Das Geld

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Aus der Reihe: Die Rougon-Macquart #18
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Jetzt kannte Frau Caroline ihre Geschichte. Die Gräfin Beauvilliers hatte unter ihrem Gatten, der ein Wüstling war, viel gelitten, sich aber nie beklagt. In Vendôme hatte man ihn ihr eines Abends röchelnd, mit einer Kugel im Leib, ins Haus gebracht. Man sprach von einem Jagdunfall: irgendein Schuß von einem eifersüchtigen Forstaufseher, dessen Frau oder Tochter er genommen hatte. Und das schlimmste war, daß mit ihm das einst riesige Vermögen der Beauvilliers dahingeschwunden war, unermeßliche Ländereien, wahrhaft königliche Güter, die schon vor der Revolution zusammengeschrumpft waren und die sein Vater und er vollends durchgebracht hatten. Von dem gesamten großen Grundbesitz blieb ein einziger Pachthof, Les Aublets, einige Meilen von Vendôme entfernt, der an die fünfzehntausend Francs Jahreszinsen einbrachte, die einzige Hilfsquelle der Witwe und ihrer beiden Kinder. Das Palais in der Rue de Grenelle war längst verkauft worden, das Haus in der Rue Saint-Lazare verschlang den größten Teil der fünfzehntausend Francs aus dem Pachthof, denn es war mit Hypotheken überlastet und von der Versteigerung bedroht, wenn die Zinsen nicht bezahlt wurden; es blieben kaum noch sechs- oder siebentausend Francs für den Unterhalt von vier Personen, für die Lebenshaltung einer adligen Familie, die nicht abdanken wollte. Schon vor acht Jahren, als die Gräfin Witwe geworden war und mit einem zwanzigjährigen Sohn und einer siebzehnjährigen Tochter den Zusammenbruch ihres Hauses erlebte, hatte sie in ihrem Adelsstolz dem Schicksal Trotz geboten und sich geschworen, lieber von Wasser und Brot zu leben, als von ihrem Rang herabzusteigen. Seitdem hatte sie nur noch den einen Gedanken, ihre gesellschaftliche Stellung zu behaupten, ihre Tochter mit einem Mann von gleichem Adel zu verheiraten, aus ihrem Sohn einen Soldaten zu machen. Ferdinand hatte ihr zunächst durch ein paar Jugendtorheiten, Schulden, die bezahlt werden mußten, übermäßige Sorgen bereitet; aber nachdem er in einer feierlichen Unterredung über ihre Lage unterrichtet worden war, hatte er nicht wieder angefangen. Denn im Grunde besaß er ein zärtliches Gemüt, war einfach nur müßig und unbedeutend, wurde aus jedem Amt abgeschoben und fand keinen annehmbaren Platz in der heutigen Gesellschaft. Jetzt, als Soldat des Papstes, gab er ihr immer noch Anlaß zu heimlicher Angst, denn er war von schwächlicher Gesundheit und trotz seines stolzen Äußeren empfindlich; bei seiner Blutarmut war das römische Klima gefährlich für ihn. Was Alices Heirat betraf, so wollte und wollte sie sich nicht anbahnen, und der traurigen Mutter standen die Augen voller Tränen, wenn sie ihre schon gealterte Tochter anschaute, die im Warten dahinwelkte. Trotz ihres schwermütigen und unscheinbaren Aussehens war sie keineswegs einfältig, sie sehnte sich glühend nach dem Leben, nach einem Mann, der sie lieben würde, nach Glück; doch weil sie die Familie nicht noch mehr betrüben wollte, tat sie so, als hätte sie auf alles verzichtet, machte sich über die Ehe lustig und sagte, daß sie berufen sei, eine alte Jungfer zu werden. Nachts aber schluchzte sie in ihr Kopfkissen und glaubte vor Schmerz über ihr Alleinsein sterben zu müssen. Die Gräfin hatte es durch die Wunder ihres Geizes immerhin geschafft, zwanzigtausend Francs beiseite zu legen, Alices ganze Mitgift; desgleichen hatte sie aus dem Schiffbruch einige Schmuckstücke gerettet, ein Armband, Fingerringe und Ohrringe, die etwa zehntausend Francs wert waren – eine sehr magere Mitgift, ein Brautgeschenk, von dem sie nicht einmal zu sprechen wagte, da es kaum für die ersten Ausgaben langen würde, wenn der erwartete Ehemann vorstellig werden sollte. Und doch wollte sie nicht verzweifeln, sondern kämpfte weiter, gab keines der Vorrechte ihrer Geburt auf, war noch immer vornehm und angemessen reich und hielt es für unter ihrer Würde, zu Fuß auszugehen oder am Empfangsabend ein Zwischengericht weniger zu reichen. Dafür knauserte sie in ihrem verborgenen Leben, verurteilte sich wochenlang dazu, Kartoffeln ohne Butter zu essen, um der doch nie ausreichenden Mitgift der Tochter fünfzig Francs hinzuzufügen. Tagtäglich erlegte sie sich diesen schmerzlichen und kindischen Heldenmut auf, während über ihren Köpfen das Haus von Tag zu Tag immer mehr verfiel.

