Die Bestie im Menschen

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»Es fiel mir gerade ein, weil Du mir gewiß an zwanzig Male schon erzählt hast, daß er Dir in Deiner Kindheit stets die blasse Furcht einflößte.«

»Die blasse Furcht! Du übertreibst wie gewöhnlich ... Gewiß, er lachte kaum. Er sah uns mit seinen großen Augen so durchdringend an, daß man sofort den Kopf senkte. Ich habe Leute vor ihm zittern und nicht ein Wort über die Lippen bringen gesehen, so sehr imponirte er ihnen durch den weitverbreiteten Ruf seiner Strenge und Weisheit ... Aber mich selbst zankte er nie aus, ich habe immer gefühlt, daß er eine Schwäche für mich hatte ...«

Ihre Stimme sank abermals zum Flüstern herab und ihre Augen suchten die Leere.

»Ich erinnere mich noch ganz gut ... Ich war noch ein kleines Ding und spielte mit meinen Freundinnen in den Alleen. Sobald er kam, versteckten sich alle, selbst seine Tochter Berthe, die unaufhörlich vor Furcht zitterte, eine Sünde begangen zu haben. Ich dagegen erwartete ihn ganz ruhig, und wenn er mich lächelnd mit verzogenem Mündchen dort stehen sah, gab er mir beim Vorübergehen einen kleinen Backenstreich ... Später, als ich sechzehn Jahre alt war, mußte ich ihm stets die Bitte vortragen, wenn Berthe irgend eine Vergünstigung von ihm haben wollte. Ich sprach mit ihm, senkte aber nie die Blicke, so daß ich die seinen mir bis unter die Haut dringen fühlte. Ich machte mir aber nicht viel daraus, wußte ich doch, daß er mir alle Wünsche bewilligen würde ... Ja, ja, ich erinnere mich noch sehr gut daran! Dort unten giebt es kein Plätzchen im Park, keinen Korridor, kein Zimmer, das mir nicht wieder vor die Erinnerung tritt, sobald ich die Augen schließe.«

Sie schwieg, ihre Lider hatten sich gesenkt und über ihr geröthetes und aufgedunsenes Gesicht schien ein Schauer der Erinnerung an die Dinge von ehedem zu gleiten, Dinge, von denen sie nicht gesprochen hatte. Einen Augenblick blieb sie in dieser Haltung, ihre Lippen öffneten sich etwas, als verursachte das plötzliche Zucken eines Muskels ihr eine schmerzliche Empfindung am Mundwinkel.

»Er war gewiß sehr gütig zu Dir,« begann Roubaud. der sich soeben eine Pfeife angezündet hatte, von Neuem, »er hat Dich nicht nur als vornehmes Fräulein erziehen lassen, sondern auch Deine paar Pfennige weise verwaltet, schließlich hat er auch noch die Summe abgerundet, als wir uns verheiratheten ... Dabei rechne ich noch gar nicht, daß er Dir etwas hinterlassen will, wie er mir selbst gesagt hat.«

»Ja,« sagte Séverine leise, »das Häuschen in la Croix-de-Maufras, den von der Eisenbahn durchschnittenen Besitz. Wir haben früher dort öfter eine ganze Woche zugebracht ... Ich rechne noch gar nicht darauf, denn die Lachesnaye werden doch die Erbschaft hintertreiben. Ich würde es auch vorziehen, nichts nehmen zu müssen!«

Sie hatte die letzten Worte so lebhaft hervorgestoßen, daß er mit seinen runden, sich vergrößernden Augen erstaunt die Sprecherin anblickte und die Pfeife aus dem Munde nahm.

»Bist Du komisch! Man erzählt sich, daß der Präsident Millionär sei. Was ist also dabei so Schlimmes, wenn er auch seine Pflegetochter in seinem Testament bedenkt? Das würde Niemand überraschen und unsern Verhältnissen käme es gut zu statten.«

Dann ließ ihn ein durch den Kopf gehender Gedanke laut auflachen.

»Du befürchtest doch nicht, für seine leibliche Tochter gehalten zu werden? ... Du weißt doch, daß man sich vom Präsidenten trotz seiner eisigen Miene nette Sachen erzählt? Selbst zu Lebzeiten seiner Frau soll kein Mädchen verschont geblieben sein. Das ist ein Spitzbube, der noch heute bei der Frau seinen Mann steht.. Großer Gott, wenn Du wirklich seine Tochter wärest?«

Séverine war unwillig aufgesprungen, ihr Gesicht flammte und das Feuer ihrer blauen Augen unter dem schweren schwarzen Haar leuchtete unstät.

