Nesthäkchens Jüngste

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Frau Annemarie ließ das Blatt sinken. Sie heftete den Blick auf das Mikroskop, ohne dasselbe zu sehen. War Vronli glücklich in ihrer schweren, verantwortungsvollen Tätigkeit? In dem Brief stand, sie fühle sich befriedigt. Aber eine Mutter liest noch mehr, als die trockenen Buchstaben zu sagen wissen. Vronli hatte Heimweh! Wenn sie sich so hineindachte in den Kreis ihrer Lieben, so heimfühlte ... Gut, daß ihr die unausgesetzte Arbeit keine Zeit ließ zu überflüssigen Gedanken. Gut – und doch wieder nicht. War dies das Richtige für ein junges Menschenkind? Brauchte ein Mädchen von zwanzig Jahren nicht auch geistige Anregungen, andere Freuden, als nur die, welche ihr aus ihrem aufopfernden Beruf erwuchsen? Wenn Annemarie an ihre eigene Jugendzeit zurückdachte ... sie hatte auch fleißig gearbeitet. Zuerst zum Abiturium, ja, aber was hatten sie nebenbei noch alles aufgestellt. Dann die Tübinger Studienzeit mit den Freundinnen, die heiterste und sorgenloseste Epoche ihres Lebens. Und später im Krankenhause das Zusammenarbeiten mit Rudi, das hatte alles, auch das Schwerste verschönt. Da lebte die Vronli nun in der Stadt der Kunst und kam kaum mal heraus aus ihren Mauern. Puh – Ursel in ihrer überschäumenden, lebenshungrigen Jugend hatte sich geschüttelt, als sie Vronlis Bericht gelesen. Krasse Gegensätze waren die beiden Schwestern. Die eine zu schwerblütig, die andere zu leichtlebig. Aber Sorge machten sie ihr alle beide. Frau Annemarie seufzte schwer.

»Nanu, Herzle, plagst du dich mit den Rechnungen herum? Schau, laß das Zeug bis zum Abend, da machen wir es gemeinsam. Am Verhungern sind wir ja noch nicht.« Der Professor war aufmerksam geworden.

»Ach, Rudi, deine faule Frau muß sich schämen. Nichts, gar nichts habe ich geschafft, als nur Vronlis Brief zum ixten Male studiert. Ich bin gar nicht recht befriedigt davon – –«

»Die Hauptsache, daß sie selbst es ist. Mit deinem Hindenken und Sorgen schaffst du nix, Herzle. Kleine Kinder, kleine Sorgen – große Kinder, große Sorgen. Das ist nicht anders. Aber ich mein', unser Trio ist noch ganz gut geraten, wir können zufrieden sein, gelt? Nur den Herrn Musjöh muß ich mir mal langen, der ist mir mit seinem Zeugnis, scheint's, durchgegangen. Und was die Ursel da hergeredet hat, daß der Junge nimmer Medizin studieren mag, wird wohl nicht so arg ernst zu nehmen sein. Die Zeit ist noch nicht gar so lang vorbei, wo er Droschkenkutscher oder Konditor werden wollte. Kinderei, grad' wie bei der Ursel. Aber nun mach' mir ein anderes Gesicht, Herzle. Ich will eine frohe Miene von dir mit in die Sprechstunde 'neinnehmen, nicht solche essigsaure, wie ich sie gar nimmer von dir gewöhnt bin.«

So war es immer gewesen, in all den Jahren ihrer Ehe. Einer verstand es stets, dem andern die Sorgen zu verscheuchen. Jeder nahm sich zusammen, um dem andern ein heiteres Gesicht zu zeigen. Annemarie schüttelte den Druck, der ihre Frohnatur nur selten mal beschwerte, ab.

»Hast recht, Rudi, man muß die Küken ihren Weg gehen lassen, wenn sie erst mal flügge geworden sind. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, daß derselbe zu ihrem Glück führen möge. So – nun ist es Zeit, mich zu verabschieden. Es hat schon verschiedene Male geklingelt. Sonst zieht sich die Sprechstunde wieder bis zum Abendbrot hin. Den Kaffee schicke ich dir gleich rein, Rudi.« Sie nickte ihrem Mann noch einmal liebevoll zu und verließ das Zimmer.

Hansi kam pfeifend die Treppe, die zu den im oberen Stockwerk gelegenen Zimmern der Kinder führte, herunter.

»Hör mal, mein Junge, es wird allmählich Zeit, daß ich endlich dein Zeugnis zu sehen bekomme«, erinnerte die Mutter den Saumseligen.