Indessen hatte Frau Caroline bis dahin noch keine Gelegenheit gefunden, mit der Gräfin und ihrer Tochter zu sprechen. Mittlerweile kannte sie die intimsten Einzelheiten aus ihrem Leben, Einzelheiten, die die Beauvilliers vor der ganzen Welt verborgen glaubten, doch sie hatten bislang nur Blicke getauscht, Blicke, die sich unbewußt in ein plötzliches Gefühl der Zuneigung verwandeln können. Die Fürstin dʼOrviedo sollte sie einander näherbringen. Sie war auf den Gedanken gekommen, für ihr »Werk der Arbeit« eine Art Aufsichtskommission aus zehn Damen zu bilden, die wöchentlich zweimal zusammenkamen, das »Werk« eingehend in Augenschein nahmen und alle Abteilungen kontrollierten. Da sie sich vorbehielt, diese Damen selbst auszuwählen, hatte sie als eine der ersten Madame de Beauvilliers benannt, die früher eine ihrer besten Freundinnen gewesen und heute, da sie zurückgezogen lebte, einfach ihre Nachbarin geworden war. Und als die Aufsichtskommission plötzlich ohne Sekretärin war, hatte Saccard, der bei der Verwaltung des Hauses das große Wort führte, den Einfall, Frau Caroline als eine Mustersekretärin zu empfehlen, wie man sie nirgendwo anders finden könne. In der Tat war die Arbeit ziemlich mühselig, es gab viel Schreibereien, und man mußte manchmal sogar mit Hand anlegen, was diesen Damen ein wenig zuwider war; aber von Anfang an offenbarte sich Frau Caroline als eine bewundernswerte Hausmutter; ihre unbefriedigte Mutterschaft, ihre übermäßige Kinderliebe entfachten in ihr eine lebhafte Zärtlichkeit für alle diese armen Wesen, die man aus der Pariser Gosse zu retten versuchte. So war sie bei der letzten Kommissionssitzung der Gräfin Beauvilliers begegnet; die Gräfin hatte aber nur einen ziemlich kühlen Gruß an sie gerichtet, um ihre heimliche Verlegenheit zu verbergen, denn zweifellos spürte sie, daß sie in ihr eine Zeugin ihres Elends vor sich hatte. Jetzt grüßten sich beide, sooft ihre Augen sich trafen und es eine zu große Unhöflichkeit gewesen wäre, so zu tun, als kennte man sich nicht.

Eines Tages beobachtete Frau Caroline wie gewöhnlich vom Fenster des großen Arbeitszimmers aus die Gräfin und deren Tochter bei ihrem Gang durch den Garten, während Hamelin einen Plan nach neuen Berechnungen berichtigte und Saccard daneben stand und ihm bei der Arbeit zusah. An jenem Morgen entdeckte sie an den Füßen der beiden Frauen Schuhe, die so abgetragen waren, daß nicht einmal eine Lumpensammlerin sie von der Straße aufgelesen hätte.

»Ach, die armen Frauen!« murmelte sie. »Wie schrecklich muß diese Komödie des Luxus sein, die sie meinen spielen zu müssen!«

Und sie trat zurück, verbarg sich hinter dem Vorhang, aus Furcht, die Mutter könnte sie bemerken und noch mehr darunter leiden, so belauert zu werden. Sie selbst hatte sich in den drei Wochen, die sie allmorgendlich an diesem Fenster verbrachte, beruhigt. Der große Kummer über ihre Verlassenheit schwand; es war, als ließe sie der Anblick des Unglücks anderer ihr eigenes Mißgeschick, diesen Zusammenbruch, von dem sie glaubte, er erfasse ihr ganzes Leben, mutiger ertragen. Erneut ertappte sie sich beim Lachen.

