Nesthäkchen und ihre Puppen

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3. Kapitel
Wie es Puppe Gerda bei Nesthäkchen gefiel

Als Gerda, das Puppenkind, am nächsten Morgen ihre Schlafaugen aufschlug, schlief ihre neue kleine Mama noch. Neugierig sah Gerda sich ihr Mütterchen näher an. Mit roten Bäckchen lag es auf dem stickereibesetzten Kissen und lachte im Schlaf. Gewiß träumte es von dem neuen Kinde. Die hübsche kleine Mama gefiel dem Puppenkinde sehr, sicher würde sie es gut bei ihr haben. Gerda nahm sich vor, immer brav zu sein und Annemie nie zu ärgern. Dann aber faltete sie ihre Zelluloidhände und flüsterte: »Lieber Gott, ich danke dir, daß du mich zu einem so guten Mütterchen gebracht hast!«

Klein-Annemarie schlief noch immer, und Puppe Gerda begann sich allmählich zu langweilen.

Surr – surr – da summte eine Fliege über dem Kinderbett und setzte sich der Puppe gerade auf die Nase.

»Surr – surr – wie kommen Sie denn hierher, Fräulein?« begann die Fliege die Unterhaltung. »Ich wohne doch schon schrecklich lange, zwei ganze Tage, in der Kinderstube, aber Sie habe ich hier noch nicht erblickt.«

»Ich bin erst gestern hier eingezogen«, antwortete die Puppe schüchtern und schielte herzklopfend auf ihre Nase. Denn sie hatte in ihrem Leben noch niemals eine Fliege gesehen.

»Surr – surr – wo haben Sie denn früher gewohnt?« erkundigte sich die Fliege.

»In einer großen Pappschachtel, aber da war es lange nicht so hübsch wie hier. Stockdunkel war es darin, und die Luft war auch nicht besonders«, erzählte Puppe Gerda ein wenig zutraulicher. Und da sie sah, daß die Fliege es gut mit ihr meinte, setzte sie noch hinzu: »Ich habe es doch fein getroffen, daß ich hierher gekommen bin, nicht?«

»Sum – sum«, sagte die Fliege mal zur Abwechslung, legte eins der dünnen Vorderbeinchen an die Stirn und dachte nach. »Ja, es sind recht anständige Leute, sie geizen nicht mit Zuckerkrümelchen und hängen an die Kronen keine heimtückischen Leimbänder, an denen wir armen Fliegen zappelnd unser Leben lassen müssen. Sum – sum.«

»Nicht wahr, die kleine Annemarie ist gut?« fragte die Puppe, denn das lag ihr mehr am Herzen als Zuckerkrümel und Leimbänder.

»Freilich,« surrte es zurück, »die Annemie tut keiner Fliege etwas zuleide. Aber der Klaus, ihr älterer Bruder, vor dem nehmen Sie sich in acht, Fräulein. Das ist der gefährlichste Mensch, den ich kenne. Wenn der Sie mal fängt, quetscht er Sie zu Apfelmus, oder er reißt Ihnen mindestens ein Bein aus. Mit meiner guten, alten Tante hat er's gerade so gemacht, der Tunichtgut!«

»Ich werde ihm möglichst aus dem Wege gehen«, nahm sich die Puppe furchtsam vor. »Doch ich sah gestern Abend noch einen jungen Herrn, treibt der's auch so schlimm?«

»Sum – sum – wie man's nimmt! Ganz so arg ist der Hans wohl nicht. Aber er hat manchmal eine große, bauchige Glasflasche in der Hand, damit rückt er uns armen Fliegen zu Leibe. Spiritus ist darin, der steigt uns so zu Kopf, daß wir geradeswegs in die große Flasche hineinfliegen müssen. Und wer erst einmal drin ist, der kommt nicht wieder heraus, elendiglich muß er in dem Spiritus ersaufen! Hüten Sie sich vor der Fliegenflasche, Fräulein, surr – surr!« Die Fliege summte so laut vor Empörung, daß Nesthäkchen sich zu bewegen begann.

Husch – war das Fliegchen auf und davon und Puppe Gerdas Nase leer.

Annemarie aber streckte sich und reckte sich, und dann schlug sie endlich die Augen auf.

