Der Traum

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Из серии: Die Rougon-Macquart #16
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Kapitel III





In jenem Jahr hatten die Huberts Angélique am Pfingstmontag zum Mittagessen zu den Ruinen der Burg Hautecœur mitgenommen, die zehn Meilen stromabwärts von Beaumont den Ligneul beherrscht; und am Morgen nach diesem ganzen mit Laufen und Lachen an der frischen Luft verbrachten Tag schlief das junge Mädchen noch, als die alte Standuhr der Werkstatt sieben schlug.



Hubertine mußte hinaufgehen und an die Tür klopfen.



»Na, du Faulenzerin! – Wir haben schon gefrühstückt.«



Schnell zog sich Angélique an, ging hinunter, um allein zu frühstücken. Als sie dann in die Werkstatt kam, wo sich Hubert und seine Frau soeben an die Arbeit gemacht hatten, sagte sie:



»Ach, hab ich geschlafen! Und dieses Meßgewand, das wir für Sonntag zugesagt haben!«



Die Werkstatt, deren Fenster auf den Garten hinausgingen, war ein weitläufiger Raum, der in seinem ursprünglichen Zustand fast unberührt erhalten geblieben war. Die beiden Hauptbalken und die drei hervortretenden Querbalken an der Decke hatten nicht einmal Putz abbekommen, waren stark angeräuchert, wurmstichig und ließen unter dem abgeplatzten Gips die Latten in den Zwischenräumen sehen. Einer der Kragsteine, die die Hauptbalken stützten, trug eine Jahreszahl, 1463, zweifellos das Baujahr. Der gleichfalls aus Stein bestehende, abgebröckelte und rissige Kamin bewahrte seine schlichte Vornehmheit mit seinen schlanken Pfosten, seinen Konsolen, seinem durch eine Bekrönung abgeschlossenen Rauchfang; auf dem Fries konnte man sogar noch, gleichsam zerlaufen vor Alter, eine kindliche Skulptur erkennen, einen Sankt Clarus63, Schutzpatron der Sticker. Doch der Kamin wurde nicht mehr benutzt, aus dem Feuerloch hatte man durch Anbringen von Brettern einen offenen Schrank gemacht, in dem sich Zeichnungen häuften; und jetzt wurde das Zimmer mit einem Ofen geheizt, mit einer großen gußeisernen Glocke, deren Rohr an der Decke entlanglief und in den Rauchfang mündete. Die schon wackeligen Türen stammten aus der Zeit Ludwigs XIV. Platten des alten Parketts verfaulten vollends zwischen neueren Brettchen, die eins nach dem anderen in jedes Loch eingefügt worden waren. Fast hundert Jahre hielt der oben verblichene, unten roststreifige, mit Salpeterflecken übersäte gelbe Anstrich der Wände schon. Alle Jahre sprach man davon, das Zimmer neu streichen zu lassen, ohne sich dazu entschließen zu können, weil man gegen jede Veränderung war.



Hubertine, die vor dem Stickrahmen saß, auf den das Meßgewand gespannt war, hob den Kopf und sagte:



»Du weißt, wenn wir es Sonntag abliefern, habe ich dir einen Korb voll Stiefmütterchenpflanzen für deinen Garten versprochen.«



Fröhlich rief Angélique aus:



»Das stimmt ... Oh, ich werde mich daranmachen! – Aber wo ist denn nur mein Fingerling? Das Handwerkszeug macht sich davon, wenn man nicht mehr arbeitet.« Sie schob den alten elfenbeinernen Fingerling auf das zweite Glied ihres kleinen Fingers, und sie setzte sich auf die andere Seite des Stickrahmens, dem Fenster gegenüber.



Seit Mitte des vorigen Jahrhunderts war nicht eine Veränderung in der Einrichtung der Werkstatt vorgenommen worden. Die Moden wechselten, die Stickereikunst wandelte sich, aber man fand noch immer dort an der Wand befestigt das Klappbrett, die Holzleiste, auf der der Stickrahmen aufliegt, den am anderen Ende ein beweglicher Bock trägt. In den Ecken schliefen altertümliche Handwerkszeuge: eine Goldhaspel mit ihren Zahnrädern und ihren Haspelarmen, um das Gold von den Spulen auf die Bretsche zu wickeln, ohne es zu berühren; ein Handrad, eine Art Winde, die die Fäden zusammendrehte und die man an der Wand befestigte; Tambourierrahmen in allen Größen, überzogen mit ihrem Taft und ihrem Holzreifen, auf denen man mit dem Tambourierhaken stickte. Auf einem Brett war eine alte Sammlung von Lochzangen für die Goldplättchen aufgereiht, und man sah dort auch ein Überbleibsel, einen kupfernen Blaker, den klassischen breiten Leuchter der alten Sticker. In den Ösen eines Halters, der aus einem angenagelten Riemen hergestellt war, hingen Punzen, Klöpfel, Hämmer, Messer zum Ausschneiden des Pergaments, Mennelurds64, Bossierhölzer aus Buchsbaum, um die Fäden zu modellieren, je nachdem, wie man sie verwendet. Unter dem Tisch aus Lindenholz, auf dem zugeschnitten wurde, stand eine große Garnwinde, deren zwei bewegliche Arme aus Weidenholz ein Gebinde roter Wolle spannten. Ketten von Spulen mit lebhaft farbigen Seiden hingen, aufgereiht auf einer Schnur, neben der Truhe. Auf dem Fußboden stand ein Korb mit leeren Spulen. Ein Bindfadenknäuel war soeben von einem Stuhl gefallen und hatte sich dabei entrollt.



