Das Geld

Text
Aus der Reihe: Die Rougon-Macquart #18
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Zitternd verharrte er einen Augenblick am Rande des Bürgersteigs. Zu dieser betriebsamen Stunde schien sich das Leben von Paris auf diesen Platz zu ergießen, zentral gelegen zwischen der Rue Montmartre und der Rue Richelieu, den beiden verstopften Verkehrsadern, die die Menge wie Treibsand mit sich führen. Aus den vier Straßen, die von allen Seiten auf den Platz münden, ergoß sich ein ununterbrochener Wagenstrom und durchpflügte das Pflaster inmitten des strudelnden Gewühls der Fußgänger. Unaufhörlich rissen die beiden Droschkenreihen an der Haltestelle längs den Gittern auseinander und schlossen sich wieder, während in der Rue Vivienne die Viktorias26 der Remisiers eine dichte lange Reihe bildeten, überragt von den Kutschern, die sich, die Zügel in der Hand, bereit hielten, beim ersten Befehl auf die Pferde loszupeitschen. Die Stufen und die Vorhalle überschwemmte ein schwarzes Gewimmel von Gehröcken, und von der Kulisse, die schon unter der Uhr zusammengetreten war und ihre Arbeit aufgenommen hatte, stieg der Lärm von Angebot und Nachfrage, dieses Rauschen der Spekulationsflut, sieghaft über das Grollen der Stadt empor. Passanten wandten den Kopf aus Furcht vor dem, was hier geschah, und zugleich in dem Verlangen, das Geheimnis dieser Finanzoperationen zu ergründen, in die nur wenige französische Geister eindringen, dieses unerklärliche plötzliche Entstehen und Zusammenbrechen von Vermögen inmitten dieser wilden Gebärden und barbarischen Schreie. Und am Rande der Gosse, durch die fernen Stimmen betäubt, von den eiligen Leuten angerempelt, träumte Saccard wieder einmal vom Königtum des Goldes in diesem Stadtviertel aller Fieber, in dessen Mitte wie ein mächtiges Herz von eins bis drei die Börse schlägt.

Aber seit seinem Ruin hatte er nicht mehr gewagt, die Börse wieder aufzusuchen; und auch an diesem Tag hielt ihn ein Gefühl verletzter Eitelkeit, hielt ihn die Gewißheit, dort als Besiegter aufgenommen zu werden, davor zurück, die Stufen hinanzusteigen. Und so wie ein aus dem Schlafzimmer seiner Geliebten vertriebener Liebhaber diese nur noch mehr begehrt, auch wenn er sie zu verachten glaubt, kehrte er wie unter einem Zwang hierher zurück, machte er unter nichtigen Vorwänden eine Runde durch den Säulengang, bummelte durch den Garten und schlenderte im Schatten der Kastanienbäume umher. Auf diesem staubigen Square27 ohne Rasen und Blumen, wo auf den Bänken zwischen den Bedürfnisanstalten und den Zeitungsständen verdächtige Spekulanten lungerten, wo barhäuptige Frauen aus dem Viertel ihre Säuglinge stillten, gab sich Saccard als unbeteiligter Spaziergänger, blickte empor, spähte umher, von dem wütenden Gedanken erfüllt, daß er das Gebäude belagerte, daß er es mit einem engen Ring umschloß, um hier eines Tages wieder als Triumphator einzuziehen.

Um die rechte Ecke herum drang er bis zu den Bäumen gegenüber der Rue de la Banque vor und stieß sogleich auf die Winkelbörse für die vom Kurszettel gestrichenen Wertpapiere, auf die »Naßfüßler«, wie diese Spekulanten des Trödels mit spöttischer Verachtung genannt wurden, die unter freiem Himmel im Schlamm der Regentage die Aktienkurse der liquidierten Gesellschaften notieren. Ein Haufen Juden, schmutzig gekleidet, bildete dort eine lärmende Gruppe, lauter fettige, glänzende Gesichter, dürre Profile wie bei gefräßigen Vögeln, eine ungewöhnliche Ansammlung von typischen Nasen, dicht bei dicht, als wollten sie sich mit kehligen Rufen auf eine Beute stürzen oder sich untereinander verschlingen. Als er vorüberging, bemerkte er ein wenig abseits einen dicken Mann, der behutsam zwischen seinen großen schmutzigen Fingern einen Rubin in die Höhe hielt, um ihn in der Sonne zu prüfen.