Einen Augenblick noch folgte sie mit träumerischem Blick den beiden Frauen in dem von grünem Moos überwucherten Garten. Dann drehte sie sich lebhaft zu Saccard um.

»Sagen Sie mir doch bloß, warum kann ich nicht traurig sein ... Nein, dies Gefühl hält bei mir nicht an, hat nie angehalten, ich kann nicht traurig sein, was mir auch zustößt ... Ob das wohl Egoismus ist? Aber nein, das glaube ich nicht. Das wäre zu häßlich, und wenn ich auch noch so fröhlich bin, so zerreißt es mir trotz allem das Herz beim Anblick des geringsten Schmerzes. Bringen Sie das unter einen Hut, ich bin fröhlich, und ich könnte über alle Unglücklichen weinen, die vorbeigehen, wenn ich mich nicht zurückhielte, weil ich begreife, daß das kleinste Stückchen Brot ihrer Sache viel besser dienen würde als meine unnützen Tränen.«

Während sie das sagte, lachte sie ihr schönes, mutiges Lachen einer tapferen Frau, die geschwätzigem Mitleid die Tat vorzieht.

»Gott weiß«, fuhr sie fort, »ob ich Grund hatte, an allem zu verzweifeln. Ach, das Glück hat mich bisher nicht verwöhnt ... Nach meiner Heirat bin ich in die Hölle geraten, wurde beschimpft und geschlagen, und ich habe manchmal gedacht, daß mir nur noch übrigbliebe, ins Wasser zu gehen. Ich bin nicht ins Wasser gegangen, und als ich vierzehn Tage später mit meinem Bruder in den Orient fuhr, zitterte ich vor Jubel, und eine unermeßliche Hoffnung erfüllte mich ... Und bei unserer Rückkehr nach Paris, als uns beinahe alles fehlte, durchwachte ich scheußliche Nächte, in denen ich uns über unseren schönen Plänen verhungern sah. Wir sind nicht gestorben, ich fing wieder an, von erstaunlichen, glückverheißenden Dingen zu träumen, über die ich manchmal im stillen selber lachen mußte ... Und neulich, als mir dieser furchtbare Schlag versetzt wurde, von dem ich noch nicht einmal zu sprechen wage, war mir, als ob mir das Herz herausgerissen würde; ja, ich habe wirklich gespürt, wie es nicht mehr schlug, ich habe geglaubt, es ist zu Ende, ich habe geglaubt, ich wäre tot. Und dann nichts von allem! Das Leben hat mich wieder gepackt, heute kann ich schon wieder lachen, morgen werde ich wieder hoffen und von neuem leben wollen, immer leben ... Es ist doch komisch, daß ich nicht lange traurig sein kann!«

Saccard, der auch lachte, zuckte mit den Achseln.

»Ach was! Sie sind wie jedermann. Das Leben ist eben so.«

»Glauben Sie?« rief sie verwundert aus. »Mir scheint aber, als gäbe es so traurige Leute, die nie fröhlich sind, die sich das Leben unmöglich machen, so schwarz malen sie es sich aus ... Oh, nicht, daß ich noch Illusionen über die Annehmlichkeit und die Schönheit hätte, die es bietet. Es ist zu hart gewesen, ich habe es zu sehr aus der Nähe gesehen, überall und ungehindert. Es ist abscheulich, wenn nicht gar schändlich. Aber was wollen Sie? Ich liebe es. Warum? Ich weiß es nicht. Rings um mich kann alles in Gefahr sein und zusammenbrechen, ich stehe trotzdem schon am nächsten Tag fröhlich und voll Vertrauen auf den Trümmern ... Ich habe schon oft gedacht, daß mein Fall im kleinen der der Menschheit sei, die in einem gräßlichen Elend lebt, gewiß, die aber von der Jugend einer jeden Generation wieder aufgemuntert wird. Nach jeder Krise, die mich zu Boden wirft, kommt so etwas wie eine neue Jugend, ein Frühling, der neuen Lebenssaft verheißt, mich wieder erwärmt und mein Herz höher schlagen läßt. Das ist wirklich wahr. Wenn ich nach einem großen Kummer auf die Straße hinausgehe und in die Sonne trete, fange ich gleich wieder an zu lieben, zu hoffen, glücklich zu sein. Und das Alter hat mir nichts anhaben können, ich bin so einfältig, daß ich altere, ohne es gewahr zu werden ... Sehen Sie, ich habe für eine Frau viel zuviel gelesen, ich weiß überhaupt nicht mehr, wohin ich gehe, wie es übrigens auch diese ganze weite Welt nicht mal mehr weiß. Aber unwillkürlich scheint mir, daß ich, daß wir alle auf etwas sehr Gutes, sehr Fröhliches zugehen.«

 

Sie bog am Ende alles ins Scherzhafte ab, und doch war sie bewegt, wollte nur verbergen, daß ihre Hoffnung sie hatte weich werden lassen; ihr Bruder hatte den Kopf gehoben und sah sie mit dankbarer Verehrung an.

