geklappt? Und Berthe Josserand, hätte er es sich nicht überlegen sollen, bevor er sie ausschlug? Eben in dem Augenblick, da er seine weiße Schleife umband, war ihm der Gedanke an Marie Pichon unerträglich geworden: fünf Monate Paris und nichts als dieses armselige Abenteuer! Dies schmerzte ihn wie eine Schande, denn er fühlte tief die Leere und Nutzlosigkeit eines solchen Verhältnisses. So schwor er sich denn auch, während er seine Handschuhe anzog, seine Zeit nicht mehr auf diese Weise zu vergeuden. Er war zum Handeln entschlossen, da er ja endlich in die Gesellschaft vordrang, wo es an Gelegenheiten sicherlich nicht mangelte.

Aber am Ende des Ganges lauerte Marie auf ihn, denn Pichon war nicht da, und er war genötigt, einen Augenblick einzutreten.

»Wie schön Sie aussehen!« flüsterte sie.

Sie und ihr Mann waren nie bei Duveyriers eingeladen worden, was sie mit Ehrfurcht vor dem Salon im ersten Stock erfüllte. Übrigens war sie auf niemanden neidisch, dazu fühlte sie weder den Willen noch die Kraft in sich.

»Ich werde auf Sie warten«, sagte sie und hielt ihm die Stirn hin. »Kommen Sie nicht zu spät wieder herauf, Sie können mir dann erzählen, ob Sie sich amüsiert haben.«

Octave mußte ihr einen Kuß aufs Haar drücken. Obgleich sich die Beziehungen so entwickelt hatten, daß er ganz nach seinem Gutdünken zu ihr ging, wenn ihn eine Begierde oder die Muße dazu trieb, duzten sie einander noch nicht. Schließlich ging er hinunter; und über das Treppengeländer gebeugt, blickte sie ihm nach.

Zu derselben Minute spielte sich bei Josserands ein ganzes Drama ab. Die Abendgesellschaft bei Duveyriers, zu der sie gingen, sollte nach Ansicht der Mutter über Berthes Heirat mit Auguste Vabre entscheiden. Obwohl man ihm seit vierzehn Tagen heftig zusetzte, zögerte er noch immer, weil ihn offenbar Zweifel hinsichtlich der Mitgift plagten. Daher hatte Frau Josserand auch, um einen entscheidenden Schlag zu führen, an ihren Bruder geschrieben, ihm den Heiratsplan mitgeteilt und ihn an seine Versprechungen erinnert, in der Hoffnung, er werde sich in seiner Antwort durch irgendeinen Satz festlegen, aus dem sie Vorteil ziehen könnte. Und die ganze Familie wartete um neun Uhr vor dem Ofen des Eßzimmers, war fertig angekleidet und auf dem Sprung, hinunterzugehen, da brachte Herr Gourd einen Brief von Onkel Bachelard herauf, der seit der letzten Postzustellung unter Frau Gourds Schnupftabaksdose vergessen worden war.

»Na endlich!« sagte Frau Josserand und entsiegelte den Brief.

Ängstlich sahen ihr der Vater und die beiden Töchter beim Lesen zu. Um sie herum bewegte sich die plump aussehende Adèle, die die Damen hatte ankleiden müssen, und deckte den Tisch ab, auf dem noch das Geschirr vom Abendessen herumstand. Aber Frau Josserand war ganz blaß geworden.

»Nichts, nichts!« stammelte sie. »Nicht ein klarer Satz! Später, zum Zeitpunkt der Hochzeit will er sehen ... Und er fügt hinzu, daß er uns trotz allem sehr liebhat ... So ein elender Halunke!«

Herr Josserand, der einen Frack trug, war auf einen Stuhl gesunken. Hortense und Berthe setzten sich ebenfalls, die Beine wie zerschlagen; und so verharrten sie, die eine in Blau, die andere in Rosa, in ihren ewig gleichen, einmal mehr aufgefrischten Toiletten.

»Ich habʼs ja immer gesagt«, murmelte der Vater, »Bachelard nutzt uns aus ... Er wird nie einen Sou herausrücken.«

Im Stehen las Frau Josserand, die ihr feuerrotes Kleid trug, den Brief noch einmal. Dann platzte sie los.

»Oh, diese Männer! – Den da könnte man für blödsinnig halten, nicht wahr, so unmäßig ist sein Lebenswandel. Na, keine Spur! Er kann noch so sehr tun, als ob er niemals bei Verstand wäre, sobald man von Geld zu ihm spricht, reißt er die Augen auf ... Oh, diese Männer!« Sie wandte sich zu ihren Töchtern um, auf die diese Lektion gemünzt war. »Seht ihr, es ist so weit gekommen, daß ich mich frage, wieso ihr so toll darauf versessen seid, euch verheiraten zu wollen ... Wenn es euch so bis zum Hals stünde wir mir! Nicht einer, der euch um euer selbst willen liebt und euch ein Vermögen mitbringt, ohne zu feilschen! Onkel, die Millionäre sind und die, nachdem sie sich zwanzig Jahre lang durchgefressen haben, ihren Nichten nicht mal eine Mitgift geben wollen! Ehemänner, die zu nichts imstande sind, ja, ja, mein Lieber, zu nichts imstande!«

Herr Josserand ließ den Kopf sinken. Währenddessen räumte Adèle, ohne auch nur zuzuhören, den Tisch fertig ab. Aber mit einem Schlag brach Frau Josserands Zorn über sie herein.