Gerade als Puppe Gerda überlegte, ob es nicht das gescheiteste wäre, vor den bösen großen Brüdern Reißaus zu nehmen und davonzulaufen, ehe Annemie noch erwachte, fühlte sie sich von zwei weichen Kinderarmen innig umschlungen. Ein rotes Mündchen preßte sich auf den ihren, und ein warmes Herzchen pochte gegen ihren kalten Zelluloidkörper. So lieb und zärtlich, daß alle Angst vor dem fürchterlichen Klaus und vor der großen Fliegenflasche bei Gerda verflog. Wohl behütet und geborgen fühlte sich Puppe Gerda bei ihrem Mütterchen.

»Guten Morgen, mein einziges Gerdachen – hat mein Nesthäkchen denn auch schön geschlafen?« klang es ihr liebevoll entgegen.

Die Puppe nickte, denn ihr Kopf war mit Gummischnur befestigt.

»Wollen wir uns denn nun anziehen und süße Zuckermilch trinken?« fragte das sorgsame Mütterchen weiter.

Puppe Gerda lächelte erfreut. Sie hatte schon großen Durst, und Zuckermilch war ihr Leibgericht. Aber vorläufig mußte sie sich noch etwas gedulden. Denn Fräulein trat ins Zimmer, um erst mal Annemarie aufzunehmen.

Die schnitt ein Gesicht. Das dumme Anziehen – sie hatte sich so darauf gefreut, noch ein bißchen mit ihrer Gerda im Bett zu spielen.

Da neigte sich Fräulein zu ihr herab und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

Das kleine Mädchen wurde rot und sah verlegen auf ihr Puppenkind.

Hatte es Gerda auch bloß nicht gehört, was Fräulein soeben gesagt hatte? Ob sie sich denn gar nicht vor ihrem neuen Kinde schäme, und daß sie jetzt immer sehr artig und gehorsam sein müsse, um ihrer Gerda ein gutes Beispiel zu geben.

Nein, die Puppe machte ein ganz harmloses Gesicht und sah respektvoll zu ihrer kleinen Mama auf.

Eins – zwei – drei – war die aus den Federn, Fräulein sollte sie nicht umsonst gemahnt haben. Gerda wurde in die Bettecke gegen das Stickereikissen gesetzt und durfte bei Annemies Toilette zugucken.

Und das war gut, denn Annemie nahm sich vor ihrem neuen Kinde zusammen. Das sollte doch nicht wissen, daß seine Mama noch ab und an beim Waschen schrie, wenn das Wasser mal besonders naß war. Fest biß die Kleine die Zähnchen zusammen, daß ihnen kein Laut entschlüpfte, während Fräulein den großen Schwamm in Bewegung setzte und eklig rubbelte. Aber als Nesthäkchen selbst beim Kämmen nur ein einziges kleines »Au!« hören ließ, trotzdem der alte Kamm gerade heute tüchtig ziepte, schloß auch Fräulein Puppe Gerda in ihr Herz. Denn die ganz allein hatte das Wunder zuwege gebracht.

Gerda mochte sich von ihrer kleinen Mama nun auch nicht beschämen lassen. Als Annemarie endlich Zeit fand, sie anzukleiden, biß auch sie ihre niedlichen Porzellanzähnchen fest zusammen. Denn Annemie rubbelte noch viel ekliger als Fräulein und riß noch viel toller an den goldblonden Flachshärchen. Aber nein – nur nicht schreien, was hätten denn auch die anderen Puppen bloß von ihr gedacht!

Die waren dem neuen Ankömmling sowieso nicht sehr freundlich gesinnt.

»Ich will angezogen werden, ich muß in die Schule, sonst kriege ich einen Tadel!« rief Irenchen schon zum dritten mal hinter der weißen Mullgardine ihres Himmelbettes hervor. Aber die Kleine hatte heute nur Auge und Ohr für ihre Gerda.

»Annemie hat mir heute noch gar keinen Umschlag auf meine schlimmen Augen gemacht, trotzdem Doktor Puck es verordnet hat«, jammerte auch Mariannchen.

»Ja, sie hat sich heute überhaupt noch nicht um uns gekümmert, aber den Zieraff mit dem blonden Flachskopf, der erst gestern gekommen ist, küsst sie in einem fort«, berichtete Irenchen, durch die weiße Mullgardine lugend, eifersüchtig. »Dabei habe ich doch viel schönere und vor allem ganz echte Zöpfe.«

»Wie sieht denn die Neue aus, ist sie denn wenigstens hübsch?« erkundigte sich Mariannchen angelegentlich. Gar zu gern hätte sie ihre verklebten Augen aufgemacht, um Puppe Gerda zu betrachten.