»Ach, das schöne Wetter, das schöne Wetter!« begann Angélique wieder. »Da macht es Freude zu leben.«



Und bevor sie sich über ihre Arbeit beugte, verweilte sie noch einen Augenblick sinnend vor dem offenen Fenster, durch das der strahlende Maienmorgen hereindrang. Ein Zipfel Sonnenschein glitt vom First der Kathedrale, frischer Fliederduft stieg vom Garten der Bischofsresidenz auf. Sie lächelte geblendet, von Frühling gebadet. Als sei sie soeben eingeschlummert, fuhr sie dann zusammen und sagte:



»Vater, ich habe kein Gold für den Flachstich.«



Hubert, der die Pause eines Musters für einen Chorrock zu Ende durchstach, holte tief aus der Truhe ein Gebinde, schnitt es auf, faserte die beiden Enden aus, indem er das Gold abkratzte, das die Seide bedeckte; und er brachte das Gebinde in einer Pergamentrolle herbei.



»Das ist alles?«



»Ja, ja.«



Mit einem Blick hatte sie sich vergewissert, daß nichts mehr fehlte: die mit dem verschiedenfarbigen Gold, dem roten, dem grünen und dem blauen Gold bewickelten Bretschen; die Seidenspulen in allen Farbtönen; die Goldplättchen, Kantillen als Glanz oder Kräuselbouillon in dem Materialbehälter, einem Hutdeckel, den man als Schachtel benutzte; die feinen langen Nadeln, die Stahlzangen, die Fingerhüte, die Schere, der Wachsklumpen. All das hüpfte auf dem Stickrahmen, auf dem gespannten Stoff, den ein starkes graues Papier schützte.



Sie hatte eine Nadel mit Gold zum Flachstich eingefädelt. Doch gleich beim ersten Stich riß der Faden, und sie mußte von neuem ausfasern, indem sie ein wenig von dem Gold abkratzte, das sie in die Abfallschachtel warf, die ebenfalls auf dem Stickrahmen umherstand.



»Na endlich!« sagte sie, als sie ihre Nadel durchgestochen hatte.



Es herrschte tiefe Stille. Hubert hatte sich darangemacht, einen Stickrahmen zu bespannen. Er hatte die beiden Leisten auf das Klappbrett und den Bock gelegt, einander genau gegenüber, so daß er die karmesinrote Seide des Chorrockes, den Hubertine soeben an die Gurtstreifen angenäht hatte, fadengerade anbringen konnte. Und er schob die Schienen in die Schlitze der Leisten ein, wo er sie mit Hilfe von vier Pflöcken festmachte. Nachdem er dann rechts und links die seitliche Spannung hergestellt hatte, spannte er fertig, indem er die Pflöcke zurücksteckte. Man hörte ihn mit den Fingerspitzen auf den Stoff klopfen, der wie eine Trommel widerhallte.



