P wie Pole. Ein Roman aus Schwaben

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4

Familie Fahrner bewohnte einen der Höfe im alten Ortskern, ein Fachwerkhaus, das in den vergangenen vierhundert Jahren immer wieder aus- und umgebaut worden war – Zwerchgiebel waren aufgesetzt, das Dach angehoben, eine Hopfendarre angebaut worden; zuletzt hatte Evas Großvater Gotthold kurz nach der Jahrhundertwende sein Haus an die neue Wasserleitung anschließen und elektrisches Licht legen lassen. Ihre Mutter hatte sich jahrelang einen modernen elektrischen Herd gewünscht, aber dafür war nie genug Geld da gewesen. Jahrhunderte der Realteilung hatten den Landbesitz auf wenige Hektar schrumpfen lassen, die in der ganzen Gemarkung verstreut waren und nur wenig mehr abwarfen, als für den Bedarf der eigenen Familie nötig war; die Wirtschaftsgebäude – Scheune, Kuhstall, Schweinestall, Hühnerhaus, gemauerter Backofen – gruppierten sich um den ungepflasterten Hof, in dem sich auch Miste und Plumpsklo befanden, der Gemüsegarten lag hinterm Haus in Richtung Maderbach.

»Na, Eva, auch schon da?« Eva drückte sich an ihrer Mutter vorbei in die Küche, die das halbe Erdgeschoss einnahm. Marie Fahrner, hager, faltig, grau, sah deutlich älter aus als ihre knapp fünfzig Jahre – ein Leben voller Arbeit und Härte hatte seine Spuren hinterlassen und der Tod ihres Ältesten irgendwo in den Weiten Russlands ihre Gesichtszüge gezeichnet. Seit diesem Tag vor sieben Monaten trug sie schwarze Schürzen bei der Arbeit; für richtige Trauerkleidung waren weder Geld noch Kleiderkarten da gewesen. Fast das Schwerste schien es zu sein, dass sie Karl nicht hier auf dem Friedhof hatten beerdigen können. Er sei irgendwo in Russland begraben worden, stand in dem offiziellen Brief, der schließlich noch gekommen war, und dass sie stolz auf ihn sein sollten. In heldenhaftem Kampf habe er sein Leben gegeben für Führer, Volk und Vaterland. Georg Fahrner verbrannte den Brief im Küchenherd. Aus ein paar Brettern stellte er ein Kreuz her, versah es mit Karls Namen, Geburts- und Sterbedatum und stellte es im Garten auf. Marie Fahrner pflanzte Blumen davor, Rosen, Stiefmütterchen und Goldlack, und hielt hier Zwiesprache mit dem Sohn, den sie nie wieder in die Arme schließen würde.

»Tut mir leid, ich habe noch Charlotte getroffen und nicht auf die Zeit geachtet … Hast du schon mit den Kartoffeln angefangen? Warte, ich helfe dir …«

Die Mutter reichte ihr Schälmesser und Kartoffeleimer. »Wenn du gerade weitermachst? Ich muss noch an Joachim schreiben«, sagte sie. »Er wundert sich sicher, wenn er nichts von mir hört …«

Eva nickte. »Geh nur. Ich mach das schon.«

Sie sah ihrer Mutter nach, die schwerfällig die Stufen zur Diele hochging. Karls Tod hatte von der Frau, die tüchtig jeden Tag ihre Arbeit verrichtet hatte, ohne jemals deren Sinn in Frage zu stellen, nicht viel übrig gelassen. Ein Teil von ihr wanderte immer noch durch östliche Sümpfe, durch Schützengräben und Unterstände und feindliches Feuer und suchte nach ihrem ältesten Sohn, ein anderer Teil von ihr schrieb Briefe an Joachim, den Zweitältesten, in Warschau – stundenlange, nächtelange Briefe. Es war, als könnte ihm nichts passieren, wenn sie nur ausführlich genug an ihn schrieb. Als könnte sie ihn damit beschützen. Eva wünschte sich, Joachim würde ihr häufiger antworten, aber vielleicht waren diese traurigen Briefe ihm auch einfach nur lästig.