»Ich finde, sie sieht recht gewöhnlich aus«, meinte Irenchen geringschätzig.« Rote Backen hat sie wie ein Bauermädel; wenn man vornehm sein will, muß man so blaß sein wie ich!«

Auch in dem weißen Puppenwagen murrte es.

Lolo, das Negerkind, hatte mit der steifen Porzellanhand die Wagengardine ein wenig zur Seite geschoben, um besser sehen zu können.

Unerhört war das doch, da wusch und kämmte die kleine Puppenmama das Neugeborene, und sie selbst, die doch tausendmal schmutziger aussah und einen Struwwelkopf aus schwarzer Wolle hatte, sie mußte so liegen.

Aber plötzlich schrie Lolo, die ein kleines Wutteufelchen war, erbost los und trampelte sogar mit den Füßen gegen die Wagenwand.

»Meine Spitzenschürze – mein hübsches Sonntagsschürzchen bindet sie dem fremden Balg um – wirst du mir wohl meine Schürze nicht mausen!« rief sie so laut, daß auch Baby neben ihr im Steckkissen die Äuglein aufmachte und das Mündchen weinerlich verzog.

»Mama – Mama,« rief Baby, »ich will mein Fläschchen mit süßer Zuckermilch.«

Aber Klein-Annemarie hörte nicht das Weinen und Rufen ihrer Kinder. Die fütterte gerade Puppe Gerda mit der süßen Zuckermilch, die eigentlich Baby sonst bekam.

»Schmeckt es dir, mein Gerdachen?« fragte sie liebevoll und tat noch einen Löffel Zucker aus der Puppenküche zu.

Die Puppe schüttelte den Kopf.

Nein, es schmeckte ihr gar nicht, trotzdem sie Zuckermilch so gern trank, und trotzdem Annemie ihr schönstes rosa Tässchen mit Goldrand dazu genommen hatte. Wie sollte es der Gerda auch munden, da Baby unausgesetzt nach ihrer Zuckermilch schrie? Da Lolo immer noch über ihre gemauste Sonntagsschürze schimpfte, die Annemie noch dazu mit Milch bekleckert hatte. Auch Irenchen gab keine Ruhe und rief in einem fort, daß sie heute bestimmt in der Schule nachbleiben müsse. Am liebsten hätte sich Gerda die Ohren zugehalten, um all die häßlichen Worte, die ihr galten, nicht zu hören. Aber das konnte sie nicht, obgleich sie eine Gelenkpuppe war.

Sie machte sich steif und wollte nicht mehr trinken, um dem armen, durstigen Baby noch ein bißchen übrigzulassen. Aber Annemarie war eine ebenso gute wie strenge Mutter.

»Wenn du nicht austrinkst, wirst du nicht groß und stark, mein Liebling«, sagte sie in demselben bestimmten Ton, mit dem Mutti sprach, wenn sie selbst mal nicht ihren Kakao trinken wollte.

Da trank Puppe Gerda gehorsam ihr rosa Tässchen aus, aber es schmeckte ihr kein bißchen.

 

Und als sie jetzt in den Puppenstuhl gesetzt wurde, da ward sie auch dort ihres Lebens nicht froh. Aus der umgekippten Fußbank zu ihren Füßen hob sich ein kurzlockiger Puppenjungenkopf mit einem großen Loch, und Kurt, der Nichtsnutz, bläkte ihr die Zunge heraus, soweit er nur konnte. Aber nur, weil Annemie gerade aus dem Zimmer gegangen war, um selbst ihren Kakao zu trinken.

Da kam das kleine Mädchen zum Glück zurück, und auch Fräulein mit Annemaries blauem Matrosenmantel und weißem Hütchen. Fräulein machte Annemie zum Spazierengehen fertig, und das Puppenmütterchen setzte ihrer Gerda die Osterhasenkappe mit den rosa Ohren auf.

»Nun bist du fein, mein Liebling, nun wollen wir in den Tiergarten fahren.« Damit warf Nesthäkchen Lolo aus ihrem Puppenwagen heraus, und Baby wanderte hinterdrein auf die harte Puppenkommode. Nicht einmal, daß Babys gestrickte Windelhöschen naß waren, sah die Annemarie!