»Seine Tochter, seine Tochter! ...Ich will nicht, daß Du mich damit neckst, verstanden? Wie könnte ich seine Tochter sein? Sehe ich ihm ähnlich? ... Genug davon, sprechen wir von etwas Anderem. Ich will einfach deshalb nicht nach Doinville fahren, weil ich es vorziehe, mit Dir nach Havre zurückzukehren,«

Er wiegte beruhigend den Kopf. Wie ihr das im Augenblick in die Nerven gefahren war! Er lächelte, denn er hatte sie noch nie so aufgeregt gesehen, das machte wahrscheinlich der Weißwein. Es lag ihm daran, sie wieder gut zu stimmen und so ergriff er abermals das Messer, wobei er nochmals seiner Bewunderung einen lauten Ausdruck gab und reinigte es sorgfältig. Dann verkürzte er sich die Nägel, um zu zeigen, daß es wie ein Rasirmesser schnitt.

»Schon vier und ein viertel Uhr,« bemerkte Séverine leise vor der Kukuksuhr. »Ich habe noch einige Wege ... Wir müssen an unsern Zug denken.«

Doch ehe sie sich an die Ordnung des Zimmers machte, wollte sie sich erst noch etwas beruhigen und trat an das Fenster. Er ließ Messer Messer, Pfeife Pfeife sein, stand ebenfalls vom Tische auf, näherte sich ihr und nahm sie sanft in seine Arme. Er zog sie fest an seine Brust, drückte das Kinn auf ihre Schulter und preßte seinen Kopf an den ihren. Keines von Beiden rührte sich, ihre Augen suchten den Fernblick.

Zu ihren Füßen kamen und gingen die kleinen Rangirlokomotiven noch immer rastlos; man hörte sie, gerade wie gewandte und kluge Wirtschafterinnen, kaum bei ihrer Thätigkeit, ihre Räder schienen umwickelt, ihr Pfiff ertönte discret. Die eine von ihnen verschwand jetzt unter dem Pont de l'Europe mit einem von Trouville gekommenen Zuge, dessen Waggons in die Schuppen gebracht wurden. Dort unten, jenseits der Brücke, kreuzte sie sich mit einer Lokomotive, die wie eine einsame Spaziergängerin, allein vom Depot kam; ihre Achsen und Kupfertheile leuchteten, als hatte sie soeben frisch und keck sich zur Reise angekleidet. Die große Maschine hielt jetzt und forderte durch zwei kurze Pfiffe den Weichensteller auf, die Geleise passirbar zu machen; dieser that es sofort und die Lokomotive rollte auf den in der Halle für den Fernverkehr abgangsbereit stehenden Zug zu. Es war der vier Uhr fünfundzwanzig Zug nach Dieppe. Ein Strom von Reisenden drängte durcheinander. Man hörte das Rollen der mit Gepäck beladenen Karren, die Gepäckträger beförderten Stück für Stück in die Waggons. Inzwischen war die Lokomotive mit ihrem Tender auf den Stirnwagen des Zuges aufgefahren, was einen dumpfen Krach gab und man sah einen Arbeitsmann die Koppelung aufwinden. Gegen Batignolles hin hatte sich der Himmel umdüstert; ein aschfarbenes Halbdunkel tauchte die Umrisse der fernen Gebäude in seine Schatten und schien schon über den sich ausbreitenden Fächer der Schienen zu kriechen. Und in diesem Dunkel kreuzten sich unaufhörlich die ankommenden und abfahrenden Züge des Ring- und Vorortverkehrs. Hier die düsteren Reihen der großen Glashallen, dort über dem verschleierten Paris röthliche, vielgezackte Rauchwolken.

»Nein, nein, lasse mich,« sagte Séverine leise.

Sein Athem strömte ihr in den Nacken. Allmählich war seine Zärtlichkeit eine innigere geworden; die Wärme ihres jungen, von ihm so eng umschlungenen Körpers brachte sein Blut in Wallung. Der von ihr ausgehende Duft berauschte ihn und das abwehrende Drängen ihrer Glieder fachte seine Wünsche vollends an. Mit einem Ruck hatte er sie vom Fenster los, dessen Flügel er schloß. Sein Mund fand den ihrigen, fast biß er ihre Lippen wund und mit unwiderstehlicher Gewalt drängte er sie zum Bett.