»Mußt dich noch ein wenig gedulden, Mutterherz. Eine elektrische Sicherung ist durchgebrannt. Die muß ich erst in Ordnung bringen.« Hans war Handwerker für alles. Mit allen Nöten wandte man sich an ihn. Er hatte eine geschickte Hand, die notwendige Ruhe zu allem und bastelte gern.

Aber dann beim Kaffee, den Mutter und Sohn in traulichem Beieinander einnahmen – Ursel, der Trotzkopf, hatte nicht zu erscheinen geruht – da half es dem Hans nichts mehr. Das Zeugnis mußte herbei.

Es entsprach denn auch durchaus Frau Annemaries Erwartungen. Oder vielmehr, es war noch schlechter als dieselben.

»Ja, aber Junge, das ist ja eine Schundzensur! Wie wird sich der Vater darüber ärgern.« Daß sie selbst aufgebracht darüber war, kam erst in zweiter Linie. »Du kannst, wenn du willst. Es ist nur Trägheit bei dir und Gleichgültigkeit gegen die Anforderungen der Schule. Nichts als Flausen hast du im Kopf. Keinen Ernst – kein Streben – –« Frau Annemarie war noch genau so impulsiv wie dereinst.

Um so ruhiger blieb der filius. »Liegt an der Schule, nicht an mir. Der Kram interessiert mich nicht. Nehmt mich doch raus. Im Leben werde ich schon was Tüchtiges leisten«, meinte er mit überzeugender Selbsteinschätzung.

»Ja, das sagen alle Nichtstuer. Wer in der Schule nicht seine Pflicht tut, vernachlässigt sie auch im späteren Leben.« Es gab eine Zeit, wo Doktor Brauns einstiges Nesthäkchen noch nicht so weise gesprochen.

»Und Onkel Klaus? Er ist der tüchtigste Landwirt, den es gibt. Und war dabei früher doch ein Lausbub ersten Ranges – er hat es mir selbst erzählt, als wir das letzte mal bei ihm an der Waterkant waren. Im Gymnasium hat er nur von milden Gaben sein Dasein gefristet, und kleben geblieben ist er auch mal. Ich bin doch noch immer mit graden Gliedern durchgerutscht«, verteidigte sich Hans. Onkel Klaus war sein Ideal. Der Neffe hatte äußerlich und innerlich viel Ähnlichkeit mit dem Bruder der Mutter, das mochte ihn wohl ganz besonders zu ihm hinziehen.

»Erst leiste das, was Onkel Klaus leistet. Wie du dein Abiturium machen willst, wenn du in den Hauptfächern so schwach bist, ist mir schleierhaft –«

»Mir auch!« Hans seufzte tief und schaute sorgenvoll drein. »Weißt du, Mutter, wir wollen die Angelegenheit mal freundschaftlich besprechen. Wenn ich euch einen guten Rat geben darf, so ist es der –«

»Wir brauchen deinen guten Rat nicht, mein Sohn«, unterbrach ihn die Mutter.

Aber Hans fuhr unbeirrt fort: »Nehmt mich aus der Schule, laßt mich Landwirt werden. Gebt mich zum Onkel Klaus in die Lehre – –«

»Und der Vater? Der dich zu seinem Nachfolger bestimmt hat? Der hofft, daß sein einziger Sohn das, was er in mühevollen Jahren aufgebaut, mal weiter fortführen wird, der dich zu seinem Assistenten heranbilden möchte, Hansi ...«, stellte Annemarie dem Sohne eindringlich vor.

»Kann er nicht. Ein Mensch darf das Schicksal des andern nicht derart beeinflussen. Und wenn es selbst der Vater ist. Jeder muß seinen Weg gehen. Auch Ursel findet das – – –«

»Du bist ja ein ganz dummer Junge! Wenn zwei unreife Menschen dieselbe Ansicht haben, ist es deshalb noch lange nicht eine richtige. Pflicht der Eltern ist es, Kinder, denen die nötige Lebenserfahrung noch fehlt, nach bestem Gewissen zu beraten. Heute wollt ihr dies, morgen jenes. Vorläufig bleibst du ruhig in der Schule, mein Junge. In einem Jahr denkst du vielleicht grade entgegengesetzt.«

»Glaub' ich nicht«, meinte Hans mit sachlicher Ruhe, die zu dem erregten Ton der Mutter in merkwürdigem Gegensatz stand. »Deine Brüder, Onkel Hans und Onkel Klaus sind doch alle beide keine Mediziner geworden, trotzdem der Großvater es sicher auch gewünscht hat, daß einer in seine Fußtapfen tritt.«

»Mein seliger Vater hat es damals auch schwer genug empfunden.« Annemarie warf einen wehmütigen Blick zu dem Bilde ihres Vaters, das Tannengrün schmückte. »Aber er hat dafür seinen Schwiegersohn gehabt – – –«

Hans zuckte die Achsel.