Sie nahm die nächste Kartoffel, schälte sie, wusch sie, schnitt sie klein. Kartoffeln, weiter hatte ihre Mutter sich nichts überlegt. Zwiebeln gab es im Garten, genauso Pflücksalat, Radieschen und Karotten. Vielleicht waren die Zwillinge wieder so weit hergestellt, dass sie sie gleich nach draußen schicken konnte. Eva hielt einen Moment inne. Sie spürte genau, wie ihre Mutter sich von ihnen allen entfernte, wie sich die Last des Haushalts mehr und mehr auf ihre eigenen Schultern legte. Eines Tages, hoffentlich noch nicht so bald, würde sie ganz allein verantwortlich sein. Sie konnte nur hoffen, dass Joachim bald zurückkehrte und sich mit Charlotte eine tüchtige Hausfrau auf den Hof holte. Andererseits – sie wischte sich ein paar Schweißtröpfchen von der Stirn. Andererseits war es manchmal schwierig mit Charlotte. Vielleicht lag es daran, dass ihre Familie so anders war. Sie hatten immer genug Geld gehabt und sich nie Sorgen machen müssen, ob es noch für einen Schulranzen reichte oder für einen neuen Mantel, und selbst jetzt, wo überall rationiert wurde, war bei Voss zu Hause von Einschränkungen nur wenig zu spüren. Sie konnten ihre Kinder auf die höhere Schule schicken, fuhren im Sommer in den Schwarzwald und hatten sogar ein Klavier. Jahrelang war Charlotte jede Woche zur Klavierstunde gegangen, obwohl sie immer wieder erklärt hatte, wie sehr sie den Unterricht hasste. Aber irgendetwas fehlte in der Familie trotzdem, auch wenn Eva nicht hätte sagen können, was.

Während Eva das Essen vorbereitete, hörte sie, wie ihr Vater hereinkam und sich am Wasserhahn im Flur wusch. Fast alle anderen Häuser hatten fließendes Wasser nur in der Küche, aber bei ihnen gab es wenn auch kein besonderes Badezimmer, so doch wenigstens einen zweiten Trinkwasseranschluss. Am Samstag dann wurde die große Waschbütte in die Küche getragen, wurden Wäscheleinen gespannt und mit alten Bettlaken eine Badekabine abgetrennt. Das Wasser musste kesselweise auf dem Herd erhitzt werden, bis dann endlich zunächst Evas Mutter, dann Eva selbst und nach ihr der Vater und die Brüder den Schmutz der Woche darin einweichen konnten. Wenn Hans und Emil an der Reihe waren, war das Wasser meist schon so weit abgekühlt, dass sie noch einen weiteren Kessel Wasser heiß machen mussten. Wenn sie einmal verheiratet war, würde sie ein eigenes Badezimmer besitzen, schwor sich Eva jeden Samstag, wenn sie den zehnten Kessel mit kochend heißem Wasser vom Herd zur Waschbütte getragen hatte. Ein Badezimmer mit eingebauter Wanne, in die man heißes Wasser fließen lassen konnte, und das eine Tür hatte mit einem Schloss daran, so dass niemand plötzlich grinsend seinen Kopf hereinstecken oder aber einem einen Eimer kaltes Wasser über den Rücken kippen konnte …

Es dauerte noch eine Stunde, bis sie schließlich gemeinsam am Küchentisch saßen, Eva, ihre Eltern Georg und Marie, die Zwillinge, die beide noch ein bisschen blass um die Nase waren und viel ruhiger als sonst. An Karls Platz, Karls früherem Platz, stand eine Kerze, die seine Mutter zu jeder Mahlzeit anzündete, und an Joachims Platz lag das kleine Kreuz, das er von seinem Paten zur Konfirmation geschenkt bekommen und dann mit nach Warschau zu nehmen vergessen hatte. Hundertmal schon hatte Marie es ihm nachschicken wollen und nur deshalb davor zurückgeschreckt, weil sie Angst hatte, es könnte auf dem langen Weg verloren gehen.

»Komm, Herr Jesus, sei unser Gast, und segne, was du uns bescheret hast.« Es war immer Georg Fahrner, der das Tischgebet sprach, und immer seine Frau, die noch einen Segensspruch anfügte.

»Segne auch uns und unser ganzes Dorf und besonders auch die Männer, die im Feindesland für unsere Heimat kämpfen. Halte deine schützende Hand über sie und lass sie gesund wieder zurückkehren. Segne besonders unseren – unseren Joachim, der seinen schweren Dienst in Warschau verrichtet.« Regelmäßig geriet ihre Stimme an dieser Stelle ins Stocken, und obwohl Eva den Schmerz ihrer Mutter nachfühlen konnte, war sie doch dankbar, dass deren Rührung verhinderte, das Gebet noch weiter auszudehnen. Auch so war es kaum möglich, auch nur für einen Tag Karls Tod und Joachims Feindeinsatz zu vergessen. Schweigend begannen sie zu essen.