»Nein, nein, wir sind nicht zu Hause,« wiederholte sie. »Ich bitte Dich, nicht hier in diesem Zimmer!«

Sie fühlte sich ebenfalls durch die reichliche Sättigung und das genossene Getränk wie berauscht, und ihre Sinne waren von dem fieberhaften Sturmlauf nach Paris noch in Aufruhr. Dazu dieses überheizte Zimmer, diese überreiche Tafel, die Plötzlichkeit der Reise, die einen so guten Ausgang zu nehmen schien, alles das erhitzte ihr Blut und kitzelte ihre Nerven. Trotzdem weigerte sie sich, sie widerstand ihm und stemmte sich mit Leibeskräften gegen das Holzgestell des Bettes in einer Anwandlung von ihr selbst nicht erklärlicher Furcht.

»Nein, nein, ich will nicht.«

Er, das Blut im Gesicht, hielt sie mit seinen mächtigen brutalen Fäusten wie in einem Schraubstock.

»Dummes Ding! Wer weiß es? Wir bringen ja das Bett wieder in Ordnung!«

In Havre bildete, da er Nachtdienst hatte, die Zeit nach Tisch ihr gewöhnliches Kosestündchen, dem sie sich auch mit gefälliger Folgsamkeit nicht zu entziehen pflegte. Die Sache machte ihr zwar keinen Spaß, aber sie fühlte sich glücklich und behaglich bei dem Gedanken, auf ihr eigenes Vergnügen ihm zu Liebe verzichten zu können. In diesem Augenblick aber machte es ihn toll, daß er sie so feurig, von Leidenschaft durchzittert fühlte, wie er sie nie zuvor gekannt hatte. Der dunkle Wiederschein ihres Haares ließ die sonst so kühlen Augen unergründlich tief erscheinen, ihr stark entwickelter Mund schimmerte wie Blut in dem sanften Oval ihres Gesichts. Er hatte mit einem Male eine Frau vor sich, die er noch nie gesehen. Warum willfahrte sie ihm nicht?

»Warum, sprich? Wir haben noch Zeit.«

In ihrer unerklärlichen Angst, in dem Kampf, der sie hinderte, die Dinge klar zu erkennen, als wenn sie selbst sich als eine Andere erschiene, entfuhr ihr ein Schrei wirklichen Schmerzes, der ihn veranlaßte, sich ruhiger zu verhalten.

»Ich beschwöre Dich, lasse mich! ... Schon der bloße Gedanke, in diesem Augenblick, erwürgt mich ... Das würde zu nichts Gutem führen.«

Beide saßen jetzt auf dem Rande des Bettes. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er das siedende Gefühl von dort verwischen. Als sie ihn wieder vernünftig geworden sah, beugte sie sich liebenswürdig zu ihm und gab ihm einen derben Kuß auf die Backe, als Beweis, daß sie ihn trotzdem lieb hätte. Sie blieben dann einen Augenblick unbeweglich und lautlos sitzen. Er hatte ihre rechte Hand ergriffen und spielte mit einem alten Goldreif einer Schlange mit einem Köpfchen von Rubinen, den sie seit ihrer Hochzeit stets an demselben Finger trug. Stets halte er ihn dort gesehen.

 

»Meine kleine Schlange,« sagte Séverine wie im Traume befangen; sie glaubte, er betrachte den Ring und sie empfand das dringende Bedürfniß zu reden. »In la Croix-de-Maufras wurde er mir geschenkt als ich sechzehn Jahre alt war.«

Roubaud erhob überrascht den Kopf.

»Wer hat ihn Dir geschenkt? Der Präsident?«

Als sie die Augen ihres Mannes auf sich ruhen fühlte, war es ihr, als würde sie plötzlich aus dem Traume gerissen. Ein kaltes, eisiges Gefühl überlief ihre Wangen. Sie wollte antworten, fand aber nicht gleich die Worte, ihr schien, als hätte eine jähe Lähmung sie ergriffen.

»Aber Du hast mir doch immer erzählt,« fuhr er fort, »Deine Mutter hätte Dir den Ring hinterlassen?«

Noch in diesem Augenblick hätte sie den Eindruck der ihr in einem Moment völliger Geistesabwesenheit entschlüpften. Aeußerung wieder verwischen können, wenn sie gelacht oder die Zerstreute gespielt hätte. Aber nein, sie war wie verbohrt, als hätte sie keine Macht mehr über sich.

»Ich habe Dir nie gesagt, mein Schatz, daß mir meine Mutter diesen Ring vermacht hat.«

Roubaud sah ihr scharf in das Gesicht, auch er wurde bleich.

