Berufsabschluss für Erwachsene in der Schweiz

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3.1.6 Armutsbekämpfung und Integration als Ziel der Berufsbildung für Erwachsene

Bereits 1928 stellte der Bundesrat fest, dass im Zusammenhang mit Rationalisierungsbestrebungen «Hilfsarbeiter und Handlanger entbehrlich» würden und dass somit das Fehlen eines Berufsabschlusses ein grosses Risiko darstelle (Schweizerischer Bundesrat, 1928, S. 732). 1931 fanden erste Kurse zur Heranbildung von Maurern und Konfektionsschneiderinnen statt. 1935 wurden die sogenannten Berufslager initiiert, um Arbeitslosen eine berufliche Ausbildung zu ermöglichen (Wettstein, 1987, S. 55f). Bei der Revision der Arbeitsmarktmassnahmen wurden 1982 verschiedene Möglichkeiten zur Qualifizierung von Stellenlosen vorgesehen und in der Folge bedeutende Mittel für Qualifizierungsmassnahmen gesprochen, von denen vor allem die «Ausbildungszuschüsse» für Personen über 30 (in der Praxis über 25) zur nachhaltigen Qualifizierung beitrugen. Eine neue Initiative in diesem Zusammenhang stellt das 2013 lancierte «Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut» dar (EDI, 2013).

«Nach einem Lehrabbruch und mehreren Jahren Sozialhilfeabhängigkeit begann ich eine vierjährige Ausbildung im geschützten Rahmen als Informatiker, Fachrichtung Systemtechnik. Im Sommer 2010 erhielt ich mein EFZ mit sehr guten Noten und fand unmittelbar nach der Ausbildung eine Festanstellung im ersten Arbeitsmarkt.»

C. S.

Auch die Bedeutung der beruflichen Nachqualifizierung für Asylbewerberinnen und Asylbewerber ist heute erkannt, wobei die Schaffung von praktikablen Verfahren und Gefässen erst am Anfang steht. 2012 startete das Staatssekretariat für Migration das bis 2018 laufende Pilotprojekt «Potenziale nutzen – Nachholbildung».

Wie in Kapitel 1 dargelegt, gehen wir in diesem Buch aber nicht auf die Massnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt ein. Sonst wären auch Institutionen und Massnahmen aufzuzählen, die ihren Ursprung im frühen 20. Jahrhundert haben, beispielsweise die WWB Basel, gegründet als «Milchsuppe» im Jahr 1935.[7]

3.2 Sinn und Zweck der beruflichen Grundbildung für Erwachsene

Diese kurze Darstellung der Entwicklung zeigt bereits auf, welche Ziele die Berufsbildung für Erwachsene verfolgt und welche Kräfte sie gefördert haben bzw. heute fördern.

3.2.1 Fachkräftebedarf decken

Das erste Ziel der Berufsbildung war und ist die Versorgung der Wirtschaft und anderer Bereiche der Arbeitswelt mit bedarfsgerecht qualifizierten Arbeitskräften. Gemäss den Medien werden vor allem hochqualifizierte Arbeitskräften gesucht, worunter wohl Personen mit einer Ausbildung auf Tertiärstufe verstanden werden. Hier ist zu differenzieren:

•Untersuchungen zeigen, dass seit Jahren «Facharbeitende» (insbesondere Köche, Bäcker, Metzger, Mechaniker und Elektriker) die Liste der zehn meistgesuchten Berufe in der Schweiz anführen (Manpower, 2015).

•Viele gewerbliche Betriebe leiden unter einem Mangel an Kadernachwuchs und an Fachpersonen, die mit Kunden verhandeln können.

•Werden geringqualifizierte Personen um eine Stufe gefördert, so werden dort wiederum Fachleute frei, die anspruchsvollere Aufgaben übernehmen können.

•Fachkräftebedarf decken heisst zuerst, die eigenen Fachkräfte zu halten. Dazu trägt eine förderorientierte Haltung Wesentliches bei.

•Fachkräftebedarf decken verlangt, dass vorhandene Reservoire genutzt werden. Dazu dienen die Wiedereinstiegskurse, aber auch Massnahmen zur Wiedereingliederung von Kranken und Verunfallten.

•Den Fachkräftebedarf mildern heisst schliesslich, Erwachsene beim Erwerb eines Berufsabschlusses zu fördern, damit sie später in die höhere Berufsbildung einsteigen, anspruchsvollere Aufgaben übernehmen und Kaderkurse besuchen können.