»Sieh mal an. Busch! ... Da fällt mir ein, daß ich zu Ihnen hinauf wollte.«

Busch, der in der Rue Feydeau, Ecke Rue Vivienne ein Geschäftsbüro führte, war ihm zu wiederholten Malen in schwierigen Lagen von großem Nutzen gewesen. Er prüfte weiter verzückt das Feuer des Edelsteins, das breite, ausdruckslose Gesicht emporgerichtet, die großen grauen Augen wie erloschen in dem grellen Licht; man sah seine zu einem Strick zusammengedrehte weiße Halsbinde, die er immer trug, und sein gebraucht gekaufter Gehrock, der früher einmal prachtvoll gewesen sein mußte, jetzt aber unsagbar abgewetzt und fleckig war, reichte ihm bis an die fahlen Haare, die in spärlichen, widerspenstigen Strähnen von seinem kahlen Schädel herabhingen. Das Alter seines von der Sonne ausgebleichten, von den Regengüssen verwaschenen Hutes war nicht mehr zu bestimmen.

Endlich kam er aus seiner Verzückung wieder zu sich.

»Ach, Herr Saccard! Sie machen hier wohl einen kleinen Spaziergang?«

»Ja ... Da ist ein Brief in russischer Sprache von einem russischen Bankier, der sich in Konstantinopel niedergelassen hat, und ich dachte, daß Ihr Bruder ihn mir übersetzen könnte.«

Busch, der in der rechten Hand unbewußt und zärtlich noch immer den Rubin hin und her bewegte, gab ihm die linke und sagte, die Übersetzung würde ihm noch am gleichen Abend zugeschickt. Aber Saccard erklärte, es handele sich nur um zehn Zeilen.

»Ich gehe mal hinauf, Ihr Bruder kann es mir dann gleich vorlesen ...«

Er wurde unterbrochen, weil Frau Méchain hinzutrat, ein Riesenweib, das den Stammbesuchern der Börse wohlbekannt war, eine jener wütenden, erbärmlichen Spekulantinnen, die ihre fetten Finger in allen möglichen dunklen Geschäften haben. Ihr gedunsenes rotes Vollmondgesicht mit den winzigen blauen Augen, der verschwindend kleinen Nase, dem kleinen Mund, aus dem eine flötende Kinderstimme kam, quoll unter dem alten malvenfarbigen Hut hervor, dessen dunkelrote Bänder schief gebunden waren; der riesige Busen und der Wasserbauch ließen das ausgebleichte, völlig verdreckte grüne Popelinekleid in den Nähten krachen. Am Arm hatte sie eine uralte schwarze Ledertasche, groß und geräumig wie ein Koffer, von der sie sich nie trennte. An diesem Tag war die Tasche zum Platzen voll und so schwer, daß sie Frau Méchain zur Seite zog wie einen schiefgewachsenen Baum.

»Da sind Sie ja«, sagte Busch, der offenbar auf sie gewartet hatte.

»Ja, und ich habe die Papiere aus Vendôme bekommen, hier bringe ich sie Ihnen.«

»Schön! Gehen wir zu mir ... Hier ist heute nichts zu machen.«

Saccard hatte einen flackernden Blick auf die große Ledertasche geworfen. Er wußte, daß darin zwangsläufig die vom Kurszettel gestrichenen Papiere, die Aktien der bankrotten Gesellschaften, verschwanden, mit denen die »Naßfüßler« noch spekulieren, Aktien von fünfhundert Francs, die sie sich für zwanzig, für zehn Sous streitig machen in der unsicheren Hoffnung auf ein unwahrscheinliches Wiederanziehen des Kurses oder die sie zweckmäßigerweise gleich als strafbare Ware handeln, um sie mit Gewinn den Bankrotteuren abzulassen, die ihre Passiva28 aufblähen wollen. In den mörderischen Schlachten der Finanzwelt war die Méchain der Rabe, der den marschierenden Armeen folgt; nicht eine Gesellschaft, nicht ein großes Kreditinstitut brach zusammen, ohne daß sie mit ihrer Tasche erschien, ohne daß sie, selbst in den glücklichen Stunden der triumphierenden Emissionen29, die Leichen in der Luft witterte; denn sie wußte wohl, daß die Niederlage unabwendbar war, daß der Tag des Gemetzels kommen würde, an dem es Tote zu fressen und Wertpapiere für umsonst im Schlamm und im Blut aufzulesen gab. Und ihm, der sein großes Bankprojekt erwog, schauderte leicht; eine Vorahnung durchzuckte ihn beim Anblick dieser Tasche, dieses Beinhauses der entwerteten Aktien, in dem alles aus der Börse gefegte schmutzige Papier verschwand.