»Ich habe eben noch mit Erich gesprochen«, sagte Georg schließlich und schob seinen Teller zurück. Eva blickte überrascht auf. In einem so kleinen Ort wie Laifingen kannte natürlich jeder jeden, und Ortsbauernführer Erich Maifeld gehörte nicht zu denjenigen, mit denen ihr Vater zufällig ein Gespräch führen würde. »Ich habe ihn getroffen, als ich heute Abend die Milch weggebracht habe. Er hat Nachricht aus Ludwigsburg. Sie wollen ein paar Fremdarbeiter hier ins Dorf schicken, es kommen jetzt täglich Transporte an … Erich meint, demnächst wäre vermutlich jemand für uns dabei, weil doch Joachim jetzt auch nicht mehr da ist. Ein oder zwei Männer vielleicht. Den Antrag haben wir ja längst gestellt.«

»Gott sei Dank!« Marie Fahrner griff nach dem Kreuz an Joachims Platz und drückte es an ihre Brust. »Ich wusste, dass der Herrgott uns nicht vergessen hat! Und dann gerade jetzt, wo wir mit der Heuernte anfangen und ich nachts schon nicht mehr schlafen konnte vor Sorge, wie wir das allein schaffen sollen … Vielleicht sind es ja Leute, die selbst schon in der Landwirtschaft gearbeitet haben, der Armand von Bauers zum Beispiel schafft bei ihnen auf dem Hof, als wär’s sein eigener, und Belsers François erst, der ist ja wie ein Sohn im Haus!«

Französische Kriegsgefangene waren die ersten Fremdarbeiter gewesen, die vor zwei Jahren schon ins Dorf gekommen und inzwischen ein alltäglicher Anblick geworden waren. Sie wohnten gemeinsam im Gasthof »Zur Sonne« und waren jeweils einem oder auch zwei Bauern zugeteilt. Aber Fahrners waren nicht darunter; als die Männer eingetroffen waren, waren ja Joachim und Karl beide noch da gewesen, so dass sie sich gar nicht erst um Unterstützung beworben hatten. Wer hätte denn damals ahnen können, dass der Krieg so lange dauern und noch den letzten jungen Mann fordern würde, dass nur noch alte Leute und Frauen zurückbleiben und die Feldarbeit leisten würden?

»… und Charlotte kann doch ein bisschen Französisch, oder, Eva? Vielleicht kann sie dir ja etwas beibringen, dann kannst du dich mit den Männern unterhalten. Wenn jemand in seiner Muttersprache angesprochen wird, fühlt er sich gleich angenommen und hat viel mehr Lust zu arbeiten.«

Georg Fahrner hatte den Redeschwall seiner Frau schweigend über sich hinwegrollen lassen. Jetzt räusperte er sich.

 

»Es sind keine Franzosen, Marie. Im Augenblick kommen nur noch Leute aus dem Osten, Polen hauptsächlich. Wir werden Ostleute bekommen. Immerhin sind es Zivilarbeiter, keine Kriegsgefangenen.«

Das hoffnungsvolle Leuchten verschwand aus Maries Gesicht, sie riss die Augen weit auf und umklammerte das Kreuz, als wäre es eine Waffe. »Ostleute?«, flüsterte sie fassungslos.

Georg nickte. »Woher genau sie kommen, wusste Erich nicht. Er fährt in ein paar Tagen nach Bietigheim und holt sie ab.«

»Ich – wir dürfen keine Ostarbeiter auf dem Hof haben, Georg! Keine Polen, keine Russen! Hast du ganz vergessen, wie Karl – ich will sie nicht hier haben, verstehst du? Ich will es nicht! Das sind doch keine Menschen, das sind Bestien! Bestien, die meinen Karl ermordet haben. Wie kannst du auch nur einen Augenblick darüber nachdenken, diese Mörder auf unseren Hof zu holen?«

Georg Fahrner rutschte auf seinem Stuhl hin und her und sah hilfesuchend zu Eva hinüber.

»Schau sie dir doch erst einmal an, Mama«, sagte Eva. »So schlimm werden sie schon nicht sein, und wenn doch, dann können wir ja immer noch den Ortsbauernführer rufen oder den Rössler.« Rössler war der Dorfpolizist. »Ich denke, wir müssen dankbar für jede Hilfe sein, die wir bekommen können.« Sie nickte zu den Zwillingen hinüber. »Hans, Emil, macht euch fertig fürs Bett.«

»Ooch, Eva! Es hat noch nicht mal acht geläutet!«

Sie zog die Augenbrauen hoch. »Ich habe Herrn Voss Bescheid gesagt, dass ihr morgen wahrscheinlich noch nicht in die Schule gehen könnt, aber wenn ihr so lange aufbleiben könnt, dann seid ihr wahrscheinlich doch schon wieder gesund, oder?« Die Jungen rutschten hastig von ihren Stühlen.