Angélique war eine selten gute Stickerin geworden, von einer Geschicklichkeit und einem Geschmack, über welche die Huberts selbst ganz erstaunt waren. Abgesehen von dem, was sie sie gelehrt hatten, brachte sie ihre Leidenschaftlichkeit mit, die den Blumen Leben, den Symbolen Glauben verlieh. Unter ihren Händen belebten sich Seide und Gold, ein mystischer Seelenflug verlieh den unscheinbarsten Ornamenten Schwung, sie gab sich ganz dieser Arbeit hin mit ihrer ständig wachen Einbildungskraft, ihrem Glauben an die Welt des Unsichtbaren. Einige ihrer Stickereien hatten die Diözese Beaumont so sehr in Aufregung versetzt, daß ein Priester, der Archäologe, und ein anderer, der Gemäldeliebhaber war, sie aufsuchten und in Verzückung gerieten vor ihren Madonnen, die sie mit den naiven Gestalten der Primitiven verglichen. Es war die gleiche Aufrichtigkeit, das gleiche Empfinden für das Jenseits, gleichsam beschlossen in einer peinlich genauen Vollkommenheit der Einzelheiten. Sie hatte die Gabe des Zeichnens, ein wahres Wunder, das ihr, ohne daß sie einen Lehrer gehabt hätte, allein durch ihre abendlichen Studien beim Lampenschein oft erlaubte, ihre Muster zu verbessern, von ihnen abzuweichen, ihrer Phantasie nachzugehen und mit der Spitze ihrer Nadel schöpferisch tätig zu sein. Daher auch traten die Huberts, die erklärten, die Beherrschung des Zeichnens sei für eine gute Stickerin notwendig, trotz ihrer langjährigen Tätigkeit in dem Gewerbe hinter sie zurück. In ihrer Bescheidenheit kam es mit ihnen so weit, daß sie nur noch Angéliques Gehilfen waren, sie mit allen Arbeiten an Prunkgewändern betrauten, für die sie ihr zuarbeiteten.



Was für strahlende und gottselige Wunder gingen vom Anfang bis zum Ende des Jahres durch ihre Hände! Sie lebte nur in Seide, Atlas, Samt, in Gold und Silberstoffen. Sie stickte Meßgewänder, Stolen65, Manipel66, Chorröcke, Dalmatiken67, Mitren68, Kirchenfahnen, Vela69 für Kelche und Ziborien. Doch vor allem kehrten die Meßgewänder beständig wieder mit ihren fünf Farben: dem Weiß für die Bekenner und die Jungfrauen, dem Rot für die Apostel und die Märtyrer, dem Schwarz für die Toten und die Fastentage, dem Violett für die unschuldigen Kindlein, dem Grün für alle Feste; und auch dem Gold, das häufig verwandt wurde, da es Weiß, Rot und Grün ersetzen konnte. In der Mitte des Kreuzes waren es immer dieselben Symbole, die Namenszeichen von Jesus und Maria, das von Strahlen umgebene Dreieck, das Lamm, der Pelikan, die Taube, ein Kelch, eine Monstranz, ein blutendes Herz unter Dornen, während auf dem Kreuzesstamm und auf den Kreuzesarmen Verzierungen oder Blumen entlangliefen, die ganze Ornamentik der alten Stilarten, die ganze Flora üppiger Blumen, Anemonen, Tulpen, Päonien, Granatblumen, Hortensien. Es verging keine Jahreszeit, in der sie nicht die symbolischen Ähren und Weintrauben neu entstehen ließ, in Silber auf Schwarz, in Gold auf Rot. Für die sehr kostbaren Meßgewänder nahm sie Gemälde als Vorlage, Köpfe von Heiligen und als zentrales Bild Mariä Verkündigung, die Krippe, den Kalvarienberg. Bald wurden die Goldborten unmittelbar auf den Untergrund gestickt, bald setzte sie die Streifen aus Seide oder Atlas auf Goldbrokat oder Samt. Und diese geheiligten Herrlichkeiten erblühten, erstanden eine nach der anderen unter ihren schmalen Fingern.

 



Das Meßgewand, an dem Angélique zu diesem Zeitpunkt arbeitete, war ein Meßgewand aus weißem Atlas, dessen Kreuz aus einer Garbe goldener Lilien bestand und mit Rosen in lebhaften Farben aus schattierter Seide durchflochten war. In der Mitte erstrahlte in einem Kranz mattgoldener Rosen sehr reich verziert das Namenszeichen Mariens in rotem und grünem Gold.



Seit einer Stunde, da sie in Flachstich die Blätter der kleinen goldenen Rosen vollendete, hatte nicht ein Wort die Stille gestört. Doch der eingefädelte Faden riß abermals, und als geschickte Arbeiterin fädelte sie ihn unter dem Stickrahmen tastend wieder ein. Als sie dann den Kopf hob, schien sie in einem tiefen Atemzug den ganzen Frühling zu trinken, der hereindrang.



»Ach!« murmelte sie. »War das gestern schön! – Wie gut doch die Sonne tut!«



Hubertine, die gerade ihren Faden wachste, schüttelte den Kopf.



»Ich, ich bin wie gerädert, ich fühle meine Arme nicht mehr. Ich bin eben nicht mehr sechzehn Jahre wie du; und wenn man so selten rauskommt!«



Sie machte sich jedoch sogleich wieder an die Arbeit. Sie bereitete die Lilien vor, indem sie an den bezeichneten Stellen ausgeschnittene Formen aus Pergament festnähte, um ein Relief zu erzielen.