Als Busch die alte Frau mitnehmen wollte, hielt ihn Saccard zurück.

»Dann kann ich also hinaufgehen und treffe Ihren Bruder bestimmt an?«

Die Augen des Juden blickten mit einemmal sanft und drückten eine unruhige Überraschung aus.

»Meinen Bruder, aber sicher! Wo soll er denn sonst sein?«

»Sehr schön, bis gleich!«

Und Saccard, der die beiden gehen ließ, setzte entlang den Bäumen seinen langsamen Gang zur Rue Notre-Dame-des-Victoires fort. Auf dieser Seite des Platzes herrscht besonders reger Verkehr; Geschäfte und Etagenfirmen, deren goldene Schilder in der Sonne aufflammten, nehmen die ganze Front ein. Markisen knatterten an den Balkonen, eine Familie aus der Provinz stand offenen Mundes am Fenster einer Pension. Mechanisch hob Saccard den Kopf und betrachtete diese Leute, deren Verblüffung ihn lächeln ließ und ihn in dem Gedanken bestärkte, daß es in der Provinz immer Aktionäre geben würde. Hinter seinem Rücken hielt der Aufruhr der Börse, das Rauschen einer fernen Flut an, verfolgte ihn wie eine Drohung, ihn einzuholen und zu verschlingen.

Aber eine neuerliche Begegnung hielt ihn fest.

»Wie, Jordan, Sie an der Börse?« rief er und drückte einem großen braunhaarigen jungen Mann mit einem kleinen Schnurrbärtchen und entschlossener, eigensinniger Miene die Hand.

Jordan, dessen Vater, ein Bankier aus Marseille, seinerzeit nach unseligen Spekulationen Selbstmord begangen hatte, klapperte seit zehn Jahren, besessen von der Literatur, in einem tapferen Kampf gegen das graue Elend das Pariser Pflaster ab. Ein Vetter von ihm, der in Plassans ansässig war und dort Saccards Familie kannte, hatte ihn seinerzeit Saccard empfohlen, als dieser in seinem Haus am Parc Monceau ganz Paris empfing.

»Oh, ich an der Börse, niemals!« erwiderte der junge Mann mit einer heftigen Gebärde, als wollte er die tragische Erinnerung an seinen Vater verscheuchen.

Dann lächelte er wieder.

»Sie wissen doch, daß ich mich verheiratet habe ... Ja, mit einer früheren Spielgefährtin. Wir hatten uns zu einer Zeit verlobt, da ich noch reich war, und sie hat es sich in den Kopf gesetzt, trotz allem den armen Teufel zu wollen, der ich geworden bin.«

»Ganz recht, ich habe ja die Anzeige bekommen«, sagte Saccard. »Und stellen Sie sich vor, ich stand vor Jahren in Verbindung mit Ihrem Schwiegervater, Herrn Maugendre, als er seine Zeltplanenfabrik in La Villette hatte. Er muß sich dabei ein hübsches Vermögen verdient haben.«

 

Dieses Gespräch fand in der Nähe einer Bank statt, und Jordan unterbrach Saccard, um ihm einen dicken, untersetzten Herrn von militärischem Aussehen vorzustellen, der dort saß und mit dem er zuvor geplaudert hatte.

»Hauptmann Chave, ein Onkel meiner Frau ... Frau Maugendre, meine Schwiegermutter, ist eine Chave aus Marseille.«

Der Hauptmann hatte sich erhoben, und Saccard begrüßte ihn. Er kannte dieses apoplektische Gesicht mit dem vom Tragen des Uniformkragens steif gewordenen Hals vom Sehen, Chave war einer jener kleinen Spekulanten in Kassageschäften, denen man an diesem Ort mit Sicherheit täglich von eins bis drei begegnen konnte. Sie betreiben das Börsenspiel mit Kleingewinnst, einem fast sicheren Gewinn von fünfzehn bis zwanzig Francs, den man am gleichen Börsentag realisiert.