»Oh, du«, sagte er, »du bist für Katastrophen wie geschaffen, du bist die Liebe zum Leben!«

Bei diesen täglichen Plaudereien am Morgen stellte sich nach und nach eine fieberhafte Erregung ein, und wenn Frau Caroline zu dieser natürlichen Freude zurückfand, die ihrer Gesundheit innewohnte, so rührte das von dem Mut her, den ihr Saccard mit seiner flammenden Begeisterung für die großen Geschäfte einflößte. Es war fast beschlossene Sache, die berühmte Mappe auszubeuten. Unter seiner schallenden hellen Stimme bekam alles Leben, wurde alles noch aufgebläht. Zuerst legte man die Hand aufs Mittelmeer, eroberte es durch die Allgemeine Gesellschaft der vereinigten Dampfschiffahrtslinien; und er zählte die Häfen aller Länder des Küstenstreifens auf, in denen die Schiffe künftig anlegen sollten, und er mischte verblaßte Erinnerungen an die Antike unter seine Begeisterung als Spekulant, pries dieses Meer, das einzige, das die alte Welt gekannt hatte, dieses blaue Meer, an dessen Gestaden einst die Kultur blühte, dessen Wellen die antiken Städte bespülten, Athen, Rom, Tyrus, Alexandria, Karthago, Marseille, all jene Städte, die Europa zu dem gemacht haben, was es ist. Wenn man sich dann dieses langen Weges in den Orient versichert hätte, wollte man unten in Syrien durch das kleine Geschäft mit der Silberbergwerksgesellschaft des Karmel beginnen, einfach ein paar Millionen so nebenbei zu gewinnen; ein hervorragender Auftakt wäre das, denn der Gedanke an ein Silberbergwerk, an scheffelweise in der Erde gefundenes Geld hatte immer etwas Begeisterndes für das Publikum, vor allem wenn man ihm noch einen so ungewöhnlichen und hochtönenden Namen wie Karmel als Aushängeschild hinzufügen konnte. Es gab dort unten auch Kohlevorkommen, Kohle direkt an der Oberfläche des Gesteins, die Gold aufwog, sobald erst Fabriken das Land überzogen; ganz zu schweigen von den anderen kleinen Unternehmungen, die als Zwischenakte dienen würden, die Gründung von Banken, Kartelle für die aufblühenden Industrien, die Ausbeutung der weiten Wälder des Libanon, dessen riesige Bäume an Ort und Stelle verfaulen, weil es an Straßen fehlt. Schließlich kam Saccard auf den großen Bissen zu sprechen, die Gesellschaft der Orient-Eisenbahnen, und da begann er irre zu reden, denn dieses Eisenbahngeflecht, gleich einem Fischernetz über ganz Kleinasien geworfen, bedeutete für ihn die Spekulation, das Leben des Geldes, das sich auf einen Streich dieser alten Welt bemächtigte wie einer neuen, noch unberührten Beute von unschätzbarem Reichtum, die unter der Unwissenheit und dem Schmutz der Jahrhunderte verborgen lag. Er witterte den Schatz, er wieherte wie ein Streitroß beim Geruch des Schlachtfeldes.