»Und außerdem machen die ersten Sonnenstrahlen einem den Kopf benommen«, fügte Hubert hinzu, der seinen Stickrahmen gespannt hatte und sich jetzt anschickte, das Muster für die Prätexta70 des Chorrockes auf die Seide durchzustechen.



Angélique blickte noch immer unbestimmt, verloren in den Sonnenstrahl, der von einem Strebebogen der Kirche herniederfiel. Und sanft sagte sie:



»Nein, nein, ich hab mich so erquickt, ich habe mich erholt bei diesem ganzen Tag an der frischen Luft.«



Sie hatte das kleine goldene Blätterwerk beendet, sie machte sich an eine der üppigen Rosen, wobei sie ebenso viele eingefädelte Nadeln wie Seidenschattierungen bereithielt, mit Spalt und Rückstichen stickend in derselben Richtung wie die Bewegung der Blütenblätter. Und trotz der Feinheit dieser Arbeit strömten jetzt die Erinnerungen an den Vortag, den sie vorhin im stillen noch einmal erlebt hatte, über ihre Lippen, brachen so zahlreich aus ihr heraus, daß sie gar nicht wieder aufhörte. Sie erzählte vom Aufbruch, vom weiten Land, vom Mittagessen dort unten in den Ruinen von Hautecœur auf den Steinfliesen eines Saales, dessen eingestürzte Mauern hoch über den Ligneul aufragten, der unten in fünfzig Meter Tiefe zwischen den Weiden dahinfloß. Sie war ganz erfüllt davon, von diesen Ruinen, von diesen unter dem Dornengestrüpp verstreuten Gebeinen, die davon zeugten, wie ungeheuer groß der Koloß gewesen, als er aufrecht dastand und die beiden Täler beherrschte. Der sechzig Meter hohe, seiner Krone beraubte, gespaltene Bergfried stand trotz allem fest auf seinen fünfzehn Fuß starken Grundmauern. Zwei Türme hatten ebenfalls widerstanden, der Turm Karls des Großen71 und der Davidsturm, die durch einen fast unversehrt erhaltenen Mittelwall miteinander verbunden waren. Im Innern fand man einen Teil der Gebäude wieder, die Kapelle, den Gerichtssaal, Gemächer; und dies schien von Riesen erbaut, die Treppenstufen, die Fenstersimse, die Bänke auf den Terrassen, in einem für die heutigen Geschlechter übergroßen Maßstab. Es war eine ganze befestigte Stadt, fünfhundert Krieger konnten hier einer Belagerung von dreißig Monaten standhalten, ohne daß es ihnen an Munition oder Lebensmitteln gefehlt hätte. Seit zwei Jahrhunderten sprengten Wildrosenbüsche die Ziegel der unteren Räume auseinander, Flieder und Goldregen blühten auf den Trümmern der eingestürzten Decken, eine Platane war im Kamin des Wachsaales gewachsen. Doch wenn bei Sonnenuntergang das Gerippe des Bergfrieds seinen Schatten über drei Meilen bebauten Landes ausstreckte und wenn die ganze Burg, die gewaltig wirkte im Abendnebel, wieder zu erstehen schien, spürte man noch die einstige Allgewalt, die derbe Kraft, welche aus ihr die uneinnehmbare Festung gemacht hatte, vor der sogar die Könige Frankreichs zitterten.



»Und ich bin sicher«, fuhr Angélique fort, »es hausen Seelen darin, die nachts umgehen. Man hört alle möglichen Stimmen, überall gibt es Tiere, die einen anschauen, und als ich mich beim Fortgehen noch einmal umdrehte, habe ich sehr wohl gesehen, wie große weiße Gestalten über den Mauern schwebten ... Nicht wahr, Mutter, Ihr kennt doch die Geschichte der Burg?«



Hubertine lächelte.



»Oh, Geister! Ich, ich habe nie welche gesehen.«



Aber in Wirklichkeit kannte sie die Geschichte, die sie in einem Buch gelesen, und sie mußte sie auf die drängenden Fragen des jungen Mädchens hin von neuem erzählen.