»Ich bin immer noch ganz schlapp auf den Beinen«, behauptete Emil, und Hans fasste sich vielsagend an den Bauch und gab ein dramatisches Stöhnen von sich.

»Wir gehen ja schon … Liest du uns noch was vor? Davon werden wir bestimmt schneller wieder gesund.«

»Aber danach ist Ruhe, klar? Was wollt ihr hören?«

»Ein Märchen, Eva, bitte! Das mit dem kalten Herz! Oder Rübezahl, das hast du ewig nicht mehr gelesen!«

Eva schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist zu lang. Das tapfere Schneiderlein oder Hänsel und Gretel, sucht euch eins davon aus …«

Als sie zum Spülen zurück in die Küche kam, war der Streit noch in vollem Gange.

»Nein. Das kannst du nicht von mir verlangen, Georg. Das nicht. Dass ich mit diesen Leuten unter einem Dach … diesen Leuten, die unseren Karl …« Eva wünschte sich, sie könnte verschwinden, aber es wäre undenkbar gewesen, ihre Mutter mit der Aufräumarbeit nach dem Essen allein zu lassen.

»Aber Marie, bitte sei doch vernünftig! Die Arbeiter, die jetzt kommen, haben doch nichts damit zu tun, gar nichts! Und sie müssen ja auch nicht im Haus wohnen, ich denke, wir können ihnen neben dem Stall einen Schlafbereich abtrennen, in der alten Weberwerkstatt.«

»Hast du nicht gehört, wie die – wie die sind? Dreckig und verlaust, und wenn du nicht aufpasst, stoßen sie dir ein Messer in die Brust!«

»Marie, bitte erinnere dich, wie es war, als die Franzosen angekommen sind! Was für Ängste wir alle hatten. Und kaum waren sie ein paar Wochen da, war das alles wie weggeblasen, und es war klar, das sind Menschen wie wir! Und mit den Leuten jetzt wird es genauso sein.«

»Menschen wie wir!« Marie Fahrner kniff die Lippen zusammen und wich zurück. »Woher willst du das wissen, Georg Fahrner? Woher? Hast du Augen und Ohren zugemacht in den letzten Monaten, keine Zeitung gelesen?«

»Hör mir doch auf mit diesem Zeug. Als würdest du sonst glauben, was in dem Schmierblatt steht! Ich sag dir, wenn wir jetzt keine Unterstützung bekommen, kriegen wir die Ernte nicht eingebracht, dann weiß ich nicht mehr, wovon wir leben sollen! Ich weiß nicht mal mehr, ob ich den Hof noch halten kann! Willst du das?«

Eva sah erschreckt von einem zum anderen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihre Mutter vorher jemals so aufgebracht, ihren Vater so laut erlebt zu haben, konnte sich an überhaupt keine Auseinandersetzung zwischen ihren Eltern erinnern, bei der sie dabei gewesen wäre. Georg Fahrner war das Oberhaupt der Familie, das war die selbstverständliche Grundlage, auf der das ganze Familienleben sich abspielte. Was er entschied, das galt, und alle hatten sich danach zu richten, selbst wenn sie eigentlich anderer Meinung waren. Joachim war bisher der Einzige gewesen, der dagegen aufbegehrt hatte; dass ihre Mutter das auf einmal in Frage stellte und so verbissen ihren eigenen Standpunkt verteidigte, zeigte deutlich, wie tief ihre Angst war.

»Mama«, begann Eva zögernd, aber ihr Vater machte nur eine abwehrende Handbewegung, legte seiner Frau den Arm um die Schultern und zog sie an sich, auch das eine Geste, die Eva noch nie bei ihren Eltern erlebt hatte – Zärtlichkeit zwischen Mann und Frau gehörte nicht in die Öffentlichkeit.