»Was machen Sie denn da, wollen Sie uns ausspionieren? Machen Sie die Tür von draußen zu und scheren Sie sich in die Küche!« Und sie kam zum Schluß. »Kurzum, alles für diese häßlichen Vögel und für uns eine Bürste, wenn uns der Bauch juckt ... Ach was, sie verdienen nichts weiter, als reingelegt zu werden! Merkt euch, was ich sage!«

Gleichsam durchdrungen von diesen Ratschlägen, nickten Hortense und Berthe mit dem Kopf. Schon längst hatte ihre Mutter sie von der vollkommenen Minderwertigkeit der Männer überzeugt, deren einzige Rolle es sein müsse, zu heiraten und zu zahlen. In dem rauchigen Eßzimmer, das durch das von Adèle hinterlassene heillose Durcheinander des Tischgeschirrs mit muffigem Speisegeruch erfüllt wurde, trat tiefes Schweigen ein. Die Josserands, die in großer Toilette verstreut und niedergeschmettert auf Stühlen herumsaßen, vergaßen das Konzert bei Duveyriers, dachten an die fortwährenden Enttäuschungen des Daseins. Hinten aus dem Nebenzimmer hörte man Saturnin schnarchen, den sie frühzeitig zu Bett gebracht hatten.

 

Endlich sprach Berthe.

»Also die Mitgift ist im Eimer ... Wollen wir uns ausziehen?«

Aber mit einem Schlag fand Frau Josserand ihre Energie wieder. He, was? Sich ausziehen? Und warum denn? Waren sie denn nicht ehrbare Mädchen, war eine Verbindung mit ihnen denn nicht ebensoviel wert wie mit einer anderen Familie? Die Heirat würde trotzdem zustande kommen, oder sie wolle lieber verrecken. Und rasch verteilte sie die Rollen: die beiden Töchter erhielten den Befehl, sehr liebenswürdig zu Auguste zu sein, ihn nicht eher loszulassen, bis er hatte dran glauben müssen; der Vater hatte den Auftrag, den alten Vabre und Duveyrier für sich einzunehmen, indem er ihnen stets recht gab, falls sein Verstand so weit reichen sollte; was sie selbst angehe, so übernehme sie, die bestrebt war, nichts außer acht zu lassen, die Frauen, sie werde es schon verstehen, sie alle in ihr Spiel einzuspannen. Sich sammelnd, mit einem kurzen Blick das Eßzimmer noch einmal überschauend, gleichsam um zu sehen, ob sie keine Waffe vergessen habe, setzte sie dann die schreckliche Miene eines Kriegers auf, der seine Töchter ins Gemetzel führt, und sagte mit lauter Stimme ein einziges Wort: »Hinab!«

Sie gingen hinab. Trotz der Feierlichkeit der Treppe war Herr Josserand voller Unruhe, denn er sah unangenehme Dinge für sein allzu enges Gewissen, das Gewissen eines biederen Mannes, voraus.

Als sie eintraten, herrschte bei den Duveyriers bereits ein solches Gedrängel, daß man sich schier erdrückte. Der gewaltige Flügel nahm ein ganzes Paneel des Salons ein; davor saßen auf den Stuhlreihen wie im Theater die Damen; und zu den weit offengelassenen Türen des Eßzimmers und des kleinen Salons fluteten zwei dichte Wogen schwarzer Fracks herein. Der Kronleuchter und die Wandarme, die sechs auf Spiegeltischchen stehenden Lampen erleuchteten den in Weiß und Gold gehaltenen Raum, in dem sich die rote Seide der Möbel und der Wandbespannungen grell abhob, mit blendender Tageshelle. Es war heiß, die Fächer wehten mit ihrem regelmäßigen Atem die durchdringenden Gerüche der Korsagen und der nackten Schultern dahin.

Aber eben setzte sich Frau Duveyrier an den Flügel. Lächelnd bedeutete ihr Frau Josserand, sie solle sich nicht stören lassen; und sie ließ ihre Töchter inmitten der Männer zurück, während sie selber einen Stuhl zwischen Valérie und Frau Juzeur annahm. Herr Josserand hatte sich in den kleinen Salon begeben, wo der Hausbesitzer, Herr Vabre, auf seinem gewohnten Platz, in der Ecke eines Kanapees, schlummerte. Dort sah man noch Campardon. Théophile und Auguste Vabre, Doktor Juillerat, Abbé Mauduit, die eine Gruppe bildeten, während Trublot und Octave, die einander wiedergefunden hatten, soeben vor der Musik in den Hintergrund des Eßzimmers geflohen waren. In ihrer Nähe, hinter der Woge der schwarzen Fracks, starrte Duveyrier, hochgewachsen und mager, seine Frau an, die am Flügel saß und auf Ruhe wartete. Im Knopfloch seines Fracks trug er in einer korrekten kleinen Schleife das Band der Ehrenlegion.