Frau Caroline, die einen so rechtschaffenen gesunden Menschenverstand besaß und sich für gewöhnlich allzu hitzigen Einbildungen gegenüber ablehnend verhielt, ließ sich dennoch von dieser Begeisterung hinreißen, sah nicht mehr klar, wie übertrieben alles war. In Wahrheit schmeichelte das ihrer Leidenschaft für den Orient, ihrer Sehnsucht nach diesem wunderbaren Land, in dem sie sich glücklich gewähnt hatte; und unbeabsichtigt peitschte Frau Caroline als logisches Ergebnis mit ihren farbigen Schilderungen, ihren überströmenden Auskünften Saccards Erregung höher und höher. Wenn sie von Beirut sprach, wo sie drei Jahre gelebt hatte, fand sie kein Ende mehr: Beirut am Fuße des Libanon, auf seiner Landzunge zwischen Strand aus rotem Sand und Felsmassen gelegen, Beirut mit seinen Häusern inmitten ausgedehnter Gärten in einem terrassenförmig ansteigenden weiten Rund – welch köstliches, mit Palmen, Orangen- und Zitronenbäumen bepflanztes Paradies. Dann die Küstenstädte, im Norden Antiochia mit seiner versunkenen Pracht, im Süden Saida, das alte Sidon, Akka, Jaffa und Tyrus, das heutige Sur, in dem man von allen anderen Städten etwas wiederfindet, Tyrus, dessen Kaufleute Könige gewesen waren, dessen Seefahrer Afrika umschifft hatten und das heute mit seinem versandeten Hafen nur noch ein Ruinenfeld ist, Staub der Paläste, aus dem sich hier und da ein paar elende Fischerhütten erheben. Sie hatte ihren Bruder überallhin begleitet, sie kannte Aleppo, Angora, Brussa, Smyrna und auch Trapezunt; einen Monat lang hatte sie in Jerusalem gelebt, das im Schacher um die heiligen Stätten entschlummert war, dann zwei weitere Monate in Damaskus, der Königin des Orients, der Industrie- und Handelsstadt, die die Karawanen aus Mekka und Bagdad zu einem Zentrum pulsierenden Lebens machen. Sie kannte auch die Täler und die Gebirge, die Dörfer der Maroniten45 und Drusen46 auf den Hochebenen und in der Tiefe der Schluchten, die bebauten Äcker und die ausgedörrten Felder. Und aus den entlegensten Winkeln, den stummen Einöden wie aus den Großstädten hatte sie die gleiche Bewunderung für die unerschöpfliche, die üppig wuchernde Natur und den gleichen Zorn auf die stumpfsinnigen, bösen Menschen mitgebracht. Wie viele Reichtümer der Natur wurden hier verschmäht oder verschleudert! Sie sprach von den Lasten, die Handel und Industrie zum Erliegen bringen, von diesem schwachsinnigen Gesetz, welches verbietet, in der Landwirtschaft Kapital über eine bestimmte Höhe hinaus zu investieren, und vom althergebrachten Schlendrian, der in den Händen des Bauern den Pflug beläßt, dessen man sich schon vor Christi Geburt bediente, und von der Unwissenheit, in der diese Millionen Menschen noch heute verkommen, gleich idiotischen, in ihrem Wachstum zurückgebliebenen Kindern. Früher war die Küste zu klein, die Städte berührten einander; jetzt hat sich das Leben ins Abendland verzogen, es scheint, als ginge man über einen ungeheuren verlassenen Friedhof. Keine Schulen, keine Straßen, die übelsten Regierungen, eine bestechliche Justiz, ein abscheuliches Verwaltungspersonal, allzu drückende Steuern, absurde Gesetze, Faulheit, Fanatismus, ganz zu schweigen von den ständigen Erschütterungen durch Bürgerkriege und Blutbäder, die ganze Dörfer ausrotten. Da wurde sie böse und fragte, ob es erlaubt sei, das Werk der Natur so zu verderben, ein gesegnetes Land von bestrickendem Reiz so zugrunde zu richten, ein Land, in dem alle Klimazonen anzutreffen waren, die glühenden Ebenen, die gemäßigten Hänge der Gebirge, der ewige Schnee auf den hohen Gipfeln. Und ihre Liebe zum Leben, ihre lebhafte Hoffnung versetzten sie in Glut bei dem Gedanken an den allmächtigen Zauberstab, mit dem die Wissenschaft und die Spekulation an diese alte, schlummernde Erde rühren konnten, um sie aufzuwecken.

»Warten Sie ab!« rief Saccard. »Diese Schlucht im Karmel, die Sie da gezeichnet haben, wo es nur Steine und Mastixsträucher gibt – sobald das Silbererzvorkommen abgebaut wird, wächst dort zunächst ein Dorf, dann eine Stadt empor ... Wir werden die versandeten Häfen freilegen und durch starke Molen schützen. Schiffe mit großem Tiefgang werden da anlegen, wo heute nicht mal Boote vor Anker zu gehen wagen ... Und in den entvölkerten Ebenen, auf den öden Pässen, die unsere Eisenbahnlinien überqueren sollen, werden Sie eine richtige Auferstehung erleben. Ja, Sie sollen sehen, wie die Felder urbar gemacht werden, wie Straßen und Kanäle entstehen, neue Städte aus dem Boden wachsen, wie das Leben endlich zurückkehrt wie in einen kranken Körper, dem man neues Blut zuführt. Ja, das Geld wird diese Wunder vollbringen!«