»Du musst keine Angst haben, Marie, ich passe schon auf euch auf.«

5

»Sie haben Glück, Ortsbauernführer Maimann, Wachtmeister Rössle – «, Lagerleiter Demmler warf einen kurzen Blick auf den Zettel in seiner Hand, »Maifeld, genau. Ortsbauernführer Maifeld. Vor drei Tagen haben wir eine Lieferung bekommen, junge, kräftige Leute zumeist.« Er wandte sich mit einem leicht herablassenden Lächeln an die beiden Männer ihm gegenüber. Der Kleinere der beiden, ein rundlicher Großvatertyp mit Apfelbäckchen und stoppeligem Kinn, fühlte sich in seiner Uniform sichtlich unwohl und kratzte sich immer wieder verstohlen den Hals unter dem verknitterten Kragen, der andere wirkte so, als könnte er vor lauter Wichtigkeit kaum laufen, dabei waren seine Stiefel ungeputzt und die Jacke vermutlich überhaupt noch nie gewaschen worden. So waren sie alle, dachte Demmler. Unter der Uniform, unter einer dünnen Schicht von nationalsozialistischem Lack blieben sie Bauern ohne wirkliche politische Überzeugung, denen die deutsche Sache im Grunde herzlich egal war, solange nur die Sonne reichlich schien und die Sauen fett wurden.

Er seufzte. »Alle vorgesehen für einen Einsatz im Bereich des Arbeitsamtes Ludwigsburg.«

Der kleine Dicke meldete sich zu Wort; er war der Ortsbauernführer.

»Wir brauchen Leute, die anpacken können, am besten welche mit Erfahrung in der Landwirtschaft … Und Deutsch. Ein bisschen Deutsch müssen sie schon verstehen, wir können ja kein Polnisch.«

»Das kann keiner. Wozu auch? Eine sterbende Sprache.« Demmler stand auf. »Lassen Sie uns rausgehen. Ich habe die Polacken schon antreten lassen. Sie können sich selbst einen Überblick verschaffen und die Leute aussuchen, die Sie haben wollen.«

Der übliche Gestank schlug ihm entgegen, als er nach draußen trat – Polengestank, versetzt mit Russen- und Ukrainergestank, die unverkennbare Duftmischung aus Jauche und Schweiß, Kohl und Zwiebeln. Selbst wenn seine Wäsche frisch aus der Reinigung kam, hing der Gestank immer noch darin. Hinter Berlin, irgendwo im Warthegau, musste eine Welt des dauerhaften Gestanks beginnen. Die Leute, die dorthin abkommandiert waren, konnten einem leidtun. Er selbst hatte wenigstens ein Haus in der Stadt, wo er dieses Gesindel nicht sehen oder riechen musste. Sie standen in einem großen Kreis auf dem Appellplatz, eine Truppe grauer, zerlumpter Gestalten, mit denen man Kinder hinter den Ofen hätte jagen können. Er gab einem der Wachleute einen Wink; der Mann zog seine Trillerpfeife heraus und ließ einen Pfiff ertönen. Zufrieden registrierte Demmler, wie auch die beiden Bauern an seiner Seite zusammenzuckten.

»Antreten in einer Reihe, ihr Polenschweine! Und keinen Mucks!« Wie immer hatten nur die wenigsten die Kommandos verstanden; diese Polen waren ein ungebildetes Gesindel, dessen Interessen über Fressen und Saufen nicht hinausging. Vermutlich waren die meisten gerade einmal in der Lage, den eigenen Namen zu schreiben. Immer einmal wieder hatten sie auch Holländer und Franzmänner hier im Lager, manchmal sogar Norweger, und obwohl diese Leute meist einen rebellischen Zug hatten, waren sie Demmler doch um Längen lieber als diese Untermenschen aus dem Osten, die sich vermutlich noch nie im Leben mit Wasser und Seife gewaschen hatten. Er betrachtete die Jammergestalten vor sich und wartete. Erst, nachdem die paar zumindest ansatzweise Gebildeten die Order übersetzt hatten, kam Bewegung in die Meute, und die Leute bildeten einen Kreis. Demmler straffte die Schultern.

»Polnische Fremdarbeiter in deutschen Landen! Ihr wisst, dass ihr hier nach Deutschland gekommen seid zur Wiedergutmachung all der Gräueltaten, die Polen an Reichs- und Volkdeutschen im Warthegau und im Generalgouvernement begangen haben! Außerdem aber erhaltet ihr die Möglichkeit, mit harter, ehrlicher Arbeit Geld zu verdienen und euren Familien daheim zukommen zu lassen. Und nicht zuletzt dürft ihr mit der Kraft eurer Hände an der neuen Zukunft mitarbeiten, die unter dem Oberbefehl unseres großen Führers Adolf Hitler für Europa, für die ganze Welt anbrechen wird! Erweist euch dieser Aufgabe als würdig. Denjenigen von euch, die glauben, sie könnten mit Bummelei, Sabotage und polnischer Wirtschaft der deutschen Sache schaden, sei gesagt, dass wir darauf mit härtester Konsequenz reagieren werden! Wer lässig arbeitet, die Arbeit niederlegt, andere Arbeiter aufhetzt, die Arbeitsstätte eigenmächtig verlässt und so weiter, erhält Zwangsarbeit im Konzentrationslager. Wer mit einer deutschen Frau oder einem deutschen Mann geschlechtlich verkehrt, wird mit dem Tode bestraft …«