»Da müßt ihr euch an Vronli und Ursel wenden«, meinte er mit männlicher Logik. »Für Schwiegersöhne bin ich nicht verantwortlich.«

»Aber für eine anständigere Zensur zum nächsten Quartal, die bitte ich mir ganz energisch aus! So, mein Sohn, die Angelegenheit ist vorläufig erledigt. Nun werde ich mir die Ursel vornehmen und der den Kopf zurechtrücken. Rufe sie mir mal herunter.«

Frau Annemarie begab sich in ihr nebenan gelegenes Wohnzimmer, halb ernst, halb belustigt den Kopf schüttelnd: »Nein, diese Kinder!«

2. Kapitel
Ursel

Das Doktornest in Lichterfelde hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Es war in die Höhe geschossen wie die drei Hartensteinschen Küken. Einen neuen Oberstock hatte es bekommen, einen Erkeranbau mit Terrasse. Auch Gartenland hatte der Professor dazu gekauft. Nach allen Seiten hatte sich das bescheidene Anwesen gestreckt. Professor Hartenstein war ein berühmter Arzt geworden, der es sich leisten konnte, seiner Annemarie ein schönes, behagliches Heim zu schaffen. Gar stattlich nahm es sich von der Straße her aus. Besonders im Herbst, wenn der wilde Wein es purpurn umglühte. Zwischen den Fenstern gab es selbst im Winter Hyazinthen, Tulpen und Primeln in leuchtender Buntheit. Auch innen hatte es sich verändert. Das Herrenzimmer mit den Lederklubmöbeln und der prachtvollen, die ganze Wand einnehmenden Bibliothek, dem Stolz des Hausherrn, war dazu gekommen. Annemaries Wohnzimmer hatte sich in ein stilvolles Biedermeierzimmer verwandelt. Die lieben alten Möbel der Großmama hatten nach deren Tode – sechs Jahre war es jetzt her – ihren Einzug hier draußen in das Reich der Enkelin gehalten. Das Biedermeierzimmer war seitdem Frau Annemaries liebster Aufenthalt geworden. Hier erzählte jedes Stück von früher, von der alten gütigen Frau, deren Augapfel Doktor Brauns Nesthäkchen einst gewesen. Da war die helle Nussbaumservante mit all den Goldtässchen und den Porzellanpüppchen, der Schäferin und dem Rokokodämchen, die einst das Entzücken der kleinen Annemarie gebildet. Da war das grüne Ripssofa, das ängstlich vor unvorsichtigen Kinderfüßen behütet worden war, mit dem gemütlichen runden Tisch, dessen seine weiße Strickdecke Großmamas fleißige Finger noch eigenhändig fabriziert. Darüber hing das Bild der lieben alten Frau, wie sie unter dem Nussbaum in Lüttgenheide, dem Gute an der Waterkant, mit ihrem Strickzeug saß. Nach einer Amateuraufnahme hatte Annemaries Freundin Vera Burkhard es vergrößert. Daneben schaute Tante Albertinchen mit den Ringellöckchen, Großmamas Schwester, aus goldenem Rahmen. Im Erker stand Großmamas Blumentisch, zum größten Teil noch mit Pflanzen, welche die einstige Besitzerin selbst gepflanzt. Jeden Ableger, jedes Blättchen, jede Knospe zog Annemarie mit einer Liebe, als könnte sie der Großmama dieselbe noch dadurch über das Grab hinaus beweisen. Der kleine, zierliche Nähtisch der Großmama, der ebenfalls Geheimnisse aus Annemaries Kinderzeit barg, ihren ersten mit Prudellöchern garnierten Seiflappen, das Nadelbuch mit der ersten Kreuzsticharbeit und das Häkeldeckchen, das nie fertig geworden, bildete in Gemeinschaft mit Großmamas Lehnstuhl Frau Annemaries Lieblingsplätzchen. Hier regte sie jetzt die fleißigen Hände. Oh, Annemarie hatte es doch noch lernen müssen, das einst so wenig geliebte Stopfen, Flicken und Schneidern. Ursel hatte bisher noch kein Kleid getragen, das nicht die Mutter ihr gearbeitet. Sie verstand es ganz besonders, Ursels schlankem, graziösem Figürchen den richtigen Rahmen zu geben.