Und beim beschwörenden Klang dieser durchdringenden Stimme sah Frau Caroline die vorausgesagte Zivilisation wirklich anbrechen. Die nüchternen Zeichnungen, die geometrischen Umrisse nahmen Leben an, bevölkerten sich; das war ihr Wunschtraum von einem Orient, der von seinem Schmutz befreit, aus seiner Unwissenheit gerissen war, der mittels aller Erleichterungen der Wissenschaft den fruchtbaren Boden und das herrliche Klima nutzen konnte. Schon einmal hatte sie dem Wunder beigewohnt, diesem Port Said, das in so wenigen Jahren auf einem kahlen Strand emporgewachsen war – zuerst nur Hütten, die den wenigen Arbeitern der ersten Stunde Obdach gewährten, dann eine Stadt mit zweitausend Seelen, eine Stadt mit zehntausend Seelen, Häuser, riesige Kaufhäuser, ein gigantischer Hafendamm, lebhaftes Treiben und Wohlstand, von menschlichen Ameisen in ihrem Starrsinn geschaffen. Und das war es, was sie erneut vor Augen sah, den unaufhaltsamen Vormarsch, das Drängen des Volkes nach dem größtmöglichen Glück, das Bedürfnis zu handeln, vorwärtszugehen, ohne genau zu wissen wohin, doch unbeschwerter, unter besseren Bedingungen vorwärtszugehen; sie sah den Erdball umgewühlt von dem Ameisenhaufen, der seine Behausung erneuert, und sie sah die fortwährende Arbeit, die Eroberung neuer Genüsse, die verzehnfachte Macht des Menschen, die Erde, die ihm von Tag zu Tag mehr gehört. Das Geld bewirkte diesen Fortschritt, indem es der Wissenschaft half.

Hamelin, der lächelnd zuhörte, ließ nun ein weises Wort fallen.

»All das ist die Poesie der Ergebnisse, aber wir sind noch nicht einmal bei der Prosa des Anfangs.«

Doch Saccard geriet erst in Hitze, wenn er seine Vorstellungen ins Maßlose trieb, und das wurde schlimmer mit dem Tage, als er sich daranmachte, Bücher über den Orient zu lesen, und eine Geschichte über den Feldzug nach Ägypten47 aufschlug. Schon erfüllte ihn die Erinnerung an die Kreuzzüge, diese Rückkehr des Abendlandes an seine Wiege, das Morgenland, jene große Bewegung, die das ferne Europa in die Ursprungsländer zurückgeführt hatte, die noch in voller Blüte standen und wo es soviel zu lernen gab. Allein die große Gestalt Napoleons, der dorthin auszog, um für ein großartiges und geheimnisvolles Ziel Krieg zu führen, berührte ihn noch mehr. Wenn Napoleon davon sprach, Ägypten zu erobern, dort eine französische Niederlassung zu gründen und auf diese Weise Frankreich das Monopol im Levantehandel zu verschaffen, so sagte er gewiß nicht alles; und Saccard wollte in dieser Seite der Expedition, die unklar und rätselhaft geblieben ist, ein für ihn selbst nicht recht durchschaubares Vorhaben von gewaltigem Ehrgeiz sehen, die Wiedererrichtung eines unermeßlichen Reiches: Napoleon, in Konstantinopel zum Kaiser des Orients und Indiens gekrönt, verwirklichte, größer als Caesar48 und Karl der Große49, den Traum Alexanders50. Sagte er nicht auf Sankt Helena, als er von Sidney sprach, dem englischen General, der ihn vor Akka aufgehalten hatte: »Dieser Mann hat mich um mein Glück gebracht.« Und was die Kreuzzüge versucht hatten, was Napoleon51 nicht hatte vollenden können, dieser gigantische Gedanke an die Eroberung des Orients, eine wohldurchdachte, mit Hilfe der zwiefachen Kraft von Wissenschaft und Geld ins Werk gesetzte Eroberung, entflammte Saccard. Da ja die Kultur von Osten nach Westen gewandert war, warum sollte sie eigentlich nicht in den Osten zurückfinden, heimkehren in den ersten Garten der Menschheit, in dieses Eden der hindostanischen Halbinsel, die in der Ermattung der Jahrhunderte dahinschlummerte? Das wäre eine neue Jugend, er erweckte das irdische Paradies zu neuem Leben, machte es durch die Dampfkraft und die Elektrizität erneut bewohnbar, erhob Kleinasien wieder zum Zentrum der Alten Welt als Knotenpunkt der großen natürlichen Verbindungswege zwischen den Kontinenten. Nicht mehr Millionen waren zu verdienen, sondern Milliarden und aber Milliarden.