In den weißen Wagen wurde Gerda gesetzt. Sie wurde sorgsam mit der rosa Seidendecke zugedeckt und bekam Irenchens schönen roten Sonnenschirm in die Hand. Noch auf der Treppe hörte Gerda das empörte Irenchen hinter sich her schimpfen.

Da war ihr auch die Freude am Spazierengehen gestört.

Ihre kleine Mama aber schwatzte und lachte in einem fort. Die dachte mit keinem Gedanken an die armen, vernachlässigten Puppenkinder zu Hause. Sie zeigte ihrer neuen Gerda die Sehenswürdigkeiten von Berlin: Den Portier vor der Haustür, der beinah soviel war wie der Kaiser, die tutenden Autos, die Schokoladenautomaten und die goldene Puppe hoch oben auf der Siegessäule.

»Nicht wahr, es ist fein auf der Welt?« fragte sie ihre Puppe mit strahlendem Gesicht.

Die lächelte gezwungen.

O ja, es konnte einem schon gefallen, wenn nur die übrigen Puppen nicht so häßlich zu ihr gewesen wären!

»Ei, Annemie, hast du denn ganz vergessen, deine anderen Kinder heute in ihren Garten aus das Blumenbrett zu schicken?« fragte Fräulein, als sie wieder nach Haus gekommen waren.

»Ach, die alten,« lautete die gleichgültige Antwort, »ich habe ja jetzt ein neues, süßes Nesthäkchen!«

Das hörte Mutti, die gerade ins Kinderzimmer trat.

»Denk' mal, Lotte,« sagte sie ernst, »wenn ich mich nicht mehr um Hans und Klaus kümmern würde, weil ich ja dich, mein Nesthäkchen, habe! Das wäre doch traurig für die beiden, nicht?«

Die Kleine nickte und wurde rot. Dann griff sie stillschweigend nach ihren alten Puppen und spedierte eine nach der anderen in den Garten auf das Blumenbrett hinaus, sogar Kurt, den Schlingel. Aber die rechte Liebe fehlte dabei.

Auch als nachmittags, während Annemie mit ihrer Gerda Großmama besuchte, ein Platzregen herniederprasselte, blieben die Ärmsten da draußen in dem Hundewetter, und noch dazu ohne Schirm. Erst Frida, welche die Fenster schloß, brachte die Puppen ganz durchweicht wieder in das Kinderzimmer zurück. Irenchen nieste, sie hatte sich einen tüchtigen Schnupfen geholt, Mariannchen zitterte vor Kälte, Lolo bekam Schüttelfrost, Kurt klagte über Gliederreißen, und Baby hustete.

Aber Annemie, die sonst solche gute kleine Puppenmutter gewesen, sah sich nicht einmal nach ihren kranken Kindern um. Sie mußte ja ihrem Nesthäkchen das Abendbrot bereiten. Muttis Mahnung war wieder vergessen.

Gerda allein vernahm das Niesen und Husten, das Weinen, Jammern und Schimpfen der armen Puppen.

»Die Neue muß wieder aus dem Hause – hatschi – hatschi! So'n Kiekindiewelt – so'n Dreikäsehoch!« räsonierte Irenchen. »Kaum hat sie ihre Nase hier in die Kinderstube gesteckt, da hat sie uns auch schon Annemaries Liebe gestohlen. Wir wollen sie so lange ärgern, bis sie Reißaus nimmt, die fremde Krabbe – hatschi – hatschi.«

»Ich geh' ja ganz von selbst«, wollte Puppe Gerda traurig antworten, aber da schob ihr Annemie gerade einen Bissen Apfel in den schon geöffneten Mund.

Am Abend, als die zwei, Nesthäkchen und ihre Gerda, wieder zusammen in dem weißen Gitterbettchen lagen, wälzte sich die Puppe ruhelos hin und her. Annemie schlief längst, aber die arme Gerda fand keinen Schlummer.

Sollte sie heimlich davonlaufen, damit Klein-Annemarie sich wieder um ihre andern Kinder kümmern konnte? Ach, sie hatte ja ihr Mütterchen selbst schon so lieb, so lieb – die Trennung brach ihr fast das Herz.

Laut auf schluchzte die Puppe. Annemie regte sich.

»Warum weinst du, mein Liebling?« fragte sie im Traum.

»Ich muß wieder fort von dir«, jammerte Gerda.