Um seine Anwesenheit zu erklären, hatte Jordan mit seinem gutmütigen Lächeln hinzugefügt:

»Mein Onkel ist ein wilder Börsenjobber, dem ich nur manchmal im Vorbeigehen die Hand drücke.«

»Freilich«, sagte der Hauptmann schlicht, »ich muß schon spekulieren, denn die Regierung läßt mich ja mit ihrer Pension verhungern.«

Darauf fragte Saccard den jungen Mann, der ihn ob seines Lebensmutes interessierte, wie es mit der Schriftstellerei vorangehe. Und Jordan, der immer vergnügter wurde, erzählte von der Einrichtung seines armseligen Haushalts im fünften Stock eines Hauses in der Avenue de Clichy; denn die Maugendres, die kein Zutrauen zu einem Dichter hatten, glaubten mit ihrer Einwilligung in die Ehe schon viel getan zu haben und hatten ihrer Tochter nichts mitgegeben unter dem Vorwand, daß sie nach dem Tode der Eltern sowieso das unangetastete, durch Ersparnisse fett gewordene Vermögen bekommen würde. Nein, die Literatur ernähre ihren Mann nicht. Er plante einen Roman, fand aber keine Zeit zum Schreiben und hatte sich gezwungenermaßen auf den Journalismus verlegt, wo er alles hinpfuschte, was in sein Fach fiel, vom Lokalteil bis zur Gerichtsberichterstattung und sogar bis zur Rubrik »Vermischtes«.

»Na schön!« sagte Saccard. »Wenn ich meine große Sache steigen lasse, kann ich Sie vielleicht brauchen. Besuchen Sie mich doch mal.«

Nachdem er gegrüßt hatte, bog er hinter die Börse ab. Dort endlich hörte das ferne Stimmengewirr, hörte das Gebell des Börsenspiels auf und war nur noch ein unbestimmtes Geräusch, das im Grollen des Platzes unterging. Auch auf dieser Seite waren die Stufen von Menschen überflutet, aber das Maklerzimmer, dessen rote Wandbespannung durch die hohen Fenster zu sehen war, hielt den Krach aus dem großen Saal von dem Säulengang fern, wo sich die feinen, die reichen Spekulanten einzeln oder in kleinen Gruppen bequem in den Schatten gesetzt und so die weite, nach drei Seiten offene Vorhalle in eine Art Klub verwandelt hatten. Diese Rückseite des Gebäudes war ein wenig wie die Kehrseite eines Theaters, der Bühneneingang mit der anrüchigen, verhältnismäßig ruhigen Straße, jener Rue Notre-Dame-des-Victoires, in der sich Weinhandlungen, Cafés, Braustuben und Schenken aneinanderreihten, die von einer besonderen, seltsam gemischten Kundschaft wimmelten. Auch an den Firmenschildern erkannte man das Unkraut, das am Rande der benachbarten großen Kloake in die Höhe schoß: übel beleumdete Versicherungsgesellschaften, Börsenzeitungen, die ihr Gewerbe wie Straßenraub betrieben, Gesellschaften, Banken, Agenturen, Büros, die ganze Reihe bescheidener Halsabschneider, die sich in Butiken oder Zwischengeschossen von Handbreite eingerichtet hatten. Auf den Bürgersteigen, mitten auf der Straße, überall lungerten Männer herum und lagen, gleich Räubern am Waldessaum, auf der Lauer.

Saccard war innerhalb der Gitter stehengeblieben und schaute mit dem scharfen Blick eines Heerführers, der den Platz, den er im Sturm nehmen will, von allen Seiten her prüft, auf die Tür, die in das Maklerzimmer führte. Da trat ein großer Kerl aus einer Schenke, kam über die Straße und verbeugte sich sehr tief.

»Ach, Herr Saccard, haben Sie nichts für mich? Ich habe den Crédit Mobilier30 für immer verlassen und suche eine Stellung.«

Jantrou, ein ehemaliger Professor, war wegen einer undurchsichtigen Geschichte von Bordeaux nach Paris gekommen. Er hatte die Universität verlassen müssen; heruntergekommen, aber ein hübscher Bursche mit seinem fächerförmigen schwarzen Bart und seiner frühzeitigen Glatze, überdies gebildet, intelligent und liebenswürdig, war er mit ungefähr achtundzwanzig Jahren an der Börse gelandet, hatte sich dort zehn Jahre lang als Remisier durchgeschlagen, sich in Verruf gebracht und dabei kaum das für seine Laster notwendige Geld verdient. Und heute, da er gänzlich kahlköpfig war und sich wie eine Dirne härmte, die von ihren Falten den Broterwerb bedroht sieht, wartete er immer noch auf die Gelegenheit, die ihm zum Erfolg, zum Reichtum verhelfen sollte.

Als Saccard ihn so demütig sah, erinnerte er sich voller Bitternis an Sabatanis Gruß bei Champeaux: keine Frage, ihm blieben nur die anrüchigen und die verkrachten Existenzen. Aber es fehlte ihm nicht an Achtung vor Jantrous scharfem Verstand, und er wußte wohl, daß man die tapfersten Truppen aus den Verzweifelten zusammenstellt, aus jenen, die alles wagen, weil sie alles zu gewinnen haben. Er gab sich wohlwollend.