Seitdem hatten Hamelin und er allmorgendlich lange Besprechungen. Wenn auch die Hoffnung groß war, so zeigten sich doch zahlreiche Schwierigkeiten von riesigem Ausmaß. Der Ingenieur, der 1862 in Beirut gewesen war, während des entsetzlichen Blutbades, das die Drusen unter den maronitischen Christen anrichteten52 und das Frankreichs Eingreifen erforderlich machte, verhehlte nicht die Hindernisse, auf die man bei diesen Bevölkerungsgruppen stoßen würde, die sich ständig zum Vorteil der türkischen Behörden bekämpften. Allein er besaß in Konstantinopel mächtige Verbindungen, er hatte sich der Unterstützung des Großwesirs Fuad Pascha53 versichert, eines Mannes von echtem Verdienst und erklärten Parteigängers der Reformen; von ihm, so schmeichelte er sich, würde er alle notwendigen Konzessionen bekommen. Obwohl er den unvermeidlichen Bankrott des Osmanischen Reiches prophezeite, sah er andererseits in diesem zügellosen Geldbedürfnis, den Anleihen, die Jahr für Jahr aufgenommen wurden, eher einen günstigen Umstand: eine Regierung in Geldnöten ist, wenn sie keine persönliche Bürgschaft leisten kann, stets bereit, sich mit Privatunternehmen zu verständigen, sobald sie den geringsten Nutzen dabei findet. Und war es nicht eine praktische Art, die ewige und leidige Orientfrage zu lösen, indem man das Reich an großen zivilisatorischen Arbeiten interessierte, indem man es zum Fortschritt führte, damit es nicht mehr diesen ungeheuerlichen Grenzstein zwischen Europa und Asien bildete? Was für eine schöne patriotische Rolle könnten französische Gesellschaften dabei spielen!

 

Dann kam Hamelin eines Morgens in aller Ruhe auf das geheime Programm zu sprechen, auf das er manchmal anspielte und das er lächelnd die Krönung des Gebäudes nannte.

»Wenn wir dann die Herren sind, stellen wir das Königreich Palästina wieder her und setzen dort den Papst ein ... Zunächst wird man sich mit Jerusalem und Jaffa als Seehafen begnügen können. Dann wird Syrien für unabhängig erklärt und angegliedert ... Sie wissen, daß die Zeiten nahe sind, wo das Papsttum wegen der empörenden Demütigungen, denen man es unterwirft, nicht mehr in Rom bleiben kann54. Für jenen Tag müssen wir bereit sein.«

Saccard hörte ihm offenen Mundes zu, wie er diese Dinge arglos mit dem tiefen Glauben eines Katholiken vorbrachte. Er selbst scheute sich nicht vor überspannten Einfällen, aber nie wäre er so weit gegangen. Dieser Mann der Wissenschaft, der nach außen hin so kühl wirkte, verblüffte ihn. Er rief:

»Das ist ja verrückt! Die Pforte55 wird Jerusalem nicht hergeben.«

»Oh, warum nicht?« versetzte Hamelin friedlich. »Sie braucht soviel Geld! Mit Jerusalem hat sie Ärger, so wird sie es billig los. Oft weiß sie nicht, wie sie sich zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften, die sich den Besitz der heiligen Stätten streitig machen, verhalten soll ... Übrigens fände der Papst in Syrien echte Unterstützung bei den Maroniten, denn wie Sie wissen, hat er in Rom ein Kollegium für ihre Priester eingerichtet ... Mit einem Wort, ich habe mir alles gut überlegt, alles vorausgesehen, und eine neue Ära, die triumphale Ära des Katholizismus, wird anbrechen. Vielleicht wird man einwenden, das hieße zu weit gehen, der Papst sei dann gleichsam abgeschnitten von Europa und an seinen Angelegenheiten nicht mehr interessiert. Aber in welchem Glanz wird er erstrahlen, welche Autorität wird er genießen, wenn er an den heiligen Stätten thront und im Namen Christi vom Heiligen Land aus spricht, wo Christus gepredigt hat! Dort ist sein Erbe, dort muß sein Königreich sein. Und seien Sie beruhigt, wir werden dieses Königreich mächtig und fest begründen, wir werden es vor politischen Wirren schützen, indem wir sein Budget aus den Einnahmen des Landes und mit Hilfe einer großen Bank finanzieren, um deren Aktien sich die Katholiken in der ganzen Welt reißen werden.«