»Weshalb denn bloß?« Ganz erschreckt fragte es Klein-Annemarie. »War ich schlecht zu dir, war ich liederlich mit deinen Sachen, oder habe ich dich am Ende zu sehr geziept?«

»O nein,« flüsterte die Puppe ihr ins Ohr, »du warst sehr gut gegen mich, viel zu gut! Aber du hast deine andern Kinder, die dich doch auch lieb haben, ganz über mich vergessen. Die sind traurig und schimpfen auf mich, darum ist es das beste, ich gehe wieder.« Eine Träne kullerte Gerda über das Porzellangesicht.

»Nein, nein – ich lasse dich nicht weg«, rief Annemie im Traum und preßte ihr Nesthäkchen fest ans Herz. »Ich will ja wieder gut gegen meine andern Puppen sein, Mutti hat ja auch all ihre Kinder lieb. Nur bleibe du bei mir!«

Da nickte Puppe Gerda und lächelte unter Tränen.

Und dann schliefen sie alle beide.

4. Kapitel
Wir reisen nach Amerika ? hurra!

Zwei Wochen war Puppe Gerda nun schon bei ihrer kleinen Mama, und von Tag zu Tag gefiel es ihr besser.

Annemarie hatte gehalten, was sie ihrer Puppe im Traum versprochen: sie war auch für ihre andern Kinder wieder ein gutes, treusorgendes Mütterchen geworden. Die Puppen waren voll Dankbarkeit gegen sie, und sie übertrugen diese auch auf Gerda. Ob sie das nächtliche Gespräch der beiden belauscht hatten, oder ob Puppe Gerdas Bescheidenheit und Freundlichkeit ihr das Herz der andern fünf gewonnen, darüber äußerten sie sich nicht.

So war wieder Frieden in die Kinderstube eingekehrt, alle hatten sie die gute Gerda liebgewonnen, und diese hätte ganz glücklich in ihrer neuen Heimat sein können, wenn – ja wenn es nicht einen im Hause gegeben hätte, vor dem sie ganz schreckliche Angst gehabt hätte. Das war nicht etwa Puck, trotzdem sie den kleinen Vierfüßler auch stets mißtrauisch von der Seite anblickte. Sogar, wenn er ihr die Hand leckte, um seine freundschaftliche Gesinnung kundzutun, sah sie ängstlich nach, ob er ihr auch keinen Finger abgebissen.

Das war auch nicht Bruder Hans mit der großen Fliegenflasche. Die konnte Gerda nicht bange machen, sie war ja viel, viel größer als die! Und Hans hatte sie und ihre kleine Mama neulich freundlich gestreichelt und hatte ihnen allen beiden Helme aus Zeitungspapier gemacht.

O nein, vor denen hatte Gerda keine Angst. Ihre Furcht galt einzig und allein demjenigen, vor dem die Fliege sie gleich am ersten Morgen gewarnt hatte: dem achtjährigen Klaus, dem gefährlichsten Menschen auf Erden.

Sobald der die Kinderstube betrat, hätte sich die Puppe am liebsten in den äußersten Winkel verkrochen, denn es gab jedesmal Streit und Geschrei.


Gleich der Empfang war wenig verheißungsvoll. Als Klaus die neue Puppe erblickte, verabfolgte er ihr erst als Willkommensgruß einen Nasenstüber. Darauf setzte er sie auf sein großes Schaukelpferd und ließ es in solch rasendem Galopp laufen, daß der armen Gerda Hören und Sehen verging. Sie wäre unfehlbar herabgestürzt und hätte sich das Genick gebrochen, wenn nicht ihr Mütterchen Annemarie sie mit lautem Geschrei errettet hätte.

Ein andermal war es ihr noch viel schlimmer ergangen. All seine Soldaten mit Pferden und Kanonen hatte der Bösewicht gegen das Puppenkind aufmarschieren lassen.

»Feuer!« kommandierte er mit Feldherrenstimme, die Puppe Gerda durch Mark und Bein drang. Da donnerten die Kanonen, und die Papierkugeln pfiffen dem verängstigten Puppenkind nur so um den Kopf.

»Ich bin tot – mausetot geschossen!« rief sie und verlor die Besinnung.

So fand Annemarie ihr Nesthäkchen, und ihre Küsse und Tränen brachten die Lockenpuppe wieder zu sich. Die Soldaten mit ihren fürchterlichen Kanonen waren abmarschiert, aber der Krieg war deshalb noch nicht aus. Nein, der tobte nur um so toller, und zwar zwischen Klaus und Annemarie. Mit geballten Fäusten verteidigte die Kleine ihr Puppenkind, bis Fräulein dazukam und den Störenfried Klaus aus der Kinderstube beförderte.