»Nie? Du hast mir das nie gesagt? Nicht einmal, sondern zwanzigmal! ... Warum sollte Dir der Präsident auch keinen Ring schenken? Ich finde dabei nichts, er hat Dir ja so Manches geschenkt ... Aber warum hast Du es mir verheimlicht? Warum logst Du und schobst Deine Mutter vor?«

»Ich habe meine Mutter nicht erwähnt, mein Lieber, Du irrst Dich.«

Dieses hartnäckige Leugnen war eine Dummheit, Sie sah, daß sie sich selbst auslieferte, daß er ihr die Wahrheit von der Stirn las; sie hätte jetzt gern ihre Worte wieder zurückgenommen oder ihre Bedeutung vermischt, aber jetzt war es zu spät. Sie fühlte, wie ihre Züge eine andere Gestaltung annahmen, das Geständniß ihrer Schuld offenbarte in diesem Augenblick gegen ihren Willen ihre ganze Persönlichkeit. Die Kälte in ihren Wangen hatte ihr ganzes Gesicht überzogen, ein nervöses Zucken zerrte an ihrem Munde. Ihm dagegen hatte das Entsetzen das Blut emporgetrieben, daß man fürchten mußte, seine Adern würden platzen. Er hatte ihre Handgelenke umschlungen und stand dicht vor ihr, um aus dem Widerspiegeln des Schreckens in ihren Augen lesen zu können, was sie nicht laut gesagt hatte.

»Verflucht,« würgte er heraus, »verflucht!«

Sie drückte furchtsam das Gesicht unter ihren Arm, denn sie ahnte den Schlag mit der Faust schon, der kommen mußte. Dieser kleine, elende, unbedeutende Umstand, das Vergessen einer an diesen Ring sich knüpfenden Lüge hatte nach wenigen Worten diese furchtbare Situation geschaffen. Nur eine Minute, dann warf er sie mit einem Stoß auf das Bett und bearbeitete sie auf das Gerathewohl mit den Fäusten. Während dreier Jahre hatte er sie nicht ein Mal geschlagen, jetzt aber war die Brutalität Herrin über ihn geworden, blind und trunken vor Wuth hieb er mit seinen groben Arbeiterfäusten, die früher die Waggons geschoben hatten, auf sie ein.

»Verfluchte Dirne! Du warst mit ihm zusammen ... mit ihm zusammen ... mit ihm zusammen!«

Die Wiederholung der Worte stachelte seine Wuth noch mehr an; bei jeder Wiederholung sauste ein Faustschlag nieder, als wollte er ihr die Worte für immer einbläuen.

»Du die Geliebte eines Greises, Du verfluchte Dirne! ... Du warst mit ihm zusammen ... mit ihm zusammen!«

Der Zorn erstickte seine Stimme, sie kam ihm schon pfeifend aus dem Munde und versagte schließlich ganz. Er hörte jetzt erst, wie sie, windelweich unter den Schlägen geworden, »nein« rief. Sie fand kein anderes Wort der Vertheidigung, sie leugnete, um nicht von ihm getödtet zu werden. Diese Ausrede, diese lügnerische Verbohrtheit machte ihn nur noch rasender.

»Gestehe, daß Du mit ihm zusammen warst!«

»Nein und nein.«

Er hatte sie aufgerafft und sie zu sich emporgezogen; er verhinderte das arme Geschöpf, daß der Kopf sich in die Kissen vergrub und zwang sie, ihm in das Gesicht zu sehen.

»Gestehe!«

Im Augenblick hatte sie sich gewandt seiner Umarmung entzogen und wollte zur Thür eilen. Doch ebenso schnell war er hinter ihr her und wieder schwebte seine Faust in der Luft; dicht neben dem Tisch streckte sein Schlag sie zu Boden. Er warf sich an ihre Seite und packte sie an den Haaren, so daß sie sich nicht rühren konnte. Ohne zu sprechen und ohne zu athmen, blieben sie so, Auge in Auge, auf dem Boden liegen. Und durch diese schreckensvolle Stille schallte das Singen und Lachen der Damen Dauvergne, deren Piano glücklicherweise einen solchen Lärm vollführte, daß man das Toben des sich über ihnen abspielenden Kampfes nicht vernahm. Claire sang Kinderlieder und Sophie spielte die Begleitung mit aller Macht.

»Gestehe!«

Sie wagte nicht nein zu sagen und schwieg.

»Gestehe, daß Du mit ihm zusammenwarst, oder ich schlage Dich todt!«

Er würde sie getödtet haben, sie las es in seinem Blick. Sie hatte beim Fallen das aufgeklappt auf dem Tisch liegende Messer gesehen. Das Schimmern der Klinge kam ihr in die Erinnerung, sie glaubte schon, daß er den Arm danach ausstrecke. Nun überkam sie ein Gefühl der Feigheit, eine Gleichgiltigkeit gegen sich und alles, der Wunsch, endlich mit Allem zu Rande zu kommen.