 

Hier im Biedermeierzimmer hatte Annemarie alles beieinander, was ihr lieb war. Saß sie am Nähtisch, so schaute sie beim Aufblicken in ihres Vaters kluges Gesicht mit den väterlich treusten Augen, die je ein Kind behütet. Des Vaters Bild stand stets vor Annemarie. Eine Vase mit den Blumen der Jahreszeit daneben. Den Heimgang des Vaters vor anderthalb Jahren konnte Annemarie noch immer nicht verwinden. Mitten in seiner menschenfreundlichen Tätigkeit hatte der Würgeengel den Teuren berührt. Ein Herzschlag hatte seinem segensreichen Mühen, das so oft über den Tod Sieger geblieben, nun selbst ein Ende gesetzt. Annemaries impulsive Natur, welche das Leben im Laufe der Zeit allmählich etwas hatte abebben lassen, brach in elementarem Schmerz hervor. Sie hatte ja schon mehr Menschen hingeben müssen, an denen ihr Herz hing. Die Großmama – die Trauer um dieselbe war eine stille Wehmut gewesen; denn die Lebensuhr der alten Frau war abgelaufen, ihr Dasein erfüllt. Auch hatte sie mit ihrem Manne gemeinsam schweres Leid zu tragen gehabt. Seine einzige Schwester Ola, die Annemaries ältesten Bruder geheiratet hatte, war in der Blüte ihrer Jahre einer tückischen Krankheit, die aller Kunst, aller hingebenden Sorge Hohn sprach, zum Opfer gefallen. Da hatte Annemarie stark sein müssen. Sie mußte ihrem Gatten, ihrem Bruder in der schweren Zeit eine Stütze sein. Eigenes Weh mußte zurückgedrängt werden. Aber beim Tode des Vaters war das anders. Da fühlte sie sich wieder Kind, ein verwaistes Kind, das sich auflehnte gegen das Unerbittliche, Unfaßbare. Mit zarter Innigkeit hatten ihre Lieben sie umschlossen. Rudis liebevolle Fürsorge heilte am besten ihr Weh, verwandelte ihre leidenschaftlichen Schmerzausbrüche in stillgemäßigte Trauer. Die Kinder hatten sie wieder lachen gelehrt. Um ihretwillen durfte sie sich nicht in ihren Schmerz vergraben. Sie wollten ihre Mutter tatkräftig und froh, wie sie dieselbe von jeher kannten. Und dann gab's auch wieder neue Pflichten für Annemarie, die gegen ihre jetzt vereinsamte Mutter. Frau Doktor Braun war nicht dazu zu bewegen, zu einem ihrer Kinder überzusiedeln. Trotzdem es nahe lag, daß sie ihrem Sohne Hans die fehlende Hausfrau ersetzte. Nein, aus ihren lieben Räumen, in denen sie mit dem teuren Gefährten alt geworden war, die das Glück ihres Lebens atmeten, ging sie nicht hinaus. Lieber vermietete sie einen Teil der jetzt viel zu großen Wohnung. Das hatte auch den Vorteil, daß sie sorgenlos leben konnte. Denn Hanne, die treue Alte, die, trotzdem sie nun auch schon auf die Siebzig lossteuerte, noch immer ihre Kräfte dem Braunschen Hause widmete, hatte sofort erklärt: »Wa nehmen Ausländer in Pension, die kennen berappen. Kochen will ich vor ihnen, denn kennen Frau Doktern und meine Wenigkeit janz vor umsonst mitfuttern.« Hannes Rat hatte sich als durchaus praktisch erwiesen. Annemaries Mutter hatte ihr gutes Auskommen dadurch, und was ebenso viel wert war, sie hatte wieder zu denken und zu sorgen. Denn die Braunschen Pensionäre waren wie Kinder im Haus, man riß sich darum, dort Aufnahme zu finden. Und daran war nicht nur Hannes gute Küche schuld.

Annemarie hatte einen Korb Ausbesserwäsche vorgenommen. Trotzdem sie sich jetzt auf Rudis Wunsch Stubenmädchen und Köchin hielt, ihre Einfachheit und Arbeitsamkeit hatte sie nicht eingebüßt. Überall legte sie selbst mit Hand an. »Gönn' dir doch mehr Ruh', Herzle,« sagte Rudi Gott weiß wie oft zu ihr, »du kannst es doch jetzt haben.« Aber sie lachte ihn aus: »Zum Feiern habe ich Zeit, wenn ich alt bin. Arbeit erhält jung. Ich habe in den ersten Jahren unserer Ehe viel zu sehr heran müssen, um nun plötzlich die elegante Dame spielen zu können. Das liegt mir nun mal nicht.«