3.2.2 Strukturelle Veränderungen der Arbeitswelt abfedern

Zwar sind in den letzten Jahrzehnten relativ wenige Berufe ganz verschwunden. Bei zahlreichen Berufen haben sich aber die Inhalte infolge technischer oder wirtschaftlicher Entwicklungen in kurzer Zeit massiv verändert, zum Beispiel beim Schriftsetzer (heute Polygraf EFZ genannt) oder bei der Fotofachfrau EFZ. Grosse Veränderungen brachte die Informationstechnologie, zum Beispiel die Ablösung der klassischen Telefonie durch die Übertragung der Sprache über Internet (Voice over IP, VoIP), was eine grundlegende Umschulung der eingesetzten Fachkräfte erfordert.

Häufiger sind Veränderungen in der quantitativen Bedeutung eines Berufs, zum Beispiel in der Textilverarbeitung oder im grafischen Gewerbe. Hier sinkt die Zahl der Arbeitenden, während gleichzeitig andere Bereiche auf Quereinsteiger angewiesen sind, um ihren Fachkräftebedarf zu decken.

Bildung ist ein Hilfsmittel, um die Auswirkungen solcher Veränderungen abzufedern:

•Wechsel in einen der ursprünglichen Tätigkeit völlig fremden Beruf – wir sprechen in einem solchen Fall von interprofessionellem Wechsel –, zum Beispiel von der kaufmännischen Angestellten zur Pflegerin, vom Bauer zum Bäcker (→ Abbildung 3-1). Solche Wechsel sind in der Schweiz eher selten, meist erfolgen sie eher aus persönlichem Antrieb oder als Folge von Unfällen oder Krankheiten.

•Häufiger ist der Wechsel in verwandte Tätigkeiten, der sogenannt intraprofessionelle Wechsel, zum Beispiel vom Bauer zum Gartenbauer, von der kaufmännischen Angestellten zur Logistikerin, und Berufswechsel, die betriebsintern realisiert werden.

•Strukturelle Veränderungen führen oft zu steigenden Kompetenzanforderungen an die Arbeitenden, zum Beispiel im Recycling, in der Betreuung, in der Logistik oder im Facility Management. Dies ist ein klassischer Bereich der beruflichen Grundbildung für Erwachsene, der auch aus Mitteln der Arbeitsmarktbehörden vermehrt unterstützt wird.

Abbildung 3-1 Verschiedene Formen von Berufswechsel


Zu den strukturellen Veränderungen können auch die in den letzten Jahrzehnten wichtigen Veränderungen im Qualitätsmanagement und die steigenden Anforderungen an die Sicherheit gezählt werden. In beiden Bereichen wird immer häufiger verlangt, dass die in der Produktion oder im Service tätigen Personen über genau definierte Qualifikationen verfügen, ja sogar, dass sie bestimmte Qualifizierungsmassnahmen durchlaufen und gewisse formale Abschlüsse erworben haben. Dies gilt beispielsweise für Schweisser, Controller und zunehmend auch im Gesundheitswesen. Dies ist mit ein Grund für die steigende Bedeutung von Abschlüssen (→ Abschnitt 2.1.3).

3.2.3 Sozialpolitische Ziele

Fehlende (Berufs-)Ausbildung ist einer der zentralen Faktoren, die das Risiko für Arbeitslosigkeit und Sozialhilfeabhängigkeit erhöht: Personen ohne berufliche Grundausbildung und solche, die im erlernten Beruf nicht mehr arbeiten können, verursachen der Gesellschaft vermehrt Kosten. Die «Working-Poor-Quote» der Erwerbstätigen ohne nachobligatorische Ausbildung ist 2,7-mal höher als der Durchschnitt (11,4 %) (BFS, 2007). Von den Erwerbstätigen in sogenannten Tieflohnstellen verfügen 32 Prozent über keine Berufsausbildung, weitere 44 Prozent über keinen eidgenössisch anerkannten Abschluss (BFS, 2012). Personen ohne Abschluss auf Sekundarstufe II sind weniger häufig erwerbstätig (70 %) als der Durchschnitt der Bevölkerung (83 %) (von Erlach, 2015). Die Erwerbslosenquote liegt deutlich höher als bei Personen mit höheren Abschlüssen, 2014 mit 8,3 Prozent doppelt so hoch wie bei Personen mit Abschluss auf Sekundarstufe II – und die Kluft wird ständig grösser (→ Abbildung 3-2; Ruch et al., 2015, S. 25). Die Armutsquote ist mit 13,9 Prozent doppelt so hoch wie diejenige von Personen mit einem Abschluss auf Sekundarstufe II (7,3 %) (Ruch et al., 2015, S. 99).