»Nun ja, es ist wahr, nun lasse mich aber gehen.«

Ein fürchterlicher Augenblick. Dieses Geständniß, von ihm in so grausamer Weise erpreßt, es glich einem Schlag, den er mitten in das Gesicht erhielt; es schien ihm unmöglich, ungeheuerlich. Eine solche Schändlichkeit hätte er nie für möglich gehalten. Er packte ihren Kopf und schlug ihn gegen ein Tischbein. Als sie sich sträubte, schleifte er sie an den Haaren durch das Zimmer, wobei er mit ihrem Körper die Stühle anrannte. So oft sie den Versuch machte, sich aufzurichten, warf er sie durch einen Faustschlag wieder zu Boden. Sein Athem flog und mit zusammengepreßten Zähnen tobte er wie ein Wilder und Thor zugleich in diesem Kampf. Der Tisch hätte beinahe den Ofen umgeworfen. Haare und Blut klebten an einer Ecke des Büffets. Als sie von diesem eklen Auftritte noch bebend wieder zu Athem kamen, müde vom Schlagen und der erhaltenen Prügel, befanden sie sich wieder neben dem Bett, sie noch immer in einem schweinartigen Zustande auf der Erde liegend, er auf ihr kauernd und sie an den Schultern gepackt haltend. Beide stöhnten. Unten ertönte noch immer die Musik und kräftiges, lustiges Lachen schallte herauf.

Mit einem Ruck hob Roubaud Séverine vom Boden und drängte sie gegen die Bettwand. Er blieb vor ihr auf den Knieen liegen und stemmte sich mit der ganzen Kraft seines Oberkörpers gegen sie. Jetzt konnte er endlich sprechen. Er schlug sie nicht mehr, er quälte sie mit seinen Fragen, in der heißen Begier, alles wissen zu wollen.

»Du hast Dich ihm also hingegeben, Dirne? ... Wiederhole es mir, daß Du diesem alten Menschen gefällig warst ... Wie alt warst Du, als es geschah? Ganz jung noch, nicht wahr, ganz jung?«

Ein plötzlicher Thränenausbruch ihrerseits, ein Schluchzen hinderten sie zu antworten.

»Himmel und Hölle, willst Du sprechen? ... He? Noch nicht zehn Jahre alt warst Du, als Du den Alten schon amüsirtest? Deshalb also hat er Dich wie eine vornehme Dame erziehen lassen, damit er unauffällig seine Schweinereien treiben konnte? Rede, sage ich, oder ich fange von vorn an!«

Sie weinte und brachte kein Wort über die Lippen. Er erhob die Hand und eine abermalige Ohrfeige betäubte sie. Das geschah dreimal, ebenso oft als er fragte und keine Antwort erhielt.

»Sprich, in welchem Alter geschah es?«

Warum den Kampf fortsetzen, sie fühlte ja ohnehin ihr ganzes Leben dahinschwinden. Er würde ihr mit seinen steifen Arbeiterfingern das Herz aus dem Leibe gerissen haben. Sein dringliches Fragen begann von Neuem und nun erzählte sie ihm in der Ohnmacht ihrer Schande und Furcht Alles. Ihre Worte wurden so leise geflüstert, daß sie kaum ihm verständlich waren. Seine wilde Eifersucht sog neue Nahrung aus dem Leiden, welches ihm die ihr entlockten Bilder schufen: er konnte nicht genug hören, er zwang sie, keine Einzelheit zur Vervollständigung der Thatsachen zu übergehen. Das Ohr auf die Lippen der bedauernswerthen Frau gepreßt, lechzte er wie ein Fiebernder nach dieser Beichte, deren Abbrechen seine aufgehobene Faust verhinderte, die jeden Augenblick bereit zum Niederfahren war.

Ihr ganzes vergangenes Leben in Doinville zog so noch einmal an ihm vorüber, ihre Kindheit, ihre Jugend. War das Unerhörte im Dunkel der Baumgruppen des Parks oder in einem verlorenen Winkel eines Korridors im Schlosse geschehen? Hatte der Präsident es schon auf sie abgesehen, als er sie nach dem Tode seines Gärtners zu sich in sein Haus nahm und sie mit seiner Tochter erziehen ließ? Begonnen hatte die Geschichte zweifellos schon zu jener Zeit, als die anderen Mädchen aus ihren Spielen heraus vor ihm flüchteten, wenn er plötzlich auftauchte, sie dagegen mit verzogenem Mündchen lächelnd auf ihn wartete, um von ihm im Vorübergehen auf die Backe geklopft zu werden. Und später, wenn sie ohne die Augen niederzuschlagen mit ihm zu sprechen wagte und von ihm jede Vergünstigung bewilligt erhielt, hatte sie sich nicht damals schon als die Herrin über ihn gefühlt, der, Anderen gegenüber so würdig und streng, durch seine Nachgiebigkeit von ihr sich das Anrecht auf alle Glückseligkeiten erwarb? O, über diesen schmutzigen Handel, diesen elenden Greis, der sich wie ein Großvater hätscheln ließ, das kleine Mädchen heranwachsen sah, fast stündlich dem Wachsthume ihres Körpers nachfühlte und die Zeit nicht erwarten konnte, bis die Frucht reif war.