»Eine Stellung?« wiederholte er. »Nun, da läßt sich vielleicht was machen. Besuchen Sie mich mal.«

»Rue Saint-Lazare wohnen Sie jetzt, nicht wahr?«

»Ja, Rue Saint-Lazare. Kommen Sie gleich früh.«

Sie plauderten. Jantrou war über die Börse sehr aufgebracht; ein Schurke müsse man sein, um dort Erfolg zu haben, wiederholte er mit dem Groll eines Mannes, der bei seinen Schurkenstreichen kein Glück gehabt hatte. Das war nun vorbei, er wollte etwas anderes versuchen; dank seiner Universitätsbildung und seinen Bekanntschaften in der Gesellschaft, so meinte er, konnte er sich eine schöne Anstellung bei den Behörden verschaffen. Saccard pflichtete ihm mit einem Kopfnicken bei. Und als sie dann die Gitter hinter sich gelassen hatten und auf dem Bürgersteig bis zur Rue Brongniart gegangen waren, erregte ein dunkles Kupee ihr Interesse: mustergültig bespannt, hielt es in dieser Straße, wobei das Pferd zur Rue Montmartre stand. Indes der Rücken des Kutschers hoch oben auf dem Bock in steinerner Unbeweglichkeit verharrte, tauchte ein Frauenkopf, wie sie bemerkten, zweimal hintereinander am Wagenfenster auf und verschwand gleich wieder. Plötzlich beugte er sich heraus und warf einen langen, ungeduldigen Blick hinter sich in Richtung Börse.

»Die Baronin Sandorff«, murmelte Saccard.

Es war ein ganz ungewöhnlicher brauner Kopf mit schwarzen Augen, die unter bläulichen Lidern brannten, ein leidenschaftliches Gesicht mit blutrotem Mund, das nur eine zu lange Nase entstellte. Sie schien sehr hübsch, zu reif für ihre fünfundzwanzig Jahre; sie sah aus wie eine Bacchantin, die sich von den größten Couturiers31 des Kaiserreichs kleiden ließ.

»Ja, die Baronin«, wiederholte Jantrou. »Ich habe sie bei ihrem Vater, dem Grafen de Ladricourt, kennengelernt, als sie noch ein junges Mädchen war. Oh, der war ein wütender Spekulant und von einer empörenden Rohheit! Jeden Morgen holte ich seine Orders ab, und einmal hat er mich beinahe verdroschen. Ich habe ihm nicht nachgeweint, als er an einem Schlaganfall gestorben ist, nachdem er sich durch eine Reihe jämmerlicher Liquidationen32 ruiniert hatte ... Die Kleine mußte sich damals entschließen, den österreichischen Botschaftsrat Baron Sandorff zu heiraten, der fünfunddreißig Jahre älter war als sie und den sie mit ihren feurigen Blicken buchstäblich verrückt gemacht hatte.«

»Ich weiß«, sagte Saccard.

Der Kopf der Baronin war wieder im Kupee verschwunden. Aber gleich darauf erschien er von neuem, glühte noch mehr, und sie verrenkte sich bald den Hals, um in die Ferne auf den Platz zu schauen.

»Sie spekuliert, nicht wahr?«

»Oh, wie eine Irre! An allen Krisentagen kann man sie dort in ihrem Wagen sehen, wie sie auf die Kurse lauert, sich fieberhaft Notizen in ihr Merkbuch macht, Orders erteilt ... Und sehen Sie, auf Massias hat sie gewartet: da geht er zu ihr.«

In der Tat, mit dem Kurszettel in der Hand, rannte Massias zu ihr, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, und sie sahen, wie er sich auf den Wagenschlag des Kupees stützte, den Kopf hineinsteckte und ein großes Palaver mit der Baronin begann. Saccard und Jantrou entfernten sich ein wenig, um nicht bei ihrem Spionieren überrascht zu werden, und als der Remisier zurückkam, immer noch im Laufschritt, riefen sie ihn an. Er warf erst einen Blick zur Seite und vergewisserte sich, daß er nicht gesehen wurde; dann blieb er stehen, ganz außer Atem; sein blühendes Gesicht mit den großen blauen Augen von kindlicher Reinheit war hochrot und trotzdem fröhlich.