Abbildung 3-2 Qualifikationsspezifische Erwerbslosenquote gemäss ILO-Kriterien, 1996–2014. Quelle: BFS – Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE)


Im Rahmen einer Untersuchung der Berner Fachhochschule (Fritschi, 2009) wurde versucht, die Einsparungsmöglichkeiten abzuschätzen, die sich aus dem Nachholen eines Berufsabschlusses ergeben. Aufgrund von Zahlen der SAKE kamen die Autoren zum Schluss, dass Erwerbstätige ohne Sekundarstufe-II-Abschluss jährlich rund 15 600 Franken weniger verdienen als solche mit Abschluss (Berechnung vgl. Fritschi, 2009). Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ohne Sek-II-Abschluss eine IV-Rente oder eine Rente infolge eines Unfalls oder einer Krankheit bezieht, ist 2,3-mal grösser. Diese Gruppe bezieht auch öfter Sozialhilfe, ist weniger häufig erwerbstätig und leidet eher unter physischen oder psychischen Problemen. All dies hat zur Folge, dass nach Meinung der Autoren von gesellschaftlichen Kosten von rund 10 000 Franken pro Jahr und ausbildungslose Person ausgegangen werden muss.

In einer späteren Studie geht das gleiche Team von Kosten von 6000 bis 10 000 Franken pro Jahr und Person aus. Bezüglich der während eines ganzen Lebens anfallenden Kosten schreiben sie: «Ab dem Alter von 25 Jahren verursacht die Ausbildungslosigkeit gesellschaftliche Kosten von zwischen 230 000 Franken (Diskontsatz 1 %) und 160 000 Franken (Diskontsatz 3 %)» (Fritschi et al., 2012, S. 39).

 

«Nachdem ich über mehrere Jahre von der Sozialhilfe abhängig gewesen war, begann ich im geschützten Rahmen eine Ausbildung als Hauswirtschaftspraktikerin EBA. Aufgrund meiner guten Leistungen konnte ich innerhalb des ersten Semesters in die dreijährige Ausbildung als Fachfrau Hauswirtschaft EFZ wechseln. Schwerwiegende familiäre Probleme und der unerwartete Tod meiner Mutter stürzten mich im Verlauf des zweiten Lehrjahres in eine schwere Krise. Durch regelmässige Coachings und die erfolgreiche Vermittlung in eine Therapie erlangte ich wieder Boden unter den Füssen und absolvierte ein Jahr danach mein EFZ. Danach trat ich direkt eine Festanstellung im ersten Arbeitsmarkt an.»

S. S

Der Bundesrat schätzte im Jahr 2000 die Kosten noch höher ein: Die «systematische Integration von Problemfällen in die Berufswelt» – dazu zählen heute Personen ohne berufliche Grundbildung – erspare allein bei den Sozialhilfeleistungen 18 000 Franken pro Person und Jahr (Schweizerischer Bundesrat, 2000, S. 5740)

Es ist deshalb ein anerkanntes Ziel vieler Massnahmen, geringqualifizierte Personen beruflich zu fördern. Das Problem dabei: Es sind grosse Investitionen erforderlich, vor allem wenn die Förderung über eine Grundbildung erfolgt. Denn in diesem Fall müssen während Jahren Beiträge an die Deckung des Lebensunterhalts geleistet werden (→ Abschnitt 6.1).

Je nach Zielgruppe gibt es verschiedene Programme, die diese Zielsetzung verfolgen:

•Eine Koordination zwischen den zuständigen Stellen für Sozialhilfe und Ausbildungsbeiträge ermöglicht es Sozialhilfe-Beziehenden, zu Lernenden zu werden (→ Abschnitte 7.7 und 7.8).

•Einige Programme haben vor allem alleinerziehende Mütter im Fokus (→ Abschnitt 7.12).

•Migranten und Migrantinnen mit geringer Bildung (einschliesslich Illettristen) werden im Bereich der Grundkompetenzen und der Lokalsprache so weit gefördert, dass sie eine Tätigkeit im ersten Arbeitsmarkt aufnehmen können.