Das Gebiet gehörte zum Bistum Reims seit dem heiligen Remigius, der es von Chlodwig72 erhalten hatte. Ein Erzbischof, Severinus, ließ in den ersten Jahren des zehnten Jahrhunderts in Hautecœur eine Festung errichten, um das Land gegen die Normannen zu schützen, die die Oise hinaufkamen, in die sich der Ligneul ergießt. Im darauffolgenden Jahrhundert gab es ein Nachfolger des Severinus dem jüngsten Sohn des Hauses der Normandie, Norbert, zum Lehen gegen einen jährlichen Pachtzins von sechzig Sous73 und unter der Bedingung, daß die Stadt Beaumont und ihre Kirche frei blieben. So wurde Norbert I. das Oberhaupt der Marquis d˜Hautecœur, deren berühmtes Geschlecht seitdem die Geschichte erfüllte. Zur Zeit Hervés IV., der zweimal wegen Raubes von kirchlichen Gütern mit dem Bann belegt wurde, ein Wegelagerer war und mit eigener Hand dreißig Bürgern auf einmal die Kehle durchstach, ließ Ludwig der Dicke74 den Hauptturm schleifen, weil Hervé gewagt hatte, ihn zu bekriegen. Raoul I., der mit Philipp August75 an einem Kreuzzug teilnahm, kam vor Akka durch einen Lanzenstoß ins Herz ums Leben. Doch der Berühmteste war Johann V., der Große, der im Jahre 1225 die Festung wiederaufbaute, in weniger als fünf Jahren diese furchtgebietende Burg Hautecœur errichtete, in deren Schutz er eine kurze Zeit lang vom Throne Frankreichs träumte; und nachdem er den Metzeleien von zwanzig Schlachten entkommen war, starb er als Schwager des Königs von Schottland76 in seinem Bett. Dann kamen Félicien III., der barfuß nach Jerusalem pilgerte, Hervé VII., der seine Rechte auf den schottischen Thron geltend machte, andere noch, Mächtige und Edle, durch Jahrhunderte hindurch bis hin zu Johann IX., der unter Mazarin77 den Schmerz erlebte, zusehen zu müssen, wie die Burg geschleift wurde. Nach einer letzten Belagerung sprengte man die Gewölbe der Türme und des Bergfrieds, steckte man die Gebäude in Brand, in denen Karl VI.78 in seinem Wahnsinn Zerstreuung gesucht und die fast zweihundert Jahre später Heinrich IV.79 acht Tage lang mit Gabrielle d˜Estrées80 bewohnt hatte. Alle diese königlichen Erinnerungen schliefen jetzt unter dem Grase.



Ohne ihre Nadel still zu halten, hörte Angélique leidenschaftlich erregt zu, als sei die Erscheinung jener dahingegangenen Herrlichkeiten auf ihrem Stickrahmen erstanden, je mehr die Rose in dem zarten Leben der Farben darauf Gestalt annahm. Ihre Unkenntnis der Geschichte ließ die Ereignisse gewichtiger erscheinen, versetzte sie auf den Boden einer wunderbaren Legende.



Sie erbebte darob in entzücktem Glauben, die Burg erstand wieder, wuchs bis zu den Toren des Himmels empor, die Hautecœurs waren die Vettern der Heiligen Jungfrau.



»Und«, fragte sie, »unser neuer Bischof, Monsignore81 d˜Hautecœur, ist dann also ein Nachkomme dieser Familie?«



Hubertine erwiderte, der Bischof müsse von einer jüngeren Linie abstammen, da die ältere seit langem ausgestorben sei. Es sei sogar eine sonderbare Rückkehr, denn jahrhundertelang hätten die Marquis d˜Hautecœur und die Geistlichkeit von Beaumont in Fehde gelebt. Gegen 1150 nahm ein Abt den Bau der Kirche einzig mit den Geldmitteln seines Ordens in Angriff; daher auch fehlte es bald an Geld, das Bauwerk war erst bis zur Höhe der Gewölbe der Seitenkapellen gediehen, und man mußte sich damit begnügen, das Schiff mit einem Holzdach zu decken. Achtzig Jahre gingen dahin, Johann V. hatte gerade die Burg wiederaufgebaut, als er dreihunderttausend Pfund stiftete, die es, zusammen mit anderen Summen, gestatteten, den Bau der Kirche weiterzuführen. Man führte das Schiff vollends auf. Die beiden Türme und die große Vorderfront wurden erst sehr viel später, um 1430, mitten im fünfzehnten Jahrhundert, vollendet. Um Johann V. seine Freigebigkeit zu vergelten, hatte ihm der Klerus, ihm und seinen Nachkommen, das Recht der Bestattung in einer Kapelle der Apsis zugebilligt, die dem heiligen Georg82 geweiht ist und die seitdem die HautecœurKapelle genannt wurde. Doch die guten Beziehungen konnten kaum andauern, die Burg gefährdete ständig die Freiheiten von Beaumont, unaufhörlich kamen Feindseligkeiten um Fragen des Tributes und der Vorherrschaft zum Ausbruch. Eine Frage vor allem, nämlich die Erhebung von Brückengeld, womit die Burgherren die Schiffahrt auf dem Ligneul zu belegen trachteten, verewigte die Streitigkeiten, als der große Wohlstand der Unterstadt mit ihren Manufakturen feiner Leinwand zutage trat. Seit jener Zeit vermehrte sich der Reichtum Beaumonts von Tag zu Tag, während der Reichtum derer d˜Hautecœur abnahm, bis zu dem Augenblick, da, nachdem die Burg geschleift worden, die Kirche triumphierte. Ludwig XIV. machte eine Kathedrale aus ihr, ein Bischofssitz wurde auf dem ehemaligen Anwesen der Mönche erbaut: und der Zufall wollte es heute, daß ausgerechnet ein Hautecœur als Bischof zurückkam, dieser immer noch aufrecht dastehenden Geistlichkeit zu gebieten, die nach vierhundert Jahren des Kampfes seine Ahnen besiegt hatte.