Um so mehr aber lag das ihrer jüngsten Tochter, dem Fräulein Ursel. Die ließ sich nur zu gern bedienen. Die rührte am liebsten überhaupt nichts im Haushalt an. Na, da kam sie bei Annemarie grade an die Rechte. Zu jeder Arbeit zog die Mutter sie heran, soweit die Schulpflichten Ursel nicht in Anspruch nahmen. Ursel rümpfte die Nase, streikte auch wohl mal; aber sie hatte ihre Mutter viel zu lieb, um dann nicht doch das Gewünschte zu tun. Daß sie es nicht für die Mutter, sondern für sich selbst tat, verstand sie noch nicht. Annemarie wollte ihre Kinder unabhängig machen von andern. Sie hatte es an sich selbst empfunden, daß es nicht gut tat, daheim verwöhnt und verweichlicht zu werden. Doktor Brauns Nesthäkchen hatte es im Elternhause allzu gut gehabt. Hanne, die sie schon auf den Armen gewiegt, hatte ihr jede häusliche Arbeit abgenommen. »Unser Kind is vor so was ville zu schade, davor is ja die Hanne da«, pflegte sie zu antworten, wenn Frau Doktor Braun ihr Vorstellungen machte. Es war gut gemeint, aber es rächte sich später im eigenen Nest. Da kamen die kleinen Kinder, da kamen Dienstbotenmiseren. Frau Annemarie hatte viel Lehrgeld zahlen müssen, bis sie sich zur Meisterschaft durchgerungen. Davor wollte sie ihre Kinder bewahren. Aber es war nicht immer ganz leicht. Denn die Mädchen, welche ihr junges lustiges Fräulein Ursel abgöttisch liebten, taten ihr alles zu Gefallen, und Ursel verstand das schlau auszunützen. Es wiederholte sich eben alles im Leben.

Wo blieb denn die Ursel? Hans hatte ihr die Bestellung doch sicher ausgerichtet. War sie wieder mal eigensinnig und leistete keine Folge?

Annemarie seufzte. Ursels Erziehung war nicht so ganz einfach. Vronli und Hans hatten sich ziemlich von selbst erzogen. Ursel war ungleich schwieriger. Sie verband bestrickende Liebenswürdigkeit mit einer starken Mischung von Selbstbewusstsein und Eigenmächtigkeit. Weiche Zärtlichkeit mit eigensinniger Hartnäckigkeit. Dazu ein gut Teil Schlauheit und weibliche Eitelkeit. Jeder hatte ihr von klein auf gesagt, was für ein reizendes kleines Ding sie sei, daß sie selbst natürlich davon am meisten überzeugt war. Da konnte nur eine liebevolle Mutter die Auswüchse verständnisvoll beschneiden, denn mit Strenge war Ursel nicht zu kriegen.

Grade als Annemarie ihre Arbeit beiseite legen wollte, um selbst mal nach ihrem saumseligen Nesthäkchen zu sehen, hörte man auf der Treppe Schritte. Oder vielmehr Sprünge von einem zweibeinigen und einem vierbeinigen Wesen. Die Tür ward aufgerissen, hereinstürzte ein großer Hühnerhund. Dahinter Ursel, zum Ausgehen gerüstet.

»Ursel, bringe den Hund hinaus. Du weißt, ich mag ihn nicht in den Wohnräumen«, ordnete die Mutter an.

»Ach, Cäsar ist ein so braver Kerl, das nimmt er übel, wenn man ihn rausschmeißt. Und er hat das Biedermeierzimmer so gern. Er hat entschieden Schönheitssinn«, verteidigte Ursel ihren Liebling.

»Ich finde es notwendiger, daß du dich um das kümmerst, was ich gern oder nicht gern habe, Ursel«, sagte Frau Annemarie mit leisem Vorwurf.

»Puh – Mutti, mach' kein Gouvernantengesicht. Das steht dir nicht.« Aber da die Miene der Mutter sich nicht aufheiterte, wie das sonst öfters der Fall war, wenn Ursel ihren Spaß mit ihr trieb, setzte sie hinzu: »Schieß los, Muzi. Ich hab' nicht viel Zeit. Du hast mich zur feierlichen Audienz befohlen.« Für gewöhnlich hatte Ursel durch ihre drollige Art die Lacher auf ihrer Seite. Heute versagte ihr Erfolg bei der Mutter.

»Du wirst für das, was ich mit dir besprechen will, Zeit haben, Ursel. Wo willst du denn überhaupt hin?«

»Überall und nirgends. Zuerst mal zu Ruth oder zu Edith. Zu irgendeiner gleichgestimmten Seele, die wie ich ihre lang ersehnte Freiheit heute genießen will.«

»Ja, aber höre mal, liebes Kind, soweit geht diese Freiheit denn doch noch nicht, daß du ohne Erlaubnis fortgehst«, wandte die Mutter ein.