•Migranten und Migrantinnen mit einer guten, in der Schweiz aber nicht anerkannten Ausbildung wird geholfen, ihre Ausbildung anerkennen zu lassen und/oder vorhandene Lücken zu schliessen, was ihnen eine ausbildungsadäquate Tätigkeit ermöglicht (vgl. Schneider, 2015a).

•Stellenlosen wird ermöglicht, ihre Kompetenzen in Programmen zu vertiefen, die auch dann weitergeführt und beendet werden können, wenn sie wieder eine Arbeit gefunden haben (→ Abschnitt 7.2).

EXKURS 1: Einwände

In Diskussionen um die Förderung von Berufsabschlüssen für Erwachsene kreisen die Fragen und Einwände oft um folgende Aspekte:

–Wir konzentrieren unsere Kräfte darauf, möglichst vielen Jugendlichen einen Abschluss zu ermöglichen. Es ist sicherlich richtig, möglichst vielen Jugendlichen einen Abschluss zu ermöglichen. Für einige ist aber das Alter zwischen 16 und 20 nicht die richtige Zeit für eine Ausbildung. Dann ist es sinnvoller zu warten, bis die jungen Menschen selbst die Kraft und Motivation finden, eine Grundbildung in Angriff zu nehmen. Weiter ist zu beachten, dass das Fehlen eines Abschlusses mehrheitlich nicht damit zusammenhängt, dass die Betroffenen nie in eine Ausbildung eingestiegen wären, sondern damit, dass die Ausbildung abgebrochen wurde. 30 bis 50 Prozent aller Lehrvertragslösungen führen zu einem Ausbildungsabbruch, das sind 6 bis 10 Prozent eines Altersjahrgangs (Wettstein, Schmid & Gonon, 2014, S. 186, Fussnote).

Nicht jeder Mensch kann einen Abschluss machen. Das ist wohl richtig. Aber jeder, der die Fähigkeiten dazu hat und irgendwann im Leben die nötige Motivation aufbringt, soll die Möglichkeit dazu bekommen, auch wenn er oder sie bereits weit über 20 ist. Und zudem gibt es für Erwachsene auch Angebote mit bescheidenerem Niveau (→ Abschnitt 5.5).

Wir benötigen Spitzenkräfte. Unter Ausbildungsverweigerern befinden sich immer wieder Personen, die sich durch ihre Unternehmungslust und/oder eine gewisse Rebellion gegenüber Hierarchien und konventionellen Strukturen auszeichnen. Darunter sind durchaus potenzielle Spitzenkräfte zu finden, wie etwa Karrieren von «68ern» gezeigt haben. Im Übrigen zeigt die neuste Manpower-Umfrage, dass heute «Facharbeitende» gesuchter sind als Ingenieure, IC-Spezialisten und Gesundheitspersonal. (Manpower, 2015).

Man kann niemanden zu seinem Glück zwingen. Gewiss. Wenn jemand aber einsieht, dass er oder sie etwas verpasst hat, dann ist es nicht nur im Interesse der Person selbst und der Wirtschaft, sondern der ganzen Gesellschaft, dass er oder sie einen Abschluss nachholen kann, denn Ungelernte sind in hohem Masse gefährdet, immer wieder arbeitslos und oft auch abhängig von der Sozialhilfe zu werden: Von den Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern im Alter von 25 bis 34 Jahren verfügt mehr als die Hälfte über keinen Abschluss der Sekundarstufe II. Das sind etwa 18 000 junge Menschen, die noch dreissig und mehr Berufsjahre vor sich haben. Mit einer «systematischen Integration von Problemfällen in die Berufswelt» können u. a. die Sozialversicherungen entlastet werden. Der Bundesrat schätzt die Einsparungen auf bis zu 18 Millionen Franken pro 1000 Jugendliche und Jahr (Schweizerischer Bundesrat, 2000, S. 5740).

Mit dem Validierungsverfahren und der direkten Zulassung zur Abschlussprüfung haben wir gute Möglichkeiten zur Anerkennung von Gelerntem. Das gilt für Personen mit einschlägigen Vorkenntnissen. Wer nicht bereits über einen grossen Teil der für einen Abschluss erforderlichen Kompetenzen verfügt, dem bleibt heute nicht viel anderes übrig, als eine Grundbildung zu absolvieren.