Nun zitterte Gerda, sobald sie nur die Stimme des wilden Jungen von ferne hörte. –

Frida machte das Wohnzimmer rein, und Annemarie half. Natürlich mußte Puppe Gerda auch dabei sein. Die saß auf dem Sofa wie eine Dame und sah zu, ob die beiden auch ihre Sache gutmachten.

Frida rieb die Fenster blank, und das kleine Mädchen klopfte mit ihrem Puppenklopfer die Sessel. Lustig tanzte der Klopfer auf den Polstern herum – bum – bum – bumbumbum – das machte Spaß! Besonders weil Gerda so bewundernd zuschaute.

Aber nach einem Weilchen fand Annemarie es noch lustiger, Fenster zu putzen wie Frida. Das nasse Leder quietschte so wunderschön auf den Scheiben.

»Bitte, Fridachen, wir wollen tauschen. Ich putze die Fenster und Sie klopfen die Möbel«, schlug die Kleine vor.

»Bewahre, Annemiechen, du fällst aus dem Fenster – denke mal, zwei Treppen hoch, da kommst du nicht lebendig unten an«, sagte das Mädchen erschrocken.

»Der Portier würde mich schon auffangen, wenn er gerade unten im Garten ist«, meinte die Kleine.

»Er ist aber nicht da«, damit ließ Frida ihr Leder weiter quietschen.

»Und der liebe Gott würde schon auf mich aufpassen, daß ich nicht rausfalle«, überlegte Annemarie weiter.

»Der liebe Gott hat soviel zu tun, der kann nicht auch noch auf jedes unvorsichtige kleine Mädchen acht haben«, sagte Frida und rieb die Scheibe blank.

»Der liebe Gott kann alles zu gleicher Zeit sehen, der hat vorn und hinten Augen, nicht wahr, Gerda?« rief die Kleine eifrig. Die Puppe nickte mit dem Kopf – ja, das war auch ihre Ansicht.

Aber daß Annemarie nicht auf das Fensterbrett klettern sollte, darin stimmte Puppe Gerda wieder mit Frida überein. Es fiel ihr ordentlich ein Zentnergewicht vom Herzen, als Frida vorschlug: »Weißt du, Annemiechen, kehre lieber den Teppich mit der Teppichmaschine ab.«

Das leuchtete auch Annemie ein. Die Teppichmaschine quiekte noch viel schöner als das Fensterleder, denn sie war lange nicht geölt.

Rrrrrr – ging es über den blauen Teppich, die Maschine rumpelte, quietschte und pfiff, und Annemie jubelte.

Rrrrrrr – zehnmal im Kreis herum, da machte die Kleine endlich halt.

»Willst du mitfahren, Gerda?« fragte sie das erwartungsvoll dasitzende Puppenkind.

Das streckte ihr beide Arme entgegen.

Eine Sekunde später saß Gerda auf dem braunen Rumpelkasten.

»Jetzt fährst du Karussell, halt' dich fest, mein Liebling!« rief Annemie, und da ging es auch schon los.

Gerda hätte ihrer kleinen Mama gern gesagt, daß es Karussell hieß, aber sie hatte genug damit zu tun, sich festzuhalten und nicht herunterzupurzeln.

Rrrrrr – zehnmal im Kreis herum, da stand das Karussell endlich still.

»Das war fein!« Annemarie und Gerda sahen sich beide mit glänzenden Augen an.

»Wollen wir nun mal nach Amerika fahren, Gerdachen?«

Die Puppe machte ein erschrockenes Gesicht. Sie hatte Angst, seekrank zu werden.

»Ach, du fürchtest dich wohl so ganz allein auf dem großen Schiff, du Dummchen?« lachte ihr Mütterchen. »Na warte, ich hole dir Gesellschaft.« Damit war Annemarie auch schon zur Tür hinaus. Aber es dauerte nicht lange, da erschien sie wieder, in dem einen Arm Irenchen und Mariannchen, in dem andern Lolo und Kurt, und in der zusammengerafften Schürze noch das strampelnde Baby.