Ursel warf den Kopf mit dem prachtvollen Goldhaar ungezogen zurück. »Jetzt bin ich aus der Schule und erwachsen, folglich kann ich auch tun und lassen, was ich will«, gab sie keck zur Antwort. Aber da die Mutter sie nur, ohne sich zu äußern, stumm anschaute, setzte sie noch einmal, freilich nicht mehr ganz so selbstbewußt »na ja!« hinzu.

»Wenn du dich auf einen solchen unreifen und unverständigen Standpunkt stellst, haben wir beide uns nichts mehr zu sagen.« Frau Annemarie war selbst erstaunt über die Ruhe, mit der sie Ursel begegnete. Früher wäre ihr das niemals möglich gewesen. Rudis Gleichmäßigkeit hatte sicher schon abgefärbt. Sie griff nach den Handtüchern und begann den Faden wieder durch das dünn gewordene Gewebe zu ziehen.

Ursel sah unschlüssig auf die Mutter. Hätte dieselbe sie zurechtgewiesen, wie sie es verdient hatte – Ursel war klug genug, um das selbst einzusehen –, dann wäre sicher ihr Trotz geweckt worden. So aber tat ihr die ungezogene Antwort leid.

»Du kannst mir ja erst noch sagen, was du von mir willst. Soviel Zeit habe ich schon noch«, lenkte sie ein.

»Ich habe jetzt die Lust dazu verloren. Geh nur, du bist ja von heute an selbständig.« Die Mutter blickte nicht auf.

»Also denn meinetwegen. Du willst es ja selbst.« Da meldete er sich wieder, der Trotzkopf. Ursel pfiff Cäsar und verließ das Zimmer. Ein paar Minuten später sah Annemarie sie von ihrem Erkerplatz aus den Kiesweg zum Gartenausgang entlanggehen.

»Balg!« sagte Frau Annemarie aus innerstem Herzen heraus. Mit dem Mädel würde man noch einen schweren Stand haben. Man hatte ihm eben zu viel Willen gelassen, es allzu sehr verzogen. Das war wohl meist das Los der Nesthäkchen. Dabei war es ein so gutes Kind, die Ursel. Annemarie lächelte über sich. Da nahm sie doch die Krabbe, die das wahrlich nicht verdient hatte, vor sich selbst schon wieder in Schutz.

Die Sonne hatte sich wieder mal verkrochen. Dem April fiel es ein, plötzlich einen Wolkensack voll Schneeflocken auf die Erde auszustäuben. Tatsächlich, es schneite. Annemarie blickte besorgt in den Garten hinaus. Dort gab es allenthalben schon Augen und Blattknospen an Baum und Strauch. Ein Jammer, wenn das zugrunde ging.