Die Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass der monatliche Bruttolohn von Personen mit einer abgeschlossenen Berufsbildung um fast 1200 Franken höher liegt als der von Personen ohne Berufsbildung (→ Abbildung 3-3).

Abbildung 3-3 Zusammenhang zwischen durchschnittlichem monatlichen Bruttolohn und Ausbildung. Quelle: BFS, Lohn-Strukturerhebung, Standardisierter Monatslohn 2010.


Die Grafik zeigt auch, dass eine interne Ausbildung, zum Beispiel eine Kurzausbildung (→ Abschnitt 5.5), Vorteile bringt: Der Medianlohn von Personen mit einer solchen Ausbildung ist immerhin um gut 600 Franken höher als jener von Personen ohne. Weiter wird auch der Lohnzuwachs deutlich, den Ausbildungen auf nächsthöheren Bildungsstufen mit sich bringen, für die eine abgeschlossene formale Berufsbildung Voraussetzung ist. Gleichzeitig erhöht sich durch einen Berufsabschluss die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt, was das Risiko, arbeitslos zu werden, verringert.

3.2.4 Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit

Wie in Abschnitt 3.1.5 beschrieben, ist auch die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Gleichwertigkeit von sogenannt «männlichen» und «weiblichen» Kompetenzen ein wichtiges Ziel. Folgende Vorgehensweisen werden in diesem Bereich heute eingesetzt:

•Die Erarbeitung eines Dossiers mit einer vollständigen Auflistung der in verschiedenen Lebensabschnitten erworbenen Kompetenzen. Als Beispiel seien Kindererziehung, Haushaltsmanagement, Verantwortlichkeiten in Vereinen oder im Sport erwähnt. Doch diese informell erworbenen Kompetenzen werden oft nicht als solche erkannt. Erst mit professioneller Unterstützung wird den Teilnehmenden die Fülle ihres Könnens und ihrer Erfahrungen bewusst gemacht. Es erfolgt in der Regel in geleiteten Gruppen und mithilfe von Instrumenten, die den Prozess unterstützen.

•Schliesslich ist auf Bildungsmassnahmen an der Grenze zwischen pädagogischem Arrangement und Coaching-Situation hinzuweisen, in denen es in erster Linie um die Stärkung der eigenen Identität geht.

3.2.5 Integration

Berufsbildung ist – unabhängig vom Alter der Lernenden – ein anerkanntes Mittel zur Förderung der Integration von Migranten und Migrantinnen und von Personen am Rande der Gesellschaft. Wichtig sind hier vor allem Massnahmen, in denen im Rahmen einer qualifizierenden Arbeitstätigkeit in einer Gruppe von lokal verwurzelten Arbeitenden nicht nur berufsspezifische Kompetenzen vermittelt, sondern auch der Gebrauch der Lokalsprache und die Arbeit in gemischten Teams geübt werden.

3.2.6 Bildung anerkennen, Bildung vermitteln

Berufsbildung zur Reduktion des Fachkräftemangels oder zur Bekämpfung von Armut verfolgt utilitaristische Ziele: Bildung ist hier Mittel zum Zweck. Wie jede andere Bildung dient Berufsbildung aber auch der Persönlichkeitsentwicklung, wobei insbesondere Massnahmen wertvoll sind, die Erwachsene unterstützen, sich die im Laufe des Lebens informell erworbenen Kompetenzen bewusst zu machen und so der «Erfahrung einen Wert zu geben» (Valida, 2003).

In diesem Zusammenhang rufen wir gerne in Erinnerung, dass es bei der Berufsbildung von Erwachsenen oft nicht primär um die Vermittlung von neuen Kompetenzen geht, sondern darum, sich bereits erworbene Kompetenzen bewusst zu machen und durch Experten anerkennen zu lassen. Es geht, mit anderen Worten, nicht zuletzt um die Gleichstellung von informell, nichtformal und formal erworbenen Kompetenzen.

Elvira Besirovic




Elvira Besirovic schloss 2014 ihre Ausbildung als Produktionsmechanikerin EFZ an der Gewerblich-Industriellen Berufsfachschule Solothurn ab. Bereits vor ihrer Ausbildung arbeitete sie als Mechanikerin. Auch heute noch ist Elvira Besirovic in der MEM-Branche tätig, jedoch in einer administrativen Stellung.