»Pst! Pst! Still!« flüsterten wohlmeinende Stimmen.

Da stimmte Clotilde ein äußerst schwieriges Nocturne22 von Chopin23 an. Sie war groß und schön, hatte prächtiges rotes Haar, ein längliches Gesicht, das bleich und kalt wie Schnee war; und allein die Musik entfachte in ihren grauen Augen eine Flamme, eine übertriebene Leidenschaft, von der sie ohne jedes andere geistige oder fleischliche Bedürfnis lebte.

Duveyrier schaute sie immer noch an; dann gleich nach den ersten Takten ließ eine nervöse Erbitterung seine Lippen schmal werden, er trat beiseite, verweilte im Hintergrund des Eßzimmers. Auf seinem glattrasierten Gesicht mit dem spitzen Kinn und den schrägstehenden Augen wiesen breite rote Flecke auf schlechtes Blut hin, auf eine dicht unter der Haut brennende ausgeprägte Schärfe.

Trublot, der ihn musterte, sagte gelassen: »Er macht sich nichts aus Musik.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Octave.

»Oh, bei Ihnen wirkt sich das nicht so nachteilig aus ... Ein Mann, mein Lieber, der stets Glück gehabt hat. Nicht tüchtiger als jeder andere, aber von aller Welt gefördert. Aus alter bürgerlicher Familie, ein Vorfahr ehemaliger Gerichtspräsident. Gleich nach Abgang von der Hochschule der Staatsanwaltschaft zugeteilt, dann stellvertretender Richter in Reims, von dort Richter in Paris am Amtsgericht, mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet und schließlich mit noch nicht fünfundvierzig Jahren Gerichtsrat ... Toll, was! Aber aus Musik macht er sich nichts, das Klavier hat ihm das Leben verleidet ... Man kann ja nicht alles haben.«

Unterdessen bewältigte Clotilde die Schwierigkeiten mit außerordentlicher Kaltblütigkeit. Sie saß an ihrem Flügel wie eine Kunstreiterin auf ihrem Pferd.

Octave interessierte sich einzig und allein für die wütende Arbeit ihrer Hände.

»Sehen Sie doch ihre Finger«, sagte er, »das ist ja fabelhaft! Das muß ihr nach einer Viertelstunde doch weh tun.«

Und beide unterhielten sich über die Frauen, ohne sich weiter darum zu kümmern, was Clotilde spielte.

Octave empfand Verlegenheit, als er Valérie bemerkte. Wie sollte er sich nachher verhalten? Sollte er mit ihr sprechen, oder sollte er so tun, als sehe er sie nicht?

Trublot legte große Geringschätzung an den Tag: noch immer keine einzige, die sein Fall gewesen wäre; und als sein Begleiter widersprach, sich suchend umblickte und sagte, da drin müßten doch welche sein, mit denen er fürliebnehmen könne, erklärte Trublot belehrend:

»Na gut, treffen Sie Ihre Wahl, und beim Auspellen werden Sie dann ja sehen ... He, nicht die dahinten mit den Federn, oder die Blonde in dem malvenfarbenen Kleid, oder die Alte da, obwohl die wenigstens noch fett ist? Ich sagʼs Ihnen ja, mein Lieber, in der Gesellschaft zu suchen ist blödsinnig. Getue und kein Vergnügen!«

Octave lächelte. Er hatte ja Karriere zu machen; er durfte nicht nur seinem Geschmack folgen wie Trublot, dessen Vater so reich war. Angesichts dieser tiefgestaffelten Reihen von Frauen überkam ihn ein träumerisches Sinnen, er fragte sich, welche er zu seiner Vermögensbildung und zu seinem Vergnügen wählen würde, wenn der Hausherr und die Hausherrin ihm erlaubt hätten, eine mitzunehmen. Wie er sie so eine nach der anderen abwägend betrachtete, war er plötzlich verwundert.

»Sieh mal an, meine Chefin! Kommt sie denn hierher?«

»Wußten Sie das nicht?« sagte Trublot. »Trotz ihres Altersunterschieds sind Madame Hédouin und Madame Duveyrier Pensionatsfreundinnen. Sie waren unzertrennlich, man nannte sie die Eisbären, weil sie immer zwanzig Grad unter Null waren ... Das sind auch so Frauen zum Amüsieren! Wenn sich Duveyrier im Winter keine andere Wärmflasche an die Füße zu legen hätte ...!«

Aber jetzt war Octave ernst. Zum ersten Mal sah er Frau Hédouin in Abendtoilette, Schultern und Arme nackt, mit ihrem über der Stirn geflochtenen schwarzen Haar; und in dem grellen Licht war dies gleichsam die Verwirklichung seiner Wünsche: eine prächtige Frau von strotzender Gesundheit, ruhiger Schönheit, die jeglichen Gewinn für einen Mann bedeuten mußte. Schon nahmen ihn verwickelte Pläne gefangen, da riß ihn ein Spektakel aus seiner Träumerei.