Roubaud stöhnte.

»Wiederhole, in welchem Alter geschah es?«

»Als ich sechzehn und ein halbes Jahr alt war.«

»Du lügst.«

Leugnen, mein Gott, warum jetzt noch? Ihre Schultern zuckten im Gefühle unermeßlicher Oede und Schwäche.

»Und wo zum ersten Male?«

»In la Croix-de-Maufras.«

Er zögerte einen Augenblick, seine Lippen bewegten sich krampfhaft und ein gelblicher Schein flackerte in seinen Augen.

»Und es hatte Folgen?

Sie blieb stumm, doch als er die Faust schwang, sagte sie:

»Du würdest mir ja doch nicht glauben.«

»Sprich nur ... Also keine Folgen?«

Sie antwortete durch ein Schütteln mit dem Kopfe. So war es am besten. Er aber ließ nicht locker, er wollte die Szene bis in alle Einzelheiten kennen lernen. Aus anzüglichen Worten und gemeinen Redensarten bestand sein Fragen. Sie brachte die Zähne nicht mehr auseinander, sie blieb dabei, durch Zeichen mit dem Kopfe ja und nein zu sagen. Vielleicht hätte es beiden einige Linderung verschafft, wenn sie alles gestanden haben würde. Sie fürchtete aber durch Wiedergabe der Einzelheiten keine Erleichterung, sondern noch größeres Ungemach. Und auch ihn würden die haarsträubendsten Thatsachen nicht so gepeinigt haben, wie jetzt die Einbildung. Dieses wollüstige Wühlen aber nach der Wahrheit nährte und trieb die vergifteten Wogen der Eifersucht in seiner Brust wieder zur Empörung. Es war nun geschehen. So lange er lebte, konnte er jetzt nicht mehr diese abscheuliche Vorstellung aus seinen Gedanken bannen.

Das Schluchzen würgte sie fast.

»Ah, verflucht ... ah, verflucht ... nein, das kann nicht möglich sein, das ist zu viel, das kann nicht möglich sein!« Von Neuem schüttelte er sie.

»Warum hast Du mich dann geheirathet. Du gottvergessene Dirne? ... Wie ehrlos, mich so hintergangen zu haben! Die Verbrecherinnen im Gefängnisse sind nicht so schuldbelastet wie Du ... Du verachtetest mich also, Du liebtest mich gar nicht? ... He, warum hast Du mich geheirathet?«

Sie machte eine flüchtige Bewegung. Wußte sie es in diesem Augenblicke selber? Als sie ihn heirathete, fühlte sie sich glücklich, war es doch nun mit dem Andern zu Ende. Giebt es doch so viele Dinge, die man nicht thun möchte und doch thut, weil es noch das Vernünftigste ist. Nein, sie liebte ihn nicht. Sie hütete sich aber, ihm zu sagen, daß sie ihn nie geheirathet haben würde, wenn ihre Vergangenheit eine andere gewesen wäre.

»Ihm lag natürlich daran. Dich zu versorgen, nicht? Er fand auch solch ein gutes Schaf ... Er wollte Dich versorgen, um auch das Spiel fortzusetzen, nicht? ... Und Ihr habt es fortgesetzt –bei Deinen zweimaligen Besuchen. Deshalb hat er Dich damals eingeladen?«

Ein Nicken mit dem Kopfe bestätigte es.

»Und auch heute aus demselben Grunde? ... Bis in alle Ewigkeiten also dieses kothige Treiben! Und wenn ich Dich nicht erwürge, geht die Geschichte weiter!«

 

Seine krampfhaft zuckenden Hände tasteten schon nach ihrer Kehle. Aber diesmal schwieg sie nicht.