Saccard, der zu lächeln angefangen hatte, war von den Ausmaßen des Vorhabens schon verführt, wenn auch noch nicht ganz überzeugt, aber er konnte sich nicht versagen, dieser Bank mit einem Freudenruf über seinen glücklichen Einfall schon einen Namen zu geben.

»Die Bank zum Heiligen Grab, was? Prächtig! Das wird ein Geschäft!«

Er begegnete dem vernünftigen Blick Frau Carolines, die ebenfalls lächelte, aber skeptisch, sogar ein wenig verärgert, und er schämte sich seiner Begeisterung.

»Trotzdem werden wir, mein lieber Hamelin, gut daran tun, diese Krönung des Gebäudes, wie Sie sagen, geheimzuhalten. Man würde sich über uns lustig machen. Und dann ist unser Programm schon mächtig überlastet, es ist angebracht, seine letzten Konsequenzen, das ruhmreiche Ende, allein den Eingeweihten vorzubehalten.«

»Zweifellos, das ist immer meine Absicht gewesen«, erklärte der Ingenieur. »Dies wird das Mysterium sein.«

Und auf dieses Wort hin wurde an jenem Tag endgültig beschlossen, die Mappe auszubeuten, die ganze lange Reihe von Vorhaben in Angriff zu nehmen. Man wollte damit beginnen, ein bescheidenes Kreditinstitut zu schaffen, um die ersten Geschäfte zu tätigen; wenn dann der Erfolg half, konnte man sich allmählich zum Herrn des Marktes aufschwingen und die Welt erobern.

Als Saccard am nächsten Tag zur Fürstin dʼOrviedo hinaufging, um eine Weisung für das »Werk der Arbeit« entgegenzunehmen, kam ihm die Erinnerung an den Traum wieder, mit der er einen Augenblick lang geliebäugelt hatte, nämlich der Prinzgemahl dieser Königin des Almosens, der schlichte Verteiler und Verwalter des Vermögens der Armen zu werden. Und er lächelte, denn er fand das jetzt ein wenig läppisch. Er war dazu geschaffen, Leben zu zeugen, und nicht, die Wunden zu verbinden, die das Leben geschlagen hat. Endlich sollte er wieder an seinem Platz stehen, mitten in der Schlacht der Interessen, und am Wettlauf um das Glück teilnehmen, der von Jahrhundert zu Jahrhundert der Marsch der Menschheit zu größerer Freude und zu mehr Licht gewesen ist.

Am selben Tag traf er Frau Caroline allein im Zeichenraum an. Sie stand an einem der Fenster, wo das Erscheinen der Gräfin Beauvilliers und ihrer Tochter im Nachbargarten zu ungewohnter Stunde sie festhielt Die beiden Frauen lasen mit dem Ausdruck großer Traurigkeit einen Brief, zweifellos ein Brief des Sohnes Ferdinand, dessen Lage in Rom nicht gerade glänzend sein mochte.

»Schauen Sie«, sagte Frau Caroline, als sie Saccard gewahrte. »Noch ein neuer Schmerz für diese Unglücklichen. Die Bettlerinnen auf der Straße tun mir weniger leid.«

»Ach was!« rief er fröhlich aus. »Sie müssen sie bitten, mich zu besuchen. Wir werden auch sie reich machen, da wir ja jedermann zum Glück verhelfen.«

Und in seiner glücklichen, fieberhaften Erregung suchte er ihre Lippen, um sie zu küssen. Aber mit einer schroffen Bewegung hatte sie den Kopf weggezogen und war, von plötzlichem Unbehagen befallen, ernst und blaß geworden.

»Nein, bitte nicht.«

Seitdem sie sich ihm in einem Augenblick mangelnder Selbstkontrolle hingegeben hatte, versuchte er zum erstenmal wieder, sie zu nehmen. Da die ernsten Geschäfte eingeleitet waren, dachte er an sein Glück in der Liebe und wollte auch von dieser Seite her die Lage klären. Ihre lebhaft abweisende Bewegung verwunderte ihn.