Aktuelle Situation in der Schweiz

In diesem Teil des Buchs stellen wir die aktuelle Situation der Berufsbildung für Erwachsene in der Schweiz dar. Wir beginnen mit einem Überblick über die rechtlichen Grundlagen (Kapitel 4). Anschliessend zeigen wir, auf welchen Wegen Erwachsene zu einem Berufsabschluss kommen (Kapitel 5), und diskutieren Vor- und Nachteile dieser Wege. Auf der Grundlage einer Analyse der gegenwärtigen Situation streichen wir einige Herausforderungen heraus (Kapitel 6), die gemeistert werden müssen, wenn der Zugang von Erwachsenen zu Abschlüssen der beruflichen Grundbildung verbessert werden soll. Schliesslich werden verschiedene Angebote mit Elementen vorgestellt, die für die Zukunft wegweisend sein könnten (Kapitel 7).

4 Rechtliche Grundlagen

Die wichtigsten rechtlichen Grundlagen der Berufsbildung für Erwachsene sind das Berufsbildungsgesetz (BBG) und die zugehörige Verordnung (BBV). Aber auch andere Erlasse enthalten Bestimmungen, die zu berücksichtigen sind.

4.1 Vorbemerkung

Es ist in der Schweiz so normal, dass es kaum je erwähnt wird: Die berufliche Grundbildung wird normalerweise im Jugendalter absolviert, ihre Angebote sind auf Jugendliche ausgerichtet. Gegen 90 Prozent aller jungen Erwachsenen verfügen heute über einen Abschluss auf Sekundarstufe II (zwei Drittel davon im Bereich der Berufsbildung), und es besteht eine Übereinkunft, wonach dieser Anteil auf 95 Prozent erhöht werden soll (EDK, 2015).

 

Dies ist alles nicht selbstverständlich. Die wichtigste Berufsbildungsinstitution der USA beispielsweise, die Community Colleges, gehört zur Tertiärstufe und richtet sich in erster Linie an junge Erwachsene, die bereits im Erwerbsleben stehen. Deutsche Verhältnisse – um ein zweites Beispiel zu erwähnen – ändern sich derzeit sehr schnell: Im Jahr 2000 war die Zahl der Neuzugänge zum dualen System doppelt so hoch wie zu den Hochschulen. 2013 waren die Neuzugänge zu den Unis erstmals in der Mehrheit (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2014, S. 105). Auch in Schweden spielt sich ein wesentlicher Teil der Berufsbildung auf der Tertiärstufe ab, die entsprechenden Bildungsgänge werden von rund 70 Prozent der jungen Erwachsenen besucht (→ Abschnitt 8.4).

Nochmals: Die Berufslehre kann zwar in jedem Alter absolviert werden. Aber nach den Vorstellungen der Verantwortlichen in Lehrbetrieben, Berufsfachschulen und Ausbildungszentren richtet sie sich an Menschen zwischen 15 und 20 (allenfalls zwischen 18 und 25) im Übergang von der obligatorischen Schule zu einer ersten Tätigkeit im Erwerbsleben. Für diese Gruppe sind auch Zielsetzung, Inhalt und Strukturen optimiert.

Menschen, die den Übergang von der Schule ins Erwerbsleben bereits vollzogen haben und/oder die älter als 25 sind, sind in diesem System «Aussenseiter». Sie verfügen über Lebens- und meist auch Arbeitserfahrung. Sie sind geübt, informell zu lernen, den Wissenserwerb in strukturierten Lernsituationen jedoch nicht mehr gewohnt.

In einer Zeit, in der noch immer mehr als 12 Prozent[8] der Erwachsenen zwischen 25 und 64 über keinen Abschluss einer nachobligatorische Ausbildung verfügen (Wettstein, 2015f), in der zudem ein grosser Teil der Erwerbstätigen früher oder später eine neue Grundbildung erwerben muss oder will, benötigen wir Berufsausbildungen, die auf Erwachsene ausgerichtet sind und die vor allem auch vorhandenes Können und Lebenserfahrung berücksichtigen.

Ansätze dafür sind in verschiedenen Rechtsquellen zu finden. Wir stellen diese Quellen im Folgenden zusammen. Wie bereits in Kapitel 1 dargelegt, verzichten wir dabei auf den Bereich der beruflichen Wiedereingliederung und auch auf die rechtlichen Grundlagen im Zusammenhang mit der Ausbildung von Asylsuchenden und Flüchtlingen.

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