»Da sieht man, wie ungerecht Du bist. Ich war es, die sich weigerte, dorthin zu reisen. Du wolltest mich sogar schicken, worüber ich so ärgerlich war, wie Du Dich erinnern wirst ... Du siehst also, daß ich nicht mehr wollte, und nie wieder würde ich gewollt haben.«

Er fühlte, daß sie die Wahrheit sagte, aber eine Erleichterung verschaffte ihm dieses Geständnis nicht. Das Eisen saß zu fest in seiner Brust, das, was zwischen ihr und jenem Manne geschehen, war nicht mehr aus der Welt zu schaffen. Seine Ohnmacht, daß er nichts zur Ausmerzung des Geschehenen unternehmen konnte, peinigte ihn entsetzlich. Ohne sie freizulassen, näherte er sein Gesicht abermals dem ihrigen; er schien von ihrem Anblick wie behext, ihm war, als könnte er sich nicht eher losreißen, als bis er aus dem Blut ihrer blauen Äderchen ihr ganzes Geständniß herausgelesen hätte.

»In la Croix-de-Maufras, in dem rothen Zimmer,« murmelte er wie von einer Vision gepackt. »Ich kenne es, das Fenster führt auf den Bahndamm, das Bett steht dem Fenster gegenüber ... Ich verstehe, warum Du das Haus erben sollst. Du hast es Dir ja verdient. Er hatte gut über Deine Ersparnisse wachen und Dir die Aussteuer bereiten –das war Deine Gefälligkeit schon werth ... Er, ein Richter, ein Millionär, so geachtet, gebildet und so erhaben! Da soll Einem nicht den Kopf drehen ... Und vielleicht ist er auch noch Dein Vater?«

Séverine stand mit einem Sprunge auf den Füßen. Angesichts ihrer Schwäche als armes unterlegenes Wesen, zeugte der Stoß, mit dem sie ihn zurückwarf, von einer außergewöhnlichen Kraft. Sie protestirte energisch.

»Nein, nein, das nicht! Alles was Du willst, nur das nicht. Schlage mich, tödte mich ... Aber sage das nicht. Du lügst.«

Roubaud hielt noch eine ihrer Hände fest.

»Was weißt Du davon? Du selbst zweifelst daran, das ist Dein einziger Trost.«

Als sie ihm ihre Hand entziehen wollte, fühlte er den Ring, die kleine Schlange mit dem Rubinenkopfe an ihrem Finger. Er entriß ihn ihr und zerstampfte ihn in einem abermaligen Wuthanfalle mit dem Absatz auf der Diele. Dann schritt er stumm und aufgeregt durch das Zimmer.

Sie ließ sich, gleichfalls stumm, auf den Rand des Bettes fallen und blickte ihm mit ihren großen starren Augen nach. Das schreckliche Schweigen hielt an.

Die Wuth Roubauds wollte sich nicht legen. Kaum schien sie etwas nachzulassen, gleich war sie wieder da, wie die Trunkenheit, und zwar in großen, noch einmal so ungestümen Wogen und ihr Wirbel riß ihn haltlos dahin. Er hatte keine Macht mehr über sich; der heftige Wind seiner ihn peitschenden Leidenschaft trieb ihn nach allen Richtungen durch die Leere seines Innern, in welchem kein andres Bedürfniß lebte und sich erneute, als die heulende Bestie in ihm zu stillen. Der Durst nach Rache war ihm ein physisches Bedürfniß, das seinen ganzen Körper marterte und sie ahnte, daß sie vor ihm nicht eher Ruhe finden würde, als bis dieses Rachegefühl befriedigt war.

Ohne in seinem Sturmmarsche innezuhalten, hämmerte er mit seinen Fäusten an die Schläfen.

»Was soll ich jetzt beginnen?« stöhnte er mit angsterfüllter Stimme.

Hatte er seine Frau nicht sofort getödtet, jetzt würde er es nicht mehr können, das fühlte er. Seine Feigheit, sie am Leben zu lassen, dämpfte seinen Zorn; es war feige, sie nicht erwürgt zu haben, als sie, die Dirne, vor ihm lag. Natürlich konnte sie nicht mehr bei ihm bleiben. Er würde sie also fort, auf die Straße jagen müssen und sie nie wiedersehen können. Ein neuer Strom tiefen Leides überfluthete ihn, eine verwünschte Uebelkeit stieg ihm in die Kehle bei dem Gedanken, daß er selbst das zu thun nicht im Stande sei. Was also schließlich? Es erübrigte nur noch, den Schimpf auf sich zu nehmen, mit ihr noch Havre zurückzureisen und das ruhige Leben an ihrer Seite fortzusetzen, als wenn nichts geschehen wäre. Nein, nein, eher den Tod, Beiden den Tod und sofort! Es überkam ihn eine so ungeheure Trostlosigkeit, daß er noch lauter schrie:

»Was soll ich jetzt thun?«

Séverine folgte vom Bette aus mit ihren großen Augen seinen Bewegungen. Sie hatte stets eine kameradschaftliche Neigung für ihn empfunden und sein maßloser Schmerz that ihr wehe. Sie würde die Schimpfworte und Schläge entschuldigt haben, aber dieser wahnsinnige Jähzorn kam ihr so überraschend, daß sie sich von dieser Ueberraschung noch immer nicht erholen konnte. Ihr, die in ihrer frühesten Jugend den Wünschen eines Greises nachgegeben hatte, die sich später heirathen ließ, einfach um den Dingen eine Wendung zum Bessern zu geben, war in ihrer Gleichgiltigkeit und Folgsamkeit ein solcher Ausbruch von Eifersucht, längst verjährter Vergehen halber, die sie in der That bereute, durchaus unverständlich. Frei von irgendwelchem Laster oder fleischlicher Lust, in ihrer fast mädchenhaften unbewußten Handlungsweise, keusch trotz Allem, verfolgte sie das Hin- und Herlaufen ihres Mannes, seine wilden Wendungen gerade so wie sie einen Wolf, ein Wesen einer andren Rasse betrachtet haben würde. Was in aller Welt lebte eigentlich in ihm? Sie fühlte mit Schrecken die Bestie in ihm; ihr Vorhandensein hatte sie innerhalb der drei Jahre schon öfter geahnt, ihr dumpfes Knurren von Zeit zu Zeit hatte es errathen lassen, heute aber sah sie die Bestie losgelassen und in ihrer Wuth zum Beißen bereit. Was sollte sie ihm sagen, um ein Unglück zu verhüten?

Dicht beim Bett, vor ihr kehrte er regelmäßig um. Als er wieder in ihre Nähe kam, wagte sie ihn anzureden:

»Höre, mein Freund ...«

Aber er hörte nicht, sondern lief auf die andere Seite des Zimmers, wie ein vom Sturm fortgewehter Strohhalm.

»Was jetzt beginnen? Was soll ich thun?«

Endlich gelang es ihr, sein Handgelenk zu ergreifen und ihn einen Augenblick festzuhalten.

»Höre, mein Freund, war ich es nicht, die nicht mehr dorthin wollte? ... Ich würde nie, nie wieder dorthin gereist sein. Dich allein liebe ich.«

Sie zog ihn zärtlich zu sich herab und reichte ihm ihre Lippen zum Kusse. Er fiel neben sie auf das Bett, stieß sie aber sogleich mit einer Gebärde des Abscheus von sich.

»O Du Dirne, jetzt möchtest Du ... Vorhin wolltest Du nicht, weil Du kein Verlangen nach mir hattest ... Und jetzt willst Du, um mich wieder zu versöhnen, he? Wenn man einen Mann dabei hat, dann hält man ihn fest, denkst Du ... Verbrennen würde ich, wenn ich zu Dir käme, ja, das Gift würde mir meine Eingeweide verzehren, ich fühle es!«

Ihn schauderte. Der Gedanke, sie in den Armen zu haben, das Bild ihrer beiden Körper in einem gemeinsamen Bette durchzuckte ihn wie eine Flamme. Und aus der wirren Nacht seiner Seele, aus seinem verletzten, beschmutzten Verlangen heraus wuchs plötzlich die Vorstellung von der Unvermeidlichkeit des Todes.

»Bevor ich Dich umbringe, verstehst Du, muß ich Jenen umbringen ... Ich muß ihn umbringen, ich muß ihn umbringen!«

Seine Stimme kehrte wieder. Er wiederholte den Ausruf, während er scheinbar noch größer geworden, wieder vor ihr stand. Es schien als hätte ihm dieses Wort, das einem Entschlüsse gleich war, endlich seine Ruhe wieder gegeben. Weiter sagte er nichts. Dann schritt er langsam zum Tische und betrachtete dort das Messer, dessen große, offene Klinge ihm entgegenleuchtete. Mechanisch klappte er es zu und schob es in die Tasche. Mit herabhängenden Armen, mit den Augen in die Leere starrend, blieb er an derselben Stelle stehen. Er überlegte. Zwei große Falten zeigte seine Stirn, ein Zeichen, daß gewisse Hindernisse ihn keinen Entschluß fassen ließen. Um zu einem solchen zu kommen, trat er an das Fenster, er öffnete es und lehnte sich an das Fensterkreuz, um sein Gesicht dem kühlen Luftzuge der Dämmerung darzubieten. Seine Frau hatte sich nun ebenfalls erhoben und stand von Furcht gepackt, hinter ihm. Sie wagte nicht ihn zu fragen, sondern versuchte zu errathen, was in diesem harten Schädel vorging. So wartete sie stehend im Angesicht des weiten Himmels.