Wie immer flossen die Worte wie von selbst aus seinem Mund; er hätte nicht sagen können, wie oft er diese Ansprache schon gehalten hatte. Die Dolmetscherin war heute leider nicht da, so dass er ungeduldig darauf warten musste, bis die halblaute Übersetzung der deutschkundigen Polen zu jedem durchgedrungen war. Er nickte zu den beiden Bauern hinüber. »Wenn Sie selbst schauen wollen?«

Zögernd gingen der Ortsbauernführer und sein Begleiter auf die Deportierten zu.

»Könnt ihr Deutsch?«, fragte der Dicke leise. Niemand antwortete, natürlich nicht. Demmler ließ wieder pfeifen.

»Wer von euch Deutsch kann, vortreten, aber dalli!« Ein knappes Dutzend Leute machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Der Lagerleiter zuckte bedauernd mit den Schultern. »Allzu viele sind es nicht. Aber einfache Befehle werden Sie auch den anderen schnell beigebracht haben. Oft kommt es nur auf die Art der Vermittlung an.« Er berührte mit der Hand leicht die Reitgerte, die immer an seiner Seite hing. »Mit ein bisschen Nachdruck versteht selbst der dümmste Polacke, was Sie von ihm wollen.«

Ortsbauernführer Maifeld nickte, damit war er offensichtlich vertraut. Wenigstens das.

»Kannst du mähen?«, fragte er jetzt den Ersten. Der Mann nickte. »Melken? Bäume fällen?«

»Ja«, antwortete der Pole. Mutiger geworden, griff Maifeld nach dessen Oberarm, als wollte er die Muskelkraft dort prüfen.

»Du gesund? Nichts Schmerzen? Zeig mal Zähne.«

Gehorsam sperrte der Mann den Mund auf; Demmler schüttelte genervt den Kopf.

»Die Leute sind alle arbeitsfähig, Ortsbauernführer«, sagte er scharf. »Sie sind desinfiziert, entlaust und ärztlich untersucht worden. Nehmen Sie, was Sie kriegen können, und seien Sie dankbar dafür! Solche Rosinenpickerei ist unsolidarisch gegenüber der Volksgemeinschaft.«

Verschreckt sprang Maifeld ein paar Schritte zurück. »Entschuldigung, Lagerführer Demmler! Ich – natürlich, Sie haben recht. Ich nehme diese acht Leute hier. Die ersten acht.«

»Fünf, Ortsbauernführer. Nicht mehr als fünf. Und nicht nur Männer.« Er zeigte nacheinander auf fünf Leute. »Einverstanden?« Der Ortsbauernführer nickte eingeschüchtert. »Also los. Holt euren Krempel und macht euch marschfertig.« Er wandte sich noch einmal an die beiden Bauern. »Seien Sie vorsichtig, wenn Sie mit diesem Pack nach Hause fahren, sonst machen die sich gleich bei der ersten Gelegenheit aus dem Staub! Sie kennen diese Polacken nicht. Die sind hinterfotzig und mit allen Wassern gewaschen, da haben Sie ein Messer im Rücken, bevor Sie bis drei zählen können! Und vergessen Sie nicht, den örtlichen Bauernfamilien die Regeln zum Umgang mit Polen und Ostarbeitern einzubläuen! Der Pole ist unser Feind, das darf niemals vergessen werden.«

Ortsbauernführer Maifeld, Wachtmeister Rössle und die polnischen Fremdarbeiter legten die Strecke von Bietigheim nach Laifingen mit der Bahn zurück, Holzklasse, über Ludwigsburg, Stuttgart und Herrenberg.