Nanu, kam da nicht Cäsar zurück? Dann war die Ursel auch nicht weit davon. Denn die beiden waren unzertrennlich. Als winziges Hundebaby hatten die Kinder Cäsar in einem Eierkörbchen aus seiner Heimat an der Waterkant nach Berlin transportiert. Sie hatten Onkel Klaus, bei dem sie stets die Ferien zubrachten, so lange in den Ohren gelegen, bis er ihnen eins von den sieben »süßen« braunen Geschöpfen, die so drollig umherkrabbelten, geschenkt hatte. Annemarie war zwar nicht begeistert davon. Seitdem Puck, der Gefährte ihrer Kindertage, das Zeitliche gesegnet, hatte sie ihr Herz nicht wieder an eine Hundeseele gehängt! Ein Hund machte Mühe und Kosten. Und überhaupt solch ein junges, unerzogenes Tier, das noch nicht mal stubenrein war. Annemaries Hausfrauenherz lehnte sich gegen das neue Familienmitglied energisch auf. Aber wenn Ursel was wollte, dann wollte sie es eben. Außerdem hatte sie einen guten Verbündeten an Hans, der für alles, was da kreucht und fleucht, besonderes Interesse hatte. Und wenn es noch dazu von der Waterkant stammte, war ihm die Sympathie von Hans gewiß. Auch Rudi ließ diesmal seine Annemarie im Stich; der treulose Mann begab sich auf die Seite der Gegenpartei. Ein Hund sei für die Kinder der beste Spielgefährte, meinte er, außerdem auch ein Schutz für das Haus, wenn er in der Stadt wäre. Da hatte aber Frau Annemarie lachen müssen. Dieses winzige Ding von einem Krabbelwesen, kaum größer als eine Hand, sollte ihr Schutz sein! Aber sie ward überstimmt, und selbst ihr Vorschlag, Cäsar so lange in Lüttgenheide zu lassen, bis Onkel Klaus ihm die ersten Regeln des Hundeanstands beigebracht hätte, fand kein Gehör. Die Kinder wollten Cäsar unter allen Umständen mitnehmen, und auch Klaus meinte, es sei besser, wenn der Hund nicht erst die Freiheiten eines Gutes kennen lerne, sondern so früh wie möglich zu der Erkenntnis käme, ein wohlerzogener Stubenhund werden zu müssen. Ach, hätte Frau Annemarie geahnt, was ihrer harrte, sie hätte sich mit all ihrer Energie der Aufnahme des vierbeinigen Hausgenossen entgegengesetzt. Keine ruhige Minute hatte sie mehr. Cäsar, der in der ersten Zeit bescheiden umhergekrochen, begann alsbald zu springen, und zwar in so wilden Sätzen, als müsse er sich dafür schadlos halten, daß man seine Freiheit in Stadtmauern gezwängt. Keine Vase, keine Statue war vor ihm sicher. Alles wankte und schwankte um Frau Annemarie. Ihren besten hellila Teppich, über den sie selbst am liebsten schwebte, benutzte Cäsar ungeniert für seine Wünsche. Da war keine Rouleauschnur, keine Sesselquaste und keine herabhängende Decke, die nicht nähere Bekanntschaft mit Cäsars scharfem Gebiss machte. Aber als er es eines Tages wagte, seine Zähne in Annemaries neuen Kostümrock zu graben, da trat Frau Annemarie mit düsterer Entschlossenheit vor ihren Mann. »Wähle zwischen ihm und mir«, forderte sie. Rudi hatte sie lachend in seine Arme genommen. Cäsar aber wurde aus den Wohnräumen verbannt. Der Vater und Hans bauten ihm eine Hundehütte hinter dem Hause. Und das war gut. Denn Cäsar, der winzige, handgroße Geselle wuchs in kurzem zu ungeahnter, erschreckender Größe, zu einem wahren Hundegoliath empor. Mit ihm wuchs sein Appetit. Jetzt war Annemarie wieder unglücklich über die Unmengen von Kartoffeln und Gemüse, die Cäsars Magen vertragen konnte. Ganz abgesehen davon, daß er den Kindern noch ihre Brote fortschnappte, und daß diese dann zu kurz kamen. Aus den Zimmern der Kinder war Cäsar nicht zu verbannen. Dort hatte er von Anfang an unbeschränkte Heimatsrechte. Ebenso in der Küche, wo er unter dem Herd seinen Stammplatz hatte. Die Hausfrau betrachtete er mit nie ganz schwindendem Mißtrauen, was diese bis auf den heutigen Tag in noch stärkerem Maße erwiderte.

 

Auch jetzt sah Frau Annemarie von ihrem Erkerplatz aus dem durch das Schneetreiben nähertrabenden Cäsar mit wenig freundlichen Blicken entgegen. Daß es nur nicht Ursel einfiel, ihn mit ins Haus zu nehmen. Die Mädchen hatten heute bei der Wäsche keine Zeit, seine Schneetapfen nachzuwischen.

Da tauchte auch bereits Ursel auf. Das Blondhaar schneeüberpudert wie ein Rokokodämchen. Und auch kapriziös wie ein solches. Denn als sie dem Auge der Mutter begegnete, zog sie ihre Ledermütze und grüßte damit schneidig wie ein junger Geck zu dem Fenster hinauf. Als ob nichts vorgefallen sei, betrat sie gleich darauf das Biedermeierzimmer, Cäsar wohlweislich diesmal draußen lassend.

»Morjen. Da bin ich wieder. Das Wetter war zu wenig einladend zum Spazierengehen. Und der Halbfünf-Zug nach Berlin bereits heidi. Und außerdem – außerdem macht es mir auch kein Vergnügen, wenn ich mit dir böse bin.«

»Ich glaube, die Sache ist wohl umgekehrt«, unterbrach sie die Mutter.

»Das ist ja Jacke wie Hose – gehupft wie gesprungen – kommt alles auf eins heraus. Also, liebste Muzi, sei nicht länger verknurrt. Ich finde das höchst ungemütlich. Erzähle mir lieber, was du eigentlich von mir wolltest.«

»Aha, also die Neugier hat dir keine Ruhe gelassen. Ich glaubte schon, es täte dir leid, daß du dich heute am Tage deines Schulabgangs so wenig erwachsen gezeigt hast.«

»Tut es mir auch. Das heißt nur insofern, als ich meine kleine Muzi dadurch geärgert habe. Nun wollen wir aber das Kriegsbeil endgültig vergraben. Ja, Muzichen? Soll ich Vaters Zigaretten holen, daß wir eine Friedenspfeife miteinander rauchen können?«