»Aber«, sagte Angélique, »der Bischof ist verheiratet gewesen. Er hat einen erwachsenen Sohn von zwanzig Jahren, nicht wahr?«



Hubertine hatte die Schere genommen, um eine der Musterformen aus Pergament zurechtzuschneiden.



»Ja, Abbé Cornille hat mir das erzählt. Oh, eine recht traurige Geschichte ... Der Bischof ist mit einundzwanzig Jahren Hauptmann unter Karl X.83 gewesen. Mit vierundzwanzig Jahren nahm er 1830 seinen Abschied, und man behauptet, er habe bis in seine vierziger Jahre ein vergnügungssüchtiges Leben geführt, voller Reisen, Abenteuer, Duelle. Eines Abends begegnete er bei Freunden auf dem Lande der sehr reichen, wunderbar schönen Tochter des Grafen de Valencay, Paula, die kaum neunzehn Jahre alt war, also zweiundzwanzig Jahre jünger als er. Er liebte sie bis zum Wahnsinn, und sie betete ihn an, man mußte die Heirat beschleunigen. Damals kaufte er die Ruinen von Hautecœur für ein Spottgeld zurück, für zehntausend Francs, glaube ich, in der Absicht, die Burg instand zu setzen, denn er träumte davon, sich mit seiner Frau dort niederzulassen. Neun Monate lang hatten sie tief in einem alten Besitztum in Anjou84 verborgen gelebt und sich geweigert, irgend jemand zu sehen, weil ihm die Stunden zu rasch verrannen ... Paula bekam einen Sohn und starb.«



Hubert, der gerade die Zeichnung mit weißen Fäden umstoch, sah sehr blaß aus, als er aufblickte.



»Ach, der Unglückliche!« murmelte er.



»Man erzählt, er wäre fast daran gestorben«, fuhr Hubertine fort. »Eine Woche später trat er in den Orden ein. Das ist zwanzig Jahre her, und heute ist er Bischof ... Aber man erzählt sich auch noch, er habe sich zwanzig Jahre lang geweigert, seinen Sohn zu sehen, jenes Kind, das seine Mutter das Leben gekostet hatte. Er hatte es sich vom Halse geschafft, indem er es bei einem Onkel seiner Frau, einem alten Abbé, unterbrachte, wollte nichts mehr von dem Kind erfahren und suchte es ganz zu vergessen. Eines Tages, als man ihm ein Bild des Kleinen schickte, glaubte er seine geliebte Tote wiederzusehen, man fand ihn starr auf dem Fußboden liegend, als habe ein Hammerschlag ihn niedergestreckt ... Und dann haben wohl das Alter, das Gebet jenen tiefen Gram gemildert, denn der gute Abbé Cornille sagte mir gestern, der Bischof habe jetzt endlich seinen Sohn zu sich gerufen.«



Angélique, die die Rose vollendet und so frisch gestaltet hatte, daß Duft dem Atlas zu entströmen schien, schaute wieder aus dem besonnten Fenster, mit traumversunkenen Augen. Sie wiederholte mit leiser Stimme:



»Der Sohn des Bischofs ...«

 



Hubertine beendete ihre Geschichte.



»Ein junger Mann, schön wie ein Gott, scheint es. Sein Vater wünschte einen Priester aus ihm zu machen. Aber der alte Abbé hat nicht gewollt, weil es dem Kleinen gänzlich an Berufung dazu fehlt ... Und Millionen! Fünfzig Millionen, nach dem, was man erzählt! Ja, seine Mutter soll ihm fünf Millionen hinterlassen haben, die in Grundstücken in Paris angelegt wurden und jetzt einen Wert von mehr als fünfzig ausmachen sollen. Kurzum, reich wie ein König!«