Im Vergleich zu dem Transport von Warschau nach Bietigheim war dieser Personenzug Luxus, dachte Tomasz. Und im Vergleich zum Leben im Lager würde auch das Leben auf einem Bauernhof Luxus sein, ganz gleich, was man von ihnen erwarten, wie man dort mit ihnen umgehen würde. Die wenigen Tage im Durchgangslager hatten gereicht, um die Furcht und Abscheu davor unauslöschlich in seine Seele, seinen Körper einzubrennen – der allgegenwärtige Schmutz und Gestank, die Enge in den Baracken, in denen sie zusammengepfercht auf primitiven Bettgestellen schliefen, die Wanzen, die Nacht für Nacht über sie herfielen; das widerliche, immer zu knappe Essen, das nicht satt machte, aber wie ein Stein im Magen lag und einen dazu zwang, viel zu häufig die zentrale Latrinengrube aufzusuchen, ein Stück Fegefeuer inmitten der Lagerwelt; die Willkür der Wachen, die jederzeit und ohne Anlass zuschlagen konnten, die Hoffnungslosigkeit in den Gesichtern der anderen Verschleppten. Verstohlen warf er einen Blick auf den Jungen, der ihm gegenübersaß.

 

Janek hatte die Augen geschlossen und hielt den Kopf gesenkt; seine Lippen bewegten sich unablässig, vermutlich betete er den Rosenkranz, dessen Perlen nur in seinem Kopf existierten. Anfangs hatte Tomasz darüber gewitzelt, aber schnell damit aufgehört, als er erkannte, wie gekränkt der Junge jedes Mal war. Vermutlich war es ein Segen, dass er etwas hatte, das ihn innerlich so bestärkte und ablenkte. Ein Segen. Tomasz war sich sicher, dass er das Wort jahrelang nicht in den Mund genommen, nicht einmal gedacht hatte. Ohne diesen verbissenen katholischen Glauben hätte den Jungen die Lagererfahrung möglicherweise noch mehr mitgenommen. Durch die vielen Ungezieferstiche und -bisse sah er aus wie entstellt; schmal und schmächtig, wie er vorher schon gewesen war, machte ihm auch das schlechte Essen mehr zu schaffen, zumal er sich anfangs geweigert hatte, den halb verfaulten Kohl, das angeschimmelte Russenbrot herunterzuwürgen. Wenn diese uniformierten Bauern vom Lagerführer nicht so eingeschüchtert gewesen wären, hätten sie Jan in seinem Zustand niemals mitgenommen. Die anderen Polen, die sie zugewiesen bekommen hatten, waren aus der Gegend von Radom; die Schwestern Mascha und Helena waren nach dem Gottesdienst vor der Kirche in ihrem Heimatdorf einfach verhaftet worden, Pjotr, ein wortkarger Mittdreißiger, hatte sich freiwillig beim örtlichen Arbeitsamt gemeldet, um zu verhindern, dass die Lebensmittelrationen seiner Familie gekürzt wurden – eine übliche Methode der Okkupationsbehörden, um die Anzahl der »freiwilligen« Meldungen zu erhöhen.

Tomasz bemühte sich, der Unterhaltung der Deutschen unauffällig zu lauschen, aber obwohl er immer geglaubt hatte, die Sprache gut zu beherrschen, verstand er von ihrem Dialekt nicht allzu viel. Aber das konnte auch Vorteile haben. Intellektuelle, intellektuelle Polen vor allem, waren den Nationalsozialisten zuwider und stellten in ihren Augen eine Gefahr dar; unzählige polnische Ärzte, Anwälte, Lehrer, Geistliche, Journalisten waren gleich nach der Besetzung des Landes im Herbst ’39 ermordet oder verschleppt worden. Tomasz’ Freundeskreis hatte sich in diesen Monaten auf eine Handvoll verschreckter Überlebender reduziert, die gerade noch rechtzeitig hatten untertauchen können und sich immer noch fragten, was für ein fürchterlicher Sturm da eigentlich über sie hinweggezogen war. Es konnte nicht schaden, wenn man ihn selbst für einen einfachen Landmann hielt, der irgendwo ein paar Brocken Deutsch aufgeschnappt hatte und sich gerade eben damit verständigen konnte.

In dem Gespräch der örtlichen Funktionäre schien es darum zu gehen, wie man die Fremdarbeiter auf die Bauernhöfe verteilen sollte. Offensichtlich gab es viel mehr Nachfragen, als Hilfsarbeitskräfte zur Verfügung standen – kein Wunder, da ja so gut wie jeder Mann, der zwei Beine hatte und noch nicht senil war, inzwischen irgendwo an der Front für den deutschen Größenwahn kämpfte. Egal, dachte Tomasz, egal, wo wir hinkommen. Hauptsache, ich kann ein Auge auf den Jungen haben, sonst landet er gleich innerhalb der ersten Wochen auf dem Friedhof oder im KZ.