Ursel hatte es wieder mal erreicht. Die Mutter mußte lachen. Allen pädagogischen Einwänden zum Trotz – sie konnte sich nicht helfen ... Da hatte auch Ursel bereits ihre Mutter beim Wickel, ihren nassen Blondkopf zärtlich gegen deren Gesicht pressend. »Und dann küsst sie den Hans und es ist alles wieder gut«, sang sie mit heller Stimme. »Diesmal ist es aber die Ursel, und nicht der Hans. Also Muttichen!« Sie kauerte sich, wie sie es als Kind getan, auf das Fußkissen, mit ihren großen Blauaugen erwartungsvoll zur Mutter aufblickend.

»Ihr seid schon eine Gesellschaft!« sagte diese bloß, aber verhaltene Mutterzärtlichkeit schwang in dem Tone mit.

»Na ja, und weiter, Muzichen? Ich bin gespannt wie ein Regenschirm.«

»Du brauchst gar nicht so erwartungsvoll zu sein, Ursel. Der Vater verlangt unbedingt, daß du zum Ersten als Banklehrling in die Dresdner – –« Weiter kam Frau Annemarie nicht. Ursel war so jäh aufgesprungen, daß das nicht mehr auf allzu festen Füßen stehende Nähtischchen ihrer Urgroßmutter, ob solchen jugendlichen Ungestüms, erschreckt zu wackeln begann.

»Ausgeschließt! Und dazu tust du so geheimnisvoll? Dazu komme ich extra vom Bahnhof wieder zurück!« Es hätte nicht viel gefehlt, dann wäre Ursel in Tränen grenzenloser Enttäuschung ausgebrochen.

»Nun setze dich mal wieder her zu mir, mein Mädel, und laß uns die Angelegenheit in aller Ruhe miteinander besprechen.« Zug auf Zug erkannte Annemarie sich selbst in ihrem temperamentvollen Nesthäkchen wieder. Und aus diesem Verständnis heraus vermochte sie es auch, die richtige Saite in Ursels stark vibrierender Seele zu rühren. »Du willst doch deinem Vater Freude machen, gelt, Urselchen? Du willst ihm doch all seine Liebe nicht durch kindische Auflehnung und Undankbarkeit lohnen? Und du mußt doch davon überzeugt sein, daß der Vater sowohl wie ich dein Bestes wollen, nicht wahr, mein Herzchen?«

Ursel hatte den Kopf an das Knie der Mutter geschmiegt. »Ihr wollt wohl mein Bestes. Aber ihr könnt euch irren. Unmöglich könnt ihr wissen, welcher Weg zu meinem Glücke führt. Aber ich weiß es. Wenn ich erst die Rolle der Ännchen im ›Freischütz‹ singen werde, wenn man mich erst an die Staatsoper engagieren wird, dann werdet ihr schon anders sprechen.«

Frau Annemarie mußte lächeln. »Luftschlösser bauen ist das Recht der Jugend. Nur schade, daß sie kein festes Fundament haben, solche Luftschlösser. Daß sie wie Seifenblasen zerplatzen. Und selbst angenommen, du erreichst das, was dir jetzt als erstrebenswertes Ziel vorschwebt, zu deinem Glücke braucht das durchaus noch nicht zu sein, mein Kind.«

»Doch – das ist das Glück!« Ursel sah mit glänzenden Augen in den Apriltag hinaus. »Wenn ich erst da oben auf der Bühne stehe, wenn mir eine begeisterte Menge zujubelt – – ›Ich meine die Base mit der kreideweißen Nase‹ – –« begann sie aus dem »Freischütz« zu trällern.

»Du weißt nicht, was für Klippen, was für Intrigen im Theaterleben einem das Leben vergällen können, Ursel. Du kannst ein viel zufriedenerer, glücklicherer Mensch werden, wenn du deine Zukunft auf solide Arbeit und Pflichterfüllung aufbaust.«

»Ach, das ist ja tranig. Bei den Büchern und Rechnereien halte ich's einfach nicht aus. Paß auf, ich fange mitten bei der Arbeit an zu singen, bis sie mich wegen Ruhestörung aus der Bank rausschmeißen, Muzi.«

»Ursel, sei doch bloß mal einen Augenblick vernünftig. Sieh, ich habe dir doch noch nicht mal sagen können, was ich beim Vater für dich durchgesetzt habe«, begann die Mutter von neuem.

»Na?« Ursel schien nicht mehr viel Hoffnung in die Mission der Mutter zu setzen.

»Er erlaubt, daß du Gesangstunde nehmen darfst – –«