»Reich wie ein König, schön wie ein Gott«, wiederholte unbewußt Angélique mit ihrer verträumten Stimme. Und gedankenverloren nahm sie vom Stickrahmen eine mit Goldfaden bewickelte Bretsche, um sich an das Übersticken einer großen Lilie zu machen. Nachdem sie den Faden in den Spalt der Bretsche gelegt hatte, befestigte sie sein Ende mit einem Seidenstich ganz dicht an der Kante des Pergaments, was die plastische Stärke bewirkte. Dann sagte sie noch, während sie arbeitete, ohne ihren Gedanken zu Ende zu führen, versunken ins Unfaßliche ihres Verlangens: »Oh, ich, ich wünschte, ich wünschte ...«



Tiefe Stille sank wieder herab, durch die nur der gedämpfte Gesang aus der Kirche tönte. Hubert übertrug seine Zeichnung, indem er mit einem Pinsel über alle durchgestochenen Linien der Pause fuhr; und die Ornamente des Chorrockes erschienen so in Weiß auf der roten Seide. Er war es, der zuerst wieder sprach:



»Jene alten Zeiten, wie herrlich war es damals! Die vornehmen Herren trugen Gewänder, die ganz steif waren von Stickereien. In Lyon verkaufte man den Stoff bis zu sechshundert Pfund die Elle. Man muß die Satzungen und Vorschriften der Stickermeister lesen, in denen gesagt wird, daß die Sticker des Königs das Recht haben, mit bewaffneter Gewalt die Arbeiterinnen der anderen Meister zu requirieren ... Und wir hatten Wappenschilder: blaues Feld mit goldgemustertem Balken, begleitet von drei ebensolchen Lilienblüten, zwei im Schildhaupt, eine im Schildfuß ... Ach, war das damals schön, aber es ist schon lange her!« Er schwieg, klopfte mit dem Fingernagel auf den Stickrahmen, um die Stäubchen davon zu entfernen. Dann fuhr er fort: »In Beaumont berichtet man von den Hautecœurs noch eine Sage, die meine Mutter mir oft erzählte, als ich klein war ... Eine furchtbare Pest verheerte die Stadt, die Hälfte der Einwohner war schon umgekommen, als Johann V., jener, der die Festung wiederaufgebaut hat, gewahr wurde, daß Gott ihm die Kraft sandte, die Geißel zu bekämpfen. Da begab er sich barfuß zu den Kranken, kniete nieder, küßte sie auf den Mund; und sobald seine Lippen sie berührt hatten und dabei sprachen: ›So Gott will, so will auch ich‹, waren die Kranken geheilt. Deshalb sind diese Worte der Wahlspruch der Hautecœurs geblieben, die alle seit jener Zeit die Pest heilen ... Ach! Stolze Männer! Ein fürstliches Geschlecht! Er, der Bischof, nannte sich Johann XII., bevor er in den Orden eintrat, und dem Vornamen seines Sohnes muß gleichfalls eine Zahl folgen, wie dem eines Fürsten.«



Jedes seiner Worte wiegte Angélique in ihrer Träumerei und ließ sie sie weiterträumen. Sie wiederholte mit derselben singenden Stimme:



»Oh! Ich wünschte, ich, ich wünschte ...« Während sie die Bretsche hielt, ohne den Faden zu berühren, sprengte sie das Gold, indem sie es wechselnd über die Form herüber und hinüber führte und es bei jeder Wendung mit einem Seidenstich befestigte. So erblühte nach und nach die große goldene Lilie. »Oh! Ich wünschte, ich wünschte, ich könnte einen Prinzen heiraten ... Einen Prinzen, den ich nie gesehen habe, der eines Abends, wenn der Tag sich neigt, kommt, mich bei der Hand nimmt und mich in einen Palast führt ... Und ich wünschte, er wäre sehr schön, sehr reich, oh, der Schönste, der Reichste, den die Erde jemals getragen hat! Pferde, die ich unter meinen Fenstern wiehern höre, Edelsteine, deren Flut auf meine Knie herabrieselt, Gold, ein Regen, eine Sündflut von Gold, das aus meinen beiden Händen fällt, sobald ich sie auf tue ... Und dann wünschte ich noch, mein Prinz müßte mich bis zum Wahnsinn lieben, und auch ich müßte ihn wie wahnsinnig lieben. Wir müßten sehr jung sein, sehr rein und sehr edel, immerdar, immerdar!«



Hubert hatte von seinem Stickrahmen abgelassen und war lächelnd näher getreten, während Hubertine dem jungen Mädchen freundschaftlich mit dem Finger drohte.



»Ach, du Eitle! Ach, du Unersättliche! Bist du denn unverbesserlich? Du hast ja eine blühende Phantasie mit deinem Wunsch, Königin zu sein. Dieser Traum da ist zwar weniger garstig als das Stehlen von Zucker oder unverschämte Antworten, aber im Grunde steckt der Teufel dahinter, Leidenschaft und Hoffart sind es, die da sprechen.«



Fröhlich sah Angélique sie an.