Hinter den Zugfenstern glitt die Landschaft vorbei, Wälder, Felder, einzelne Dörfer, kleine Städtchen. Die einzige Großstadt, die sie passierten, war Stuttgart, wo sie umsteigen mussten – ein Provinznest, verglichen mit der Metropole Warschau. Plötzlich bemerkte Tomasz, wie die Deutschen sich gegenseitig anstupsten und vielsagend in Richtung des Jungen blickten, der mit seinem verquollenen Gesicht und den unablässig vor sich hin murmelnden Lippen wirkte, als wäre er nicht ganz gescheit.

»He, du!«, sagte der größere der beiden Bauern zu Janek und stieß ihn mit der Stiefelspitze an. Jan zuckte zusammen. »He, du sprechen Deutsch?«

Der Junge wirkte, als käme er nach einem langen Schlaf nur zögernd wieder zu sich. Er setzte sich gerade hin, rieb sich über das Gesicht. Der Deutsche verdrehte die Augen.

»Ob du mich verstehen kannst, will ich wissen. Du verstehen?« Jan nickte zögernd. »Du stinkst, Polacke! Du stinkst schlimmer als ein ganzer Schweinestall! Setz dich irgendwo dahinten hin, wo wir dich nicht riechen müssen!« Der Sprecher gab sich Mühe, laut und Hochdeutsch zu sprechen, aber Janek hatte ihn nicht verstanden und sah hilfesuchend zu Tomasz hinüber.

»Die wollen nicht neben uns sitzen«, sagte Tomasz und stand auf. »Komm, wir gehen da rüber zur Tür, da gibt es genug Platz.« Der Junge wurde feuerrot, die Deutschen lachten.

»Hopp, hopp, du Polenschwein!« Dieses Wort hatte Jan schon häufiger gehört; es gab wohl keinen Polen, dem es noch nicht begegnet war. Er ballte die Fäuste, Tomasz legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter.

»Lass dich nicht provozieren, Junge … bleib ruhig.« Er drückte den Jungen auf den Platz neben der Tür. »Versuch, noch ein bisschen zu schlafen, wer weiß, wann du wieder dazu kommst.«

Es war schon Abend, als sie in Laifingen ankamen, an einem winzig kleinen Bahnhof mit nur einem Gleis. Der Wachtmeister, der die letzten Kilometer verdöst hatte, streckte sich kurz in seinem Sitz und fuchtelte dann mit seiner Waffe herum.

»Aussteigen und dann in einer Reihe aufstellen«, brüllte er, so dass die wenigen Zivilisten, die außer ihnen im Zug saßen, überrascht zu ihm hinübersahen.

»Na dann los«, sagte Tomasz leise. »Schauen wir uns an, wohin es uns verschlagen hat.«

Das Dorf lag am Fuß eines Höhenzugs und zog sich ein Stück den Hang hinauf; von einer leichten Kuppe ein paar Kilometer entfernt hatten sie eben einen guten Blick auf die vielleicht hundert Höfe mit ihren Scheunen und Stallungen gehabt. Dazu gab es ein paar größere Gebäude und unübersehbar in der Mitte des Ortes die Kirche, die auch jetzt vom Bahnhof aus betrachtet alles andere überragte.

»Der Turm ist schief, Tomasz, siehst du? Er kippt nach rechts«, flüsterte der Junge. »Könnte es ein deutlicheres Zeichen geben?«

»Zeichen wofür?«, fragte Tomasz und spürte im nächsten Augenblick einen Stoß in seinem Rücken, der ihn stolpern ließ.

»Ihr haltet das Maul, bis ihr gefragt werdet, kapiert?«

Er nickte, um dem Polizisten keinen weiteren Anlass zu geben, seine schlechte Laune an ihm auszulassen. Obwohl es natürlich eigentlich keinen Anlass brauchte.

»Ganze Kolonne – Marsch!«

Die beiden Schwestern waren die Ersten, die sie in den Händen eines einheimischen Bauern zurückließen, dann folgte der schweigsame Pjotr, der bei einer Metzgerei in der Ortsmitte landete. Hoffentlich lassen sie uns zusammenbleiben, dachte Tomasz, damit ich ein Auge auf den Kleinen haben kann. Was für einen überraschend großen Raum in seinen Gedanken die Sorge um den Jungen einnahm, der ihm so unerwartet vor die Füße gefallen war! Einen Raum, der vorher leer gewesen war wie ein ausgebranntes Haus oder eine umgestürzte Kinderwiege.