»So,« sagte sie, »die Herrschaften wollen alle auch mit nach Amerika fahren, bitte, nehmen Sie Platz, meine Damen. Fräulein Gerda und Fräulein Irenchen erster Klasse.« Damit setzte sie die beiden auf die eine Seite der Teppichmaschine und Lolo nebst Mariannchen auf die andere, in die zweite Klasse. Irenchen, als Älteste, bekam das Baby auf den Schoß.

»Ich bin der Herr Kapitän und du, Kurt, kannst Steuermann sein, stelle dich hier an den Mastbaum des Schiffes«, damit band Annemie den Puppenjungen mit ihrem blauen Haarband an den braunen Holzstiel der Teppichmaschine.

 

»Haben Sie alle Fahrkarten, meine Herrschaften? Na, denn kann die Reise ja losgehen. Der blaue Teppich ist das Meer oder vielmehr der große Ozehahn – ich habe erst gestern gehört, wie Hans das für die Geographiestunde gelernt hat«, sagte der Herr Kapitän würdevoll zu seinen Passagieren.

»Es heißt Ozean und nicht ›hahn‹, wollte Irenchen, die schon in die Schule ging und schrecklich klug war, den Herrn Kapitän belehren.


Aber da tutete das Schiff bereits – »tu–u–u–t«, die Maschine rumpelte, quiekte und pfiff, und der Herr Kapitän schrie: »Wir fahren nach Amerika – hurra!«

Mitten durch das blaue Meer ging die Reise. Das stolze Schiff schaukelte und schwankte so sehr, daß die Reisenden einer auf den andern purzelten.

»Wir reisen nach Amerika – hurra!« Der Kapitän kämpfte wacker gegen Sturm und Wogen. Frida aber stand auf der Trittleiter am Ufer, wie auf einem hohen Leuchtturm, und hielt sich die Seiten vor Lachen.

Den Passagieren drehte sich das Herz im Leibe herum bei der gefährlichen Fahrt. Gerda ward es schwarz vor den Augen, Mariannchen wurde kreuzelend, und Irenchen sah noch blasser aus als sonst, denn es war ihr schrecklich übel. Aber immer weiter ging's – »wir reisen nach Amerika – hurra!«

»Mann über Bord!« schrie Frida plötzlich vom Leuchtturm herab, während Irenchen entsetzt die Hände hinter ihrem ins Meer gefallenen Baby herstreckte. Kurt, der mutige Steuermann, sprang, da das blaue Haarband, mit dem er festgebunden, inzwischen gerutscht war, beherzt hinterdrein. Aber der Herr Kapitän ließ sie alle beide ertrinken. Denn das gehört zu einer richtigen Reise nach Amerika.

In der Tür erschien, angelockt von dem Lachen und Jubel, neugierig Puck.

»Willst du mit nach Amerika reisen, Puckchen? Dann darfst du mein neuer Steuermann sein!« Ehe das Zwerghündchen noch »Ja« oder »Nein« hätte bellen können, hatte der Herr Kapitän es auch schon beim Wickel und auf seinen neuen Posten, an den Mastbaum, gestellt.

»Wir reisen nach Amerika – hurra!«

»Wau – wau!« blaffte der neue Steuermann wütend dazwischen, denn es dünkte ihn höchst ungemütlich auf dem schwankenden Schiff.

Puppe Gerda, die sich schon seit geraumer Zeit seekrank fühlte und die Augen, weil ihr so elend war, geschlossen hielt, blinzelte ängstlich zu dem kläffenden Steuermann hin.

»Lieber Gott, daß er mich nur nicht beißt!« flüsterte sie.

Bums – da war das Schiff gegen ein Felsenriff, den Eimer, gefahren und wäre bei einem Haar gescheitert.

Der gewissenlose Steuermann ließ seinen Posten im Stich und rettete sich mit einem erschreckten »Wau – wau« ans Ufer. Die Passagiere aber, Fräulein Gerda, Fräulein Irenchen und Mariannchen, stürzten sich kopfüber in die blauen Fluten. Nur Lolo, das Negerkind, reiste jetzt noch einsam auf dem großen Schiffe weiter nach Amerika.

Da kamen Hans und Klaus aus der Schule. Als die das Schwesterchen bei ihrem lustigen Spiel sahen, schlug Hans vor: »Komm, Annemie, ich mache dir noch ein Schiff aus Papier, das bindest du dann als Rettungsboot hinten an!«

»Ach ja, Hänschen«, jubelte Annemarie und lief hinter dem großen Bruder her.