»Mutter, Mutter, was sagt Ihr da? – Ist es denn Sünde, zu lieben, was schön und reich ist? Ich liebe es, weil es schön ist, weil es reich ist und weil es mich, so scheint mir, da im Herzen wärmt ... Ihr wißt recht wohl, daß ich nicht eigennützig bin. Das Geld, ach! Ihr würdet sehen, was ich mit dem Gelde machte, wenn ich viel davon hätte. Es würde nur so über die Stadt regnen, es würde zu den Armen fließen. Ein wahrer Segen, keine Armut mehr! Zuerst würde ich Euch reich machen, Euch und Vater, ich würde Euch mit Kleidern und Gewändern aus Brokat sehen wollen wie eine vornehme Dame und einen vornehmen Herrn aus der alten Zeit.«



Hubertine zuckte die Achseln.



»Kleine Närrin! – Aber, mein Kind, du bist arm, du, du wirst einmal nicht einen einzigen Sou Mitgift bekommen. Wie kannst du von einem Prinzen träumen? Du würdest also einen Mann heiraten, der reicher ist als du?«



»Und ob ich ihn heiraten würde!« Und auf ihrem Gesicht malte sich höchstes Erstaunen. »Ach ja, ich würde ihn heiraten! – Da er ja dann Geld hätte, wozu sollte ich dann welches haben? Ich würde ihm alles verdanken, ich würde ihn nur um so mehr lieben.«



Diese siegreiche Schlußfolgerung entzückte Hubert. Er zog gern mit dem Kind auf Wolkenflügeln davon. Er rief:



»Sie hat recht.«



Doch seine Frau warf ihm einen unzufriedenen Blick zu. Sie wurde streng.



»Meine Tochter, du wirst schon noch sehen, du wirst das Leben noch kennenlernen.«



»Das Leben, das kenne ich.«



»Wo hättest du es kennenlernen sollen? – Du bist zu jung, du kennst das Böse nicht. Geh, das Böse ist da, und es ist allmächtig.«



»Das Böse, das Böse ...« Angélique sprach dieses Wort langsam aus, um seinen Sinn zu durchdringen. Und in ihren reinen Augen stand die gleiche unschuldige Verwunderung. Das Böse, sie kannte es wohl, die »Legenda aurea« hatte es ihr zur Genüge gezeigt. War nicht der Teufel das Böse? Und hatte sie nicht gesehen, wie der Teufel immer wieder erstand, aber immer wieder besiegt wurde? Bei jeder Schlacht blieb er, krumm und lahm geschlagen, jämmerlich am Boden liegen. »Das Böse, ach, Mutter! Wenn Ihr wüßtet, wie wenig es mich kümmert! – Man braucht sich nur zu überwinden, und man lebt glücklich.«



Hubertine machte eine Gebärde kummervoller Besorgnis.



»Du wirst es mich noch bereuen lassen, daß ich dich in diesem Hause erzogen habe, nur mit uns, abseits von allen, so unwissend über das Leben ... Von was für einem Paradies träumst du denn? Wie stellst du dir die Welt vor?«



Das Gesicht des jungen Mädchens wurde von einer unermeßlichen Hoffnung erhellt, während es, vornübergeneigt, mit der gleichen stetigen Bewegung die Bretsche führte.



»Ihr haltet mich wohl für recht dumm, Mutter? – Die Welt ist voller braver Leute. Wenn man rechtschaffen ist und arbeitet, wird man dafür immer belohnt ... Oh, ich weiß, es gibt auch einige schlechte Menschen. Aber zählen die denn? Man verkehrt nicht mit ihnen, sie werden schnell bestraft ... Und dann, seht Ihr, die Welt, die wirkt von weitem wie ein großer Garten auf mich, ja, wie ein unermeßlicher Park voller Blumen und Sonne. Es ist so schön zu leben, das Leben ist so süß, daß es gar nicht schlecht sein kann.« Gleichsam berauscht vom Glanz der Seiden und des Goldes, ereiferte sie sich. »Das Glück, das ist etwas sehr Einfaches. Wir, wir sind glücklich. Und warum? Weil wir uns lieben. Seht Ihr, schwerer ist das nicht ... Auch wenn derjenige kommt, den ich erwarte, dann werdet Ihr es ja erleben. Wir werden uns gleich erkennen. Ich habe ihn nie gesehen, doch ich weiß, wie er sein muß. Er wird eintreten und sagen: ›Ich komme, dich zu holen.‹ Dann werde ich sagen: ›Ich habe dich erwartet, ich folge dir.‹ Ich werde ihm folgen, und es wird sein für immerdar. Wir werden in einen Palast ziehen und in einem goldenen, mit

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