»Was sie bloß haben!« rief er. »Suez purzelt auf einmal. Man spricht von einem Krieg mit England. Eine Nachricht, die sie ganz aus dem Häuschen bringt und von der man nicht mal weiß, woher sie stammt ... Ich bitte Sie, Krieg! Wer kann das bloß erfunden haben? Vielleicht ist das auch von ganz allein entstanden ... Richtig wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«

Jantrou blinzelte mit den Augen.

»Die Dame beißt immer noch an?«

»Oh, wie wild! Ich bringe Nathansohn ihre Orders.«

Saccard, der das hörte, stellte ganz laut eine Überlegung an.

»Ja richtig! Man hat mir doch erzählt, daß Nathansohn in die Kulisse eingetreten ist.«

»Ein sehr netter Junge, der Nathansohn«, erklärte Jantrou, »er verdient es hochzukommen. Wir sind zusammen beim Crédit Mobilier gewesen ... Und er wird es auch zu etwas bringen, denn er ist Jude. Sein Vater, ein Österreicher, hat sich, glaube ich, als Uhrmacher in Besançon niedergelassen ... Sie müssen wissen, eines Tages hat ihn das da drüben beim Crédit gepackt, als er sah, wie das alles so gedreht wird. Und er hat sich gesagt, daß das gar nicht so schwierig sei, daß man nur einen Raum brauchte und einen Schalter aufmachen müßte; und er hat einen Schalter aufgemacht ... Na und Sie, sind Sie zufrieden, Massias?«

»Oh, zufrieden! Sie habenʼs ja selber mitgemacht, und Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß man Jude sein muß. Ist man es nicht, braucht man gar nicht erst zu versuchen dahinterzukommen, man hat eben kein Glück, sondern bloß höllisches Pech ... Ein Hundeberuf! Aber ist man erst mal dabei, bleibt man auch dabei. Und dann habe ich ja noch gute Beine, ich gebe trotz allem die Hoffnung nicht auf.«

Und lachend rannte er wieder los. Es hieß, er sei der Sohn eines mit Schimpf und Schande entlassenen Beamten aus Lyon; nach dem Tode seines Vaters sei er an der Börse gelandet, weil er sein Jurastudium nicht hatte fortsetzen wollen.

Saccard und Jantrou gingen gemächlich in die Rue Brongniart zurück. Dort stand noch immer das Kupee der Baronin, aber die Fenster waren geschlossen, der geheimnisvolle Wagen schien leer zu sein, die Reglosigkeit des Kutschers hatte offenbar noch zugenommen bei diesem endlosen Warten, das oft bis zum letzten Kurswert dauerte.

»Sie ist verteufelt aufreizend«, versetzte Saccard unverblümt. »Ich kann den alten Baron verstehen.«

Jantrou lächelte eigentümlich.

»Oh, dem Baron ist sie, glaube ich, seit langem über. Und er soll sehr knickrig sein, wie man sagt ... Wissen Sie, mit wem sie sich eingelassen hat, um ihre Rechnungen bezahlen zu können, weil die Spekulation nie genug einbringt?«

»Nein.«

»Mit Delcambre.«

»Delcambre, der Generalstaatsanwalt? Dieser große Dürre, der so gelb und so steif ist? ... Na, die möchte ich ja mal zusammen sehen!«

Und die beiden trennten sich, lustig und aufgekratzt, mit einem kräftigen Händedruck, nachdem der eine den andern noch einmal daran erinnert hatte, daß er sich demnächst erlauben würde, ihn zu besuchen.