Klaus ließ seine Augen inzwischen über die verunglückte Besatzung des Schiffes schweifen. Puppe Gerda bibberte schon an allen Gliedern, weil sie den gefährlichen Klaus nur im Zimmer wußte. Wie aber wurde ihr erst zumute, als sie sich von tintenbeschmierten Jungenhänden plötzlich roh am Arm emporgezerrt fühlte!

»Himmel, jetzt murkst er mich ab!« dachte sie herzklopfend.

Die Leiter, die Frida soeben verlassen hatte, um frisches Wasser zu holen, kletterte der Nichtsnutz mit der armen Puppe empor. Immer höher und höher ging es – »will er mich etwa gleich selbst in den Himmel befördern?« kaum vermochte die Puppe vor Aufregung noch diesen Gedanken zu fassen.

Aber jetzt wurde haltgemacht. Wupp – da saß die vor Angst halbtote Gerda hoch oben auf dem Ofen, der noch dazu an dem kalten Apriltage geheizt war.

»Au – ich hab' mich verbrannt!« schrie Puppe Gerda, aber hohnlachend rutschte der wilde Klaus die Leiter herunter.

Weinend thronte die Puppe auf ihrer einsamen Höhe.

»Ach Gott – ach Gott, wie soll mich mein Mütterchen bloß je im Leben hier wiederfinden?«

Da kam Annemarie glückstrahlend mit ihrem Rettungsboot zurück. Sie band es an die Teppichmaschine und fischte die Ertrunkenen wieder aus dem Ozean heraus.

»Nanu, wo ist denn mein Gerdachen hingekommen?« verwunderte sie sich. »Habt ihr Gerda nicht gesehen?« wandte sie sich an die übrigen Fahrgäste.

Irenchen wies mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung des Ofens, aber die Kleine achtete nicht darauf. Auch nicht auf das feine, weinende Puppenstimmchen, das sie von oben rief. Sie stürzte in die Jungenstube, denn sie ahnte sogleich den Täter.

Dort saß Klaus mit dem harmlosesten Gesicht der Welt und machte seine Rechenaufgaben.

»Klaus, hast du meine Gerda genommen?« fragte sie kampfbereit.

»Laß mich mit deiner dummen Puppe in Frieden«, brummte der und steckte die Nase noch tiefer ins Buch.

Die Kleine hielt es für geraten, andere Saiten aufzuziehen.

»Kläuschen, liebes, gutes Kläuschen, ach, gib mir doch meine kleine Gerda wieder!« bettelte sie.

»Such' sie dir«, brummte der Puppenräuber.

»Also du hast sie genommen, du abscheulicher Junge, na warte!« Annemaries schon zum Boxen erhobene Ärmchen sanken aber wieder herab. Sie jagte aus dem Zimmer, die Mutterliebe war stärker als die Rauflust.

»Sie ist nach Amerika geschwommen, wenn sie nicht unterwegs ein Haifisch verschluckt hat«, rief der ungezogene Klaus noch hinter dem Schwesterchen her.

Im Wohnzimmer durchsuchte Annemarie in Gemeinschaft mit Frida jeden Winkel. Gerda blieb verschwunden. Bitterlich weinend stand die kleine Puppenmutter unten, während oben auf dem Ofen ihr Kind ebenso bitterlich weinte.

Da rief Frida, welche die Kronenglocken säuberte, plötzlich von der Leiter herab: »Ich sehe sie – da guckt ein Bein über den Ofenrand – na, hoffentlich ist sie nicht aus Wachs, sonst ist die da oben bestimmt geschmolzen.«

Sie rückte die Leiter an den Ofen und rettete das arme Puppenkind vor dem Verbrennungstod. Das Herz klopfte der kleinen Annemarie inzwischen bis in den Hals hinein.

Lieber Gott – würde ihre Gerda, ihr süßes Nesthäkchen, auch nicht geschmolzen sein – oder am Ende gar so braungebrannt wie die Negerpuppe?

Da hielt sie ihr Kind endlich wieder im Arm, fest, ganz fest. Nein, es war noch genau so schön, wie vorher, nur ein bißchen erhitzt fühlte es sich an. Selig küssten sich die beiden, als ob Gerda wirklich aus Amerika angereist gekommen wäre.

Von nun an aber hatte Puppe Gerda noch viel, viel größere Angst vor dem bösen Klaus.

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