Als Saccard wieder allein war, wurde er erneut von der lauten Stimme der Börse gepackt, die ihn bei seiner Rückkehr mit dem Eigensinn der Flut umbrandete. Er war um die Ecke gebogen und ging nach der Rue Vivienne zu; er überquerte den Platz auf jener Seite, wo keine Cafés sind und die deshalb so streng wirkt. Er kam an der Handelskammer vorbei, am Postamt und an den großen Werbebüros; seine Betäubung und fieberhafte Erregung nahmen in dem Maße zu, wie er sich wieder der Hauptfassade näherte, und als er einen schrägen Blick auf die Vorhalle werfen konnte, legte er erneut eine Pause ein, als wollte er die Runde um den Säulengang, diese Art leidenschaftlicher Umklammerung, mit der er die Börse umschloß, noch nicht beenden. Dort, wo die Straße breiter wurde, herrschte reges Treiben: eine Woge von Gästen überflutete die Cafés, die Konditorei wurde nicht mehr leer, vor den Schaufenstern ballte sich die Menge, besonders vor der Auslage eines Goldschmiedes, die im Glanz kostbarer Silberarbeiten erstrahlte. Und auf den Kreuzungen an den vier Ecken schien sich der Strom der Droschken und Fußgänger, der aus den Straßen quoll, zu einem unentwirrbaren Durcheinander verdichtet zu haben; die Omnibushaltestelle vergrößerte die Stauung noch, und die Wagenreihe der Remisiers versperrte fast über die ganze Länge des Gitters den Bürgersteig. Aber Saccard starrte auf die obersten Stufen, wo sich in der prallen Sonne einzelne Gehröcke aus der Menge lösten. Dann fiel sein Blick wieder auf die kompakte Masse zwischen den Säulen, ein schwarzes Gewimmel, das die bleichen Flecken der Gesichter kaum aufhellten. Alle standen, die Stühle waren nicht zu sehen, den Kreis der Kulisse, die unter der Uhr saß, konnte man nur an jenem Brodeln erraten, an den wütenden Worten und Gebärden, von denen die Luft erzitterte. Links bei der Gruppe der Bankiers, die mit Arbitragen33 und mit englischen Wechsel- und Scheckgeschäften befaßt waren, ging es ruhiger zu, nur daß unaufhörlich in langer Schlange Leute vorbeizogen, die zum Telegrafen wollten. Bis unter die Seitengalerien drängten und quetschten sich die Spekulanten; und es gab welche, die es sich zwischen den Säulen auf dem Eisengeländer so bequem machten und ihren Bauch oder ihren Rücken rausstreckten, als säßen sie daheim in ihrem Kontor auf einem Samtsessel. Dieses Beben und Grollen einer unter Dampf stehenden Maschine nahm immer mehr zu und versetzte die ganze Börse in flackernde Unruhe. Plötzlich erkannte Saccard den Remisier Massias, der mit großen Sprüngen die Stufen hinunterrannte und in seinem Wagen verschwand. Der Kutscher trieb das Pferd zum Galopp an.

 

Da merkte Saccard, wie sich seine Fäuste ballten. Er riß sich mit Gewalt los, bog in die Rue Vivienne ein und überquerte den Fahrdamm, um die Ecke der Rue Feydeau zu erreichen, wo sich Buschs Haus befand. Ihm war der russische Brief eingefallen, den er sich übersetzen lassen wollte. Aber als er das Haus betrat, grüßte ihn ein junger Mann, der sich vor dem Papierwarengeschäft im Erdgeschoß aufgepflanzt hatte. Es war Gustave Sédille, der Sohn eines Seidenfabrikanten aus der Rue des Jeûneurs; sein Vater hatte ihn bei Mazaud untergebracht, damit er dort den Mechanismus der Finanzoperationen kennenlernte. Saccard lächelte diesem eleganten großen Burschen väterlich zu, denn er ahnte sehr wohl, weshalb Sédille hier auf Posten stand. Die Papierwarenhandlung Conin belieferte die ganze Börse mit Handbüchern, seitdem die kleine Frau Conin ihrem Mann, dem dicken Conin, im Geschäft half. Er selbst kam nie aus seiner Hinterstube heraus und befaßte sich mit der Herstellung, während sie ständig hin und her ging, am Ladentisch bediente und draußen die Besorgungen erledigte. Sie war üppig, blond und rosig, ein richtiges kleines gelocktes Schäfchen mit mattseidenem Haar, sehr reizend und anschmiegsam und immer fröhlich. Ihren Gatten liebte sie sehr, hieß es, was sie jedoch nicht hinderte, zärtlich zu werden, wenn ihr ein Börsenbesucher aus der Kundschaft gefiel – nicht etwa für Geld, sondern allein um des Vergnügens willen und nur ein einziges Mal, im Haus einer Freundin aus der Nachbarschaft, wie man sich erzählte. Auf jeden Fall mußten sich die von ihr Beglückten verschwiegen und dankbar erweisen, denn sie wurde weiterhin angebetet und gefeiert, ohne daß ein häßliches Gerede über sie umging. Und die Papierwarenhandlung blühte weiter, war ein Winkel echten Glücks. Im Vorbeigehen bemerkte Saccard, wie Frau Conin durch die Scheiben hindurch Gustave zulächelte. Was für ein hübsches kleines Schäfchen! Sie wirkte auf ihn wie eine zärtliche Liebkosung. Endlich stieg er hinauf.

Seit zwanzig Jahren hatte Busch ganz oben im fünften Stock eine kleine Wohnung, die aus zwei Zimmern und einer Küche bestand. Als Kind deutscher Eltern in Nancy geboren, war er aus seiner Geburtsstadt hierher verschlagen worden und hatte seinen ungemein verwickelten Geschäftsbereich nach und nach ausgedehnt, ohne das Bedürfnis nach einem größeren Arbeitszimmer zu empfinden; seinem Bruder Sigismond hatte er das Zimmer zur Straße überlassen, während er sich mit dem kleinen Raum auf den Hof hinaus begnügte, in dem sich der Papierkram, die Akten und alle möglichen Pakete derart häuften, daß nur noch für einen einzigen Stuhl am Schreibtisch Platz war. Eines seiner großen Geschäfte war wohl der Handel mit den entwerteten Papieren, die bei ihm zusammenliefen; er diente als Vermittler zwischen der Winkelbörse der »Naßfüßler« und den Bankrotteuren, die Löcher in ihrer Bilanz zu stopfen haben; daher verfolgte er die Kurse, kaufte manchmal direkt und bezog die Mittel dafür aus den Einlagen, die man ihm brachte. Aber außer dem Wucher und einem geheimen Handel mit Schmuck und Edelsteinen befaßte er sich besonders mit dem Ankauf von Schuldforderungen. Und das brachte die Wände in seinem Arbeitszimmer fast zum Einstürzen, das trieb ihn in Paris in alle vier Himmelsrichtungen, ließ ihn wittern und lauern, gewährte ihm Einblick in alle Schichten der Gesellschaft. Sobald er von einem Bankrott erfuhr, lief er herbei, strich um den Konkursverwalter herum und kaufte schließlich alles, woraus man nicht unmittelbar Nutzen ziehen konnte. Er schnüffelte in den Büros der Notare, wartete auf die Eröffnung strittiger Hinterlassenschaften und wohnte den Versteigerungen der hoffnungslosen Schuldforderungen bei. Er veröffentlichte selbst Anzeigen, lockte die ungeduldigen Gläubiger an, die lieber sofort ein paar Sous einstecken als Gefahr laufen wollten, ihre Schuldner gerichtlich belangen zu müssen. Und aus diesen mannigfachen Quellen floß das Papier wirklich körbeweise, entstand der unaufhörlich anwachsende Papierberg eines Lumpensammlers der Schuld: unbezahlte Wechsel, nicht eingelöste Schuldverschreibungen, nicht eingehaltene Vergleiche und Verpflichtungen. Dann begann die Auslese, wurde mit der Gabel in diesem Gericht aus verdorbenen Speiseresten herumgestochert, was ein besonderes, sehr feines Gespür erforderte. In diesem Meer von verschwundenen oder zahlungsunfähigen Schuldnern mußte man eine Auswahl treffen, um sich nicht allzusehr zu verzetteln. Grundsätzlich war er der Meinung, daß jede Schuldforderung, selbst die zweifelhafteste, noch einmal was wert sein konnte, und er besaß eine Reihe bewundernswert geordneter Akten, zu denen ein Namensverzeichnis gehörte, das er von Zeit zu Zeit noch einmal durchlas, um sein Gedächtnis aufzufrischen. Bei den Zahlungsunfähigen war er natürlich mehr hinter jenen her, von denen er glaubte, daß sie Aussichten hatten, bald zu Vermögen zu kommen. Bei seinen Ermittlungen schaute er den Leuten unters Hemd, drang in die Familiengeheimnisse ein, nahm Notiz von den reichen Verwandten, von den Existenzmitteln, vor allem von den neuen Anstellungen, die es erlaubten, Zahlungsbefehle zu erlassen. Oft ließ er auf diese Weise einen Menschen Jahre hindurch reif werden, um ihn beim ersten Erfolg abzuwürgen. Was die verschwundenen Schuldner anlangte, so versetzten sie ihn noch mehr in Leidenschaft und warfen ihn in ein Fieber ständiger Nachforschungen; dauernd hatte er ein Auge auf die Firmenschilder und auf die Namen in den Zeitungen, kundschaftete die Anschriften aus, so wie ein Hund das Wild aufspürt. Und sobald er die Verschollenen und die Zahlungsunfähigen aufgespürt hatte, wurde er grausam, fraß sie mit seinen Unkosten auf, saugte sie aus bis aufs Blut, schlug hundert Francs aus dem, was er mit zehn Sous bezahlt hatte, und führte brutal seine Risiken als Spekulant ins Feld, der gezwungen ist, an denen, die er erwischte, zu verdienen, was er angeblich bei jenen verlor, die ihm wie Rauch durch